Vorbemerkung
Eine Romeo und Julia Story mal anders. Zeitbezüge sind gewollt!
Die Geschichte enthält auch Anflüge einer Fabel, sowie intensive Gesellschaftskritik.
Das ist ein Beitrag zur Forumsbattle 45.
Die Stichworte sind verwendet.
[Marmeladenbrot; Schloss; Ball; verbiestert.]
(6058 Zeichen mit Leerzeichen)
Copyright: g.v.Tetzeli
Bild: Dank an pixabay
Montage: G.v.Tetzeli
Jan & Deliah
Ehemals war es eine blühende Fabrik gewesen. Jetzt konnte man sie nur noch als Ruine bezeichnen. Seit der Wende faulte sie verlassen vor sich hin. Zwei Kinder im Alter von neun und acht Jahren erkundeten die fünf Stockwerke. Zum Teil waren ganze Vorderfrontteile weggebrochen, zum Teil gab es noch Fensterstöcke mit milchig zerbrochenen Scheiben.
Vorher hatten die Beiden versucht vor ihrem Plattenbau, ihrem Zuhause, Fußball zu spielen. Der wütende Hausmeister hatte sie vertrieben. Der ursprüngliche Spielplatz vor der Plattensiedlung war ein einziger
Rosteimer, so dass das Amt diesen abgesperrt hatte.
Machte nichts, hier war der wahre Abenteuer-Spielplatz. Und was sie alles fanden! Rostige, interessante Teile, die man durch die öligen Pfützen schmeißen konnte und auf den Stockwerken konnte man herrlich Verstecken spielen. Es gab überall Winkel, wie in einem großen Schloss.
Sie hatten sich kennengelernt, weil sie in demselben Plattenbau wohnten. Auf dem Schulweg hatten sie sich getroffen und ihr Marmeladenbrot geteilt. Leider war ihr alter Spielplatz, das Flachdach des Plattenbaus, bald zu gefährlich geworden. Zwar war es
ebenfalls fünf Stockwerke hoch, ebenfalls ein Flachdach, aber irgendjemand hatte einmal die Feuerwehr verständigt. Kinder würden sich in luftiger Höhe aufhalten.
Mann, war das ein Aufriss gewesen!
Noch dazu, weil auf dem Dach Ziegelsteine herum lagen, es außerdem dringend einer Renovierung bedurfte. Die Hausverwaltung tat natürlich nichts. So war es besser für die Beiden auszuweichen. Und hier auf dem maroden Fabrikgelände war es noch viel toller.
Der Plastik-Ball, den sie gefunden hatten, war luftleer und nicht mehr zu gebrauchen. Ein neues Spiel fesselte die Beiden, die unzertrennlich geworden waren.
" Ziegel schmeißen".
Unten hatten sie sich einen weißen Plastiksack als Ziel erkoren. Beide konnten nach einer Weile eine Trefferquote von 100% für sich verbuchen.
Schließlich kam Jan auf die Idee, dass es doch viel schwieriger sei, bewegliche Ziele zu treffen. Sie legten unten Köder aus und warteten, bis eine gierige Ratte darüber herfiel. Die ersten verpassten sie. Teils, weil sie ein Geräusch oben verursachten, teils, weil ein so kleines Objekt schwer zu treffen war. Aber mit der Zeit brachten sie es zur Meisterschaft. Einmal hatten sich zwei Ratten im Fadenkreutz aufgehalten. Das war der beste Treffer gewesen. Zwei auf einen Streich. Die zerschmetterten Ratten
entsorgten sie auf einem Müllhaufen in der Nähe. Auch mussten sie die Stellung auf dem Dach wechseln, wie auch das Ziel. Ratten waren nämlich schlau und witterten, dass jemand vorher an einer gewissen Stelle umgekommen war. Dadurch waren die Beiden zu Höchstleistungen gezwungen. Sie mussten lautlos sein, Wind, Abstand und Fallgeschwindigkeit berücksichtigen. Das forderte sie und bereitete ihnen ein gemeinsames Erfolgserlebnis
Das Spiel begeisterte, aber trotz allem Spieltrieb waren Beide unglücklich.
So erzählte Jan von seinen häuslichen Zuständen. Vater war gewalttätig, oft
betrunken und brüllte durch die Gegend. Manchmal schlug er Mutter, ihn natürlich auch, wenn ihm danach war. Vater sei unglücklich, weil er seinen Job als Müllmann verloren habe, erklärte seine Mutter ihrem Jan, wenn sie nur aus einem Auge noch herausschauen konnte. Jeden Tag um 10:30 Uhr ging sein Vater zum Frühschoppen und kam meist erst spät betrunken nach Hause. Meist setzte es dann etwas. Dadurch ging der Großteil von der Hartz IV Unterstützung drauf. Aber Jan erzählte auch, dass sein Vater früher anders gewesen sei. Eigentlich ein fröhlicher Mensch, aber nun sei alles nur Scheiße. Manchmal bekam er direkt Mitleid mit seinem Vater, wenn er weinte. Die nächste Prügel aber zerstörte diese
Annäherung. Die ganze heruntergekommene Situation war nicht nur verloren, sondern auch verbiestert.
Deliah Fatim hörte zu und das tat ihm unendlich gut.
Schließlich öffnete sich auch Deliah. Ihrer Familie ging es eigentlich recht gut. Ihr Vater würde irgendwelchen Geschäften nachgehen, von denen niemand etwas wissen durfte. Auch sie würden Hartz IV beziehen, aber es herrschte komischer Weise kein Mangel. Schlimm war es, wie Vater seine Töchter behandeln würde. Auch er brüllte und schlug ihre Geschwister. Ihre zwei Schwestern hätten sehr unter ihm zu
leiden. Sie waren in der Pubertät und heulten jeden Abend, weil sie sich nicht mit Deutschen treffen durften. Keine westliche Musik, anstatt dessen hieß es nur: Sie hätten zu dienen. Und andauernd sich zu verhüllen, das war doch auch so demütigend.
"Weißt Du, Jahn", sagte sie, "wenn mein Vater uns auseinander bringen will, dann weiß ich nicht…"
Sie kuschelten sich aneinander um sich Halt zu geben.
Da flüsterte Jan: „Mein Alter ist auch nicht besser. Dauernd quasselt er von den dreckigen Ausländern. Er würde nie zulassen, dass ich mich mit einer Ausländerin
abgebe. Das wäre das allerletzte, schreit er immer wieder."
„Und meiner erst!" Sie seufzte.
"Er hat mich eh‘ schon vertickert. Aber der Bräutigam Mustafa ist so widerlich! Und mein Bruder beobachtet mich auf Schritt und Tritt. Wir würden schließlich der ehrwürdigen Familie Fatim angehören. Es wird immer schwieriger unbemerkt hierher zu kommen.“
Sie musste weinen und Jan nahm sie in den Arm.
„Ich glaube, dass das Liebe ist", flüsterte Deliah zum Himmel. "Da erhört uns wahrscheinlich Allah! Wir wollen nie auseinander gehen, nicht wahr?“
„Nie“, bestätigte Jahn grimmig.
Der verfallene Fabrikkomplex war der
einzige lahme Zeuge.
Eine Woche später geschah dann das Unvermeidliche.
Daliahs Bruder hatte sie und Jan gesehen, wie sie sich unterhielten und die Blicke der Beiden, wie sie sich anhimmelten, ließ ihm den Kamm schwellen. Er stürzte auf Deliah zu, schlug ihr ins Gesicht und drohte Jan mit einem spitzen Dolch. Er solle gefälligst die Finger von seiner unbescholtenen Schwester lassen.
Und wieder eine Woche später palaverten Deliahs Vater und ihr Bruder unten am Eingang des Plattenbaus.
Jan, fünf Stockwerke höher, gab dem Ziegelstein nur einen leichten, wohlberechneten, lautlosen Schups. Und bevor der Stein unten aufkam, sagte Jan noch zu Deliah.
"Morgen darfst du.
Mein Vater geht immer um 10:30 Uhr zur Kneipe, alles klar?"
Es machte gerade Krach.
"Ja, liebster Jan", lächelte Deliah fein.
Sie war dankbar, unschuldig und nickte.