Es war einmal …
Ein modernes Märchen
Beitrag zum FB 45
Die Vorgabewörter wurden verwendet und die Zeichenzahl mit 5620 eingehalten.
Es war einmal … Ein modernes Märchen
Einst trug es sich zu.
Es war in einer nebligen Nacht anno dazumal. Trübe war der Monat, dunkel auch der Tag und ebenso dämmrig flackerte die einzelne Glühbirne im Schreibzimmer des alten verwitterten Schlosses der unbekannten Clotilde. Diese schrieb gern und viel - Geschichten und Gedichte - brachte Nacht für Nacht ihre Gedanken aufs Papier und ward nicht müßig, den Versuch zu unternehmen, andere Menschen mit ihren geistigen Auswüchsen zu erfreuen.
Da die Zeit gereift war und Rotkäppchen der grimmschen Vergangenheit angehörte, nutze
Clotilde nicht Schiefertafel und Kreide. Auch schlug sie die Buchstaben nicht in Stein. Nein - sie besaß einen modernen Laptop, schließlich war sie ein Kind der neuen Zeit und stetig am aktuellen Ball.
In dieser jenen kalten Nacht war wieder einmal die Fantasie mit ihr durchgegangen. Ein Büchlein ward entstanden und erfreute ihr Herz. Ein liebreizendes Gedicht, gepaart mit bunten Bildern wollte sie - nachdem es ihr eigenes Gemüt erwärmte - schnell ihren geliebten Mitmenschen zur Verfügung stellen. Sie teilte Freude sehr gern und malte sich schon im Gedanken die glücklichen Gesichter der Leserschaft aus.
Umgehend bediente sie das technische Gerät. Ja - sie beherrschte es sehr gut, es
war ihr ein liebes Werkzeug geworden. Ebenso schnell war diese eine Seite gefunden. Die Seite, auf der ihr gleichgesinnte Menschen dasselbe Hobby wie sie frönten.
An dieser Stelle hört das Märchen leider auf …
Clotilde legte ihr angegessenes Marmeladenbrot zu Seite, begab sich noch einmal in ihr winziges Bad um die Frisur zu richten. Auch wenn sie niemand sah, wollte sie gepflegt zur Tat schreiten. Konzentriert begann sie das Werk. Ein Coverbild musste her und ward zügig erstellt. Unmengen Fotos nannte sie stolz ihr Eigen und das passende schnell gewählt. Lächelnd lud sie es hoch.
Das klingt nicht märchenhaft, aber Clotilde hatte viel gelernt. Die moderne Sprache war ihr geläufig geworden. Frohen Mutes störte sie sich nicht daran, dass die ersten drei Versuche scheiterten. Die Dateigröße zu hoch, die Seite abgestürzt (das nennt man so), das Format nicht passend. Egal! Mit den verzauberten Gesichtern ihrer Leser im Gedanken, lächelte sie beharrlich und ignorierte die fortgeschrittene Stunde. Kaum sechzig Minuten später und ein weiteres Marmeladenbrot auf dem Teller neben sich, war das Cover perfekt. Nun nur nicht den falschen Knopf drücken und das Speichern nicht vergessen. In der Vorschau sah das schon recht ansehnlich aus, perfekt nahezu. Dass nichts mehr von der Mühe zu sehen war,
nachdem Clodi den Rückwärts-Button bedient hatte, verwirrt sie nur leicht. Diese minimale Panne war sie schon gewohnt, worüber sich also erzürnen?
Sie würde nun doch zuerst den Text hochladen (auch das nennt sich so). Es handelte sich um ein himmlisches Liebesgedicht aus der Sicht zweier sich anbetender Menschen. Schlauerweise plante die Künstlerin aus diesem Grunde, die launischen Gedanken ihrer Protagonisten abwechselnd in kursiver und normaler Schrift zu präsentieren. Ein Schelm, wer böses dabei denkt. Clotilde dachte sich ebenso nichts dergleichen, biss noch einmal kräftig von schon erwähntem Brot ab und machte sich übermütig an ihr Schaffen.
Die nächsten verbrachten Stunden verliefen weder märchenhaft, noch jugendfrei. Was für ein wildes Unterfangen! Es erwies sich als schiere Unmöglichkeit, den knappen Text in gewünschte Form zu bringen und manch unhübsches Wort, verließ ihren inzwischen verbiesterten Mund. In der Gestaltung perfekt, sah es der vorgerückten Zeit zum Trotz, in der Vorschau doch immer wieder komplett anders als gewünscht aus.
Nach gefühlt mehreren Märchenjahren, der Verzweiflung nahe und mit inzwischen nicht mehr sitzender Frisur, weil die Haare seit Stunden gerauft wurden, gab Clodi auch dieses Unterfangen vorerst auf. Sie würde schnell die Fotos einfügen und morgen in der früh, wenn der Hahn kräht und der Bäcker
öffnet, bei dem sie ein weiteres Brot kaufen würde, den Märchenerzähler der besagten Seite anschreiben und um fachmännische Hilfe bitten.
Die Fotos lagen schon geordnet in digitaler Form (bitte an dieser Stelle nicht mehr über die merkwürdigen Begriffe wundern) in einem vorbereiteten Ordner. Clotilde freute sich über diese Systeme schierer Ordnung. Sie versprachen ihr immer wieder Sicherheit, gaben ein Gefühl der Perfektion und erleichterten ihre Kunst ungemein. Herrlich!
Schnell erschien das erste Foto wie geplant auf Seite 6. Was aber sahen ihre erschreckten Augen?
Von der Fülle der wunderhübschen Blüten war nur die Hälfte zu erblicken? Was war
falsch gelaufen? Offenbar alles, denn inzwischen war auch der unkursive Text nicht mehr zu sehen. Ein weiterer Versuch, ein Foto einzufügen, veränderte den Text nur unwesentlich in der Formatierung, scheiterte aber letzten Endes an der Anordnung in gewünschter Stelle im Text. Mutiger weise speicherte sie das Gesamtkunstwerk trotz des grummelnden Gefühls in ihrer Magengegend. Hatte sie zu viele der köstlichen Marmeladenbrote gespeist? Jäh erscheinen alle Seiten leer, weiß - rein weiß, wie ein Maler sprechen würde.
Clotilde versuchte es die letzten Stunden der Nacht immer wieder, bemerkte nicht, wie dem Morgen graute, hörte den Hahn nicht krähen und registrierte ebenso wenig, dass sich
langsam der Winter anschlich… (und der Bäcker öffnete).
Bis heute ist ihr Gedicht nicht erschienen und wenn sie nicht gestorben ist, sitzt sie noch immer am Laptop und ärgert sich über Formatierungen, Fotogrößen, Anordnungsprobleme und andere Widrigkeiten ihrer - im Grunde - Lieblingshomepage.
Hat sie den Märchenerzähler angeschrieben? Man weiß es nicht und niemand wird es jemals erfahren.
© Fliegengitter