Anstatt ihren Geburtstag zu feiern, saß sie im Krankenhaus bei ihrem Vater. Vor genau einer Woche wurde er eingeliefert. Es war ihre Schuld, das er jetzt im Krankenhausbett lag, anstatt zu Hause zu sein und ihren Geburtstag zu feiern. Es war schon sehr spät gewesen, als er das Geschenk seiner Tochter abholen ging. Er hatte es bei Bekannten untergebracht, die kurzfristig verreisen mussten. Da sie nicht wussten, wann sie wieder kommen würden, holte er das Geschenk noch am selben Abend ab. Das heißt, er wollte es bei ihnen abholen.
Aber bis zu ihnen kam er nicht. Mitten auf dem Weg wurde er von einer Horde Jugendlicher überfallen. Sie prügelten gnadenlos auf ihn ein und raubten ihn aus. Dann hauten sie ab und ließen ihn liegen. Kurze Zeit später machte eine Hundebesitzerin ihre reguläre Runde. Als sie ihn reglos und blutend auf der Straße liegen sah, rief sie sofort einen Krankenwagen. Beim Begutachten der Beute, fiel einem der Jugendlichen auf, wen sie überfallen hatten. Der Ausweis, der halb aus der Brieftasche lugte, zeigte es überdeutlich. Erschrocken blieb sie stehen. Was hatte sie nur getan? Wie
hatte sie sich überhaupt dazu hinreißen lassen können, so etwas zu tun? Auf dem Absatz machte sie kehrt und rannte zu der Stelle, wo sie ihn überfallen hatten. In ihrer Panik lief sie in die falsche Richtung. Als sie es mitbekam, korrigierte sie sich. In der Zwischenzeit war schon eine Viertelstunde vergangen. Die angst um ihren Vater stieg ins unermessliche. Das Seitenstechen ignorierte sie. „Was habe ich nur getan? So eine verdammte scheiße.“, fluchte sie halblaut. Fast eine Stunde war vergangen, seit dem Überfall. Zweimal war sie an der Stelle vorbei gerannt. Beinahe ein drittes
mal, wenn sie nicht hätte stehen bleiben müssen, weil sie sonst über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Sie stand mitten in der Blutlache. Ihr wurde übel und sie übergab sich. Sekunden vergingen wie Minuten. „Es tut mir so leid.“, jammerte sie. Eigentlich hatte sie ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater. Ihm konnte sie sich jederzeit anvertrauen. Wenn sie Bockmist gebaut hatte, gab es nur selten richtig Stress. Je nach dem, was sie angestellt hatte. Einmal wurde sie beim Ladendiebstahl erwischt. Ihre Mutter war völlig ausgerastet. Aber ihr Vater brachte sie wieder runter. „Wenn ich mich recht erinnere, hattest
du nicht nur einmal was mitgehen lassen, als du in ihrem Alter warst.“, hatte er zu ihr gesagt. Daraufhin war sie schamrot und still geworden. „Ich hoffe, es war einmalig und bleibt einmalig. Wir haben das damals auch gemacht, daher wissen wir, das es nichts bringt. Ich gehe davon aus, das du deine Lektion gelernt hast und wir dich nicht extra bestrafen müssen.“ Ihr Vater war die Güte in Person. Selbst als ihre Mutter ihm einen Seitensprung gestanden hatte, blieb er die Ruhe in Person. Sie sprachen sich aus und alles war gut. Bis, das er kein Vertrauen mehr zu ihr hatte und seine Eifersucht ihn manchmal die Luft abdrückte. Das
wusste aber nur sie. Nicht ihre Mutter. Seit jener Nacht, als sie mitgeholfen hatte ihren Vater zu überfallen, hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihren „Freunden“. Sie war auch nicht mehr in der Schule gewesen. Es hätte eh keinen Sinn gehabt. Denn ihre Gedanken waren bei dem Mann, der sie immer beschützt hatte. Nichts ließ er auf seine Tochter kommen. Ganz egal was sie angestellt hatte. Aber das würde wohl nun vorbei sein, wenn er herausfand, wer ihn mit ausgeraubt und zusammengeschlagen hatte. Sie hatte schon viel Scheiße gebaut. Hatte sich von ihrem Umgang mitreißen lassen. Ihrem Vater war es nie recht gewesen, mit wem sie abhing.
Dennoch hatte er sich nie in ihre Angelegenheiten eingemischt. Nur verboten, das sie einen ihrer „Freunde“ mit nach Hause brachte. „Es tut mir so leid.“, sprach sie immer wieder und heulte. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Mutter ihre Namen in die Unterwäsche einnähte. Nun wusste sie es. Denn nur dadurch konnten sie feststellen, wer er war und seine Familie benachrichtigen. Dafür war sie ihrer Mutter dankbar. „Wenn ich nur irgendwas tun könnte, um es irgendwie wieder gut zu machen.“, schluchzte sie. Ganz plötzlich stand sie auf und rannte los. Es machte zwar ihren Vater nicht
wieder gesund und die Tat nicht ungeschehen, aber die betreffenden Personen würden ihre Strafe bekommen. Das sie auch ihre Strafe bekommen würde, war ihr klar. Ebenso war ihr Gewiss, das ihre Familie mehr als nur enttäuscht von ihr sein werden. Damit musste sie Leben. Und wenn ihr Vater nicht durchkam, würde sie Schuld an seinem Tot haben. Ihre Familie würde es ihr immer und immer wieder vorhalten. Zu recht, gestand sie sich ein. Mit gesenktem Kopf betrat sie das Polizeirevier. Ohne Umschweife erklärte sie ihr Erscheinen. Wenige Augenblicke später wurde ihre Anzeige aufgenommen. Die Beamtin zeigte nur
wenig Mitleid. Die Tränen interessierten sie nicht. Noch während sie die Anzeige aufnahm, kontaktierte sie ihre Mutter. Jene war so schockiert über ihre Tochter, das sie eine ganze Weile nicht in der Lage war zu sprechen und den Worten zu folgen, die auf sie eindrangen. Sie glaubte und hoffte, das alles nur ein schrecklicher Alptraum sei, aus den sie irgendwann wieder aufwachen würde. „Ich nehme dich nicht mit nach Hause. Es ist zu deinem eigene Wohl.“, sagte sie und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort. Die Beamtin konnte sich vorstellen, was in der Frau vorging. Sie hatte ihre Hände
gesehen, die einen imaginären Hals würgten. Im Gesicht stand eindeutig Wut geschrieben. Es war wirklich zum Wohle des Kindes, das sie alleine nach Hause ging. Aber war es zum Wohle für sich selbst jetzt allein zu sein? Darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. Sie hatte eine Täterin vor sich sitzen und eine Liste mit Namen, die sie heute noch abarbeiten wollte. Das Kind würde vorerst in die Ausnüchterungszelle kommen. Der Raum war frei und man konnte ihn nur von außen abschließen. Außerdem würde es eine kleine Lektion für das Mädchen sein. Auch wenn sie nicht persönlich an der schweren Körperverletzung beteiligt gewesen war,
so war sie zumindest dabei gewesen. Hatte nichts unternommen, um die anderen davon abzuhalten. Irgendwo hatte die Beamtin doch ein kleines bisschen Mitleid mit ihr. Sie verkroch sich in die äußerste Ecke und machte sich ganz klein. Immer wieder hämmerte sie ihren Kopf gegen die Wand und flüsterte dabei „Ich hasse mich, ich hasse mich, ich hasse mich...“ Irgendwann schlief sie ein. In ihren Träumen wurde sie von ihren Taten verfolgt. Am Schlimmsten war für sie der Überfall auf ihren Vater. Übergroß stand er vor ihr. Seinen Zeigefinger drohend auf sie gerichtet, sprach er zu ihr. Doch seine Worte lösten sich in
Nichts auf, bevor sie an ihr Ohr kamen. Schweißgebadet wachte sie auf. Ihr ganzer Körper tat ihr weh. Als sie sich umsah, stöhnte sie. Sie hatte gehofft, das es nur ein Traum gewesen war. Das sie in Wirklichkeit in ihrem Bett lag und alles nur träumte. Aber sie war wirklich gefangen in einer Zelle, in der nur ein nacktes Edelstahlklo und eine harte Pritsche stand. Wie viele Stunden sie in der Zelle verbracht hatte, wusste sie nicht. Als sie wieder heraus durfte, hatte sie wahnsinnigen Durst und einen unstillbaren Hunger. Am liebsten hätte sie drei Pizzen vertilgt und eine zwei Liter Colaflasche getrunken. Doch so
schnell sollte sie nichts bekommen. Zuerst musste sie ihre Aussage wiederholen und noch ein paar Fragen beantworten. Als sie nach der Tortour ihre Mutter sah, wusste sie nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Ihr schlechtes Gewissen war nur ein Grund, weswegen sie es nicht wusste. „Ich habe dir einen Döner mitgebracht. Verdient hast du es nicht. Aber ich kann dich auch nicht hungern lassen.“, meinte ihre Mutter. „Danke.“, kam es leise aus ihr heraus. „Was ich dir jetzt zu sagen habe, fällt mir nicht leicht. Dir wird es sicherlich nicht gefallen. Aber es ist zu deiner
eigenen Sicherheit. Schließlich hast du deine „Freunde“ angezeigt und sie sind bestimmt nicht erfreut darüber. - Um es kurz zu machen; du kommst in ein Kinderheim. Nicht hier in der Gegend. Du wirst weit außerhalb untergebracht. Dort bleibst du so lange, bis du Volljährig bist. Mehr konnte ich nicht für dich tun. Wenn es dir natürlich lieber ist, in einem...“ „Nein. - Danke Mama. Ich mache mir die übelsten Vorwürfe. Anstatt zu versuchen die anderen davon abzuhalten Papa wehzutun, stand ich einfach nur da und sah zu. Meinetwegen ist Papa im Krankenhaus und stirbt vielleicht.“ Wieder Tränen. Ihre Mutter war sich
sicher, das Richtige getan zu haben. Nach dem Jugendstrafgesetz hätte sie eine weile brummen müssen. Das wäre negativ für ihren Lebenslauf gewesen. Dann lieber in ein Kinderheim. Weit weg von zu Hause. Vor allem weit weg von ihrem bisherigen Umgang. Sie glaubte ganz fest an das Gute in ihrer Tochter. Im Grunde war sie auch eine ganz liebe. Nur ließ sie sich zu leicht beeinflussen, wie sie damals. Wie viel Blödsinn hatte sie damals verzapft, weil sie einfach nur dazugehören wollte. Dank ihrer Eltern hatte sie eine ziemlich weiße Weste. Wenn die nicht gewesen wären... „Ich komme dich besuchen.
Versprochen.“
Kurz darauf stand sie auf und ging. Ihre Tochter war teilweise erleichtert, weil sie nicht ins Gefängnis musste. Dennoch durfte sie nicht nach Hause zurück. Vielleicht war es auch besser so. Ihre Freunde waren keine echten Freunde. Wenn sie weiter min ihnen abhängen würde, fiele sie bestimmt in ein tiefes, dunkles Loch. Das Kinderheim konnte ein Neustart sein. Als Kriminelle wollte sie ihr Dasein nicht fristen. Sie wollte die Karriereleiter hoch hinauf steigen.