Lotta und ihr anderes Ich
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In einem kleinen noch sehr mittelalterlich wirkenden Dorf, unweit der holländischen Grenze, lebte die kleine Lotta. Für ihre acht Jahre war sie nicht sehr groß gewachsen und auch ihre feinen Gesichtszüge und feuerroten Haare trugen nicht gerade dazu bei von Gleichaltrigen ernst genommen zu werden. „Puppengesicht“, „Wichtel“ oder „Minnilotta“ waren übliche Spitznamen, die sie von den anderen Kindern zuhören bekam. Aber Lotta störte sich nicht daran, denn im Gegensatz zu den anderen
Kindern im Dorf war sie flink und eine Meisterin im Versteckspiel. Vorgestern zum Beispiel hatte sie sich so gut im Hühnerstall versteckt, dass sie einschlief. Als sie aufwachte und zum Haus zurückkehrte, war es bereits dunkel und die anderen Kinder schon längst in ihren Betten. Lottas Mutter hatte es inzwischen aufgegeben sich Sorgen zu machen, denn sie wusste, dass ihre Tochter klug war und immer zu ihr zurück finden würde.
Als Lotta noch nicht ganz zwei Jahre alt war, hatte der Vater sie im Wald beim Holzschlagen vergessen. Er hatte sie hinter den Holzhaufen gesetzt und mit den Tannenzapfen spielen lassen. Da
Lotta ein sehr friedliches Kind war und mit einer wahnsinnigen Ausdauer Dinge erkundete, war sie stets mucksmäuschenstill. Als der Vater fertig war, brachte er das Holz mit einem Karren ins Dorf. Beim Haus angekommen, bemerkte er, dass er sein Mädchen vergessen hatte und lief so schnell er konnte über die große Wiese zurück zum Wald. Kein anderes Kind hätte den Weg aus dem dunklen und dichten Wald heraus gefunden, doch als der Vater am Waldrand ankam, stolperte ihm seine Tochter auf wackligen Beinen entgegen und strahlte über das ganze Gesicht. Auch später gab es immer wieder Situationen im Leben der kleinen
Lotta, die sich niemand erklären konnte. Sie schien sich unbeirrt und mit einem natürlichen Selbstverständnis durch das Dorf zubewegen. Schon damals sagten die Leute, dass sie noch nie so ein gescheites Kind gesehen hätten.
Im März des Jahres 1723, die Schneehaufen waren langsam geschmolzen und die ersten Schneeglöckchen bahnten sich ihren Weg durch die matschige Erde, geschah jedoch etwas, womit niemand je gerechnet hätte.
Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten Lotta in der Nase und mit einem lauten
„Haaatschi“ wachte sie auf. Sie schaute durch die kleine Luke hinaus, sprang von ihrem Schlafplatz herunter, schlüpfte in die viel zu großen Schuhe ihres Vaters, riss die Haustür auf und rannte, nur in einem Hemdchen bekleidet, in den Hof. Das Köpfchen Richtung Sonne gestreckt stand sie mit weit auseinandergestreckten Armen und geschlossenen Augen da und genoss die Wärme auf ihrer Haut. Sie lachte laut auf und begann sich wie wild im Kreis zudrehen, bis sie sich nicht mehr halten konnte und mit ihrem Hintern in einer großen Pfütze landete. Nach einem kurzen Moment des Schreckens, begann sie zu grinsen und klatschte mit beiden Händen hinein. Das
dreckige Wasser spritzte in hohem Bogen um sie herum und schon nach wenigen Sekunden war das Mädchen von oben bis unten mit Schlamm versehen. Ihre Mutter stand mit einem Lächeln in der Tür und schaute sich das Spektakel mit einem zufriedenen Gefühl an. „Lotta! … Loottaaa! … Es reicht jetzt! Komm, wir müssen dich waschen. Du möchtest doch heute mit auf die Burg.“, rief sie. Lotta erstarrte. Wie konnte sie das nur vergessen? Heute durfte sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Eltern auf die Burg begleiten, wo der sonntägliche Gottesdienst stattfand. Der hiesige Pastor war ein alter und nicht sehr liebenswerter Mann. Auch wenn er im
Dienste des Herren stand, so liebte er nicht jeden seiner Mitmenschen. Besonders gegen Kinder hegte er einen großen Groll und hatte veranlasst, dass jedes Kind erst in der Mitte seines achten Lebensjahres Zutritt zum Gottesdienst erhält. Bis dahin hatten die Eltern für die religiöse Erziehung zu sorgen. Er versprach sich davon mehr Ruhe für das Gebet und besonders für seine Nerven. Zu Beginn der Messe musste jedes Kind das Glaubensbekenntnis aufsagen, um deren Frömmigkeit zu überprüfen. Konnte es dies nicht fehlerfrei wiedergeben, so durfte es der Messe nicht beiwohnen und musste draußen vor den Toren auf die
Eltern warten.
Lotta befreite sich aus der Pfütze, lies die Schuhe vor dem Haus stehen und zog noch im Flur das nasse Hemdchen aus. Während ihre Mutter sie in dem Waschzuber sauber schrubbte, wiederholte sie immer wieder das Glaubensbekenntnis, denn ihre Angst etwas zu vergessen war doch sehr groß. Erst letzte Woche hatte Erna ihr erzählt, dass sie bei eisigem Wind und Sprühregen vor den Toren stehen musste und sich noch nicht einmal irgendwo unterstellen konnte. Danach hätte sie mehrere Tage mit hohem Fieber im Bett gelegen und wäre fast gestorben. Lotta bekam eine Gänsehaut als sie daran
dachte und wurde gerade in diesem Moment von ihrer Mutter aus dem Wasser gezogen, in ein großes Tuch gehüllt und trocken gerieben. Sie schlüpfte in saubere Unterwäsche und zog ihr bestes Kleid an, welches ihr die Mutter schon raus gelegt hatte. Lotta hasste dieses Kleid! Es kratzte an jeder Stelle und hatte so blöde rosa Schleifen und Rüschen an den Ärmeln und am unteren Saum. Sie kam sich darin immer vor wie ein riesen Bonbon. Mit Tränen in den Augen saß sie nun auf dem Schoß ihrer Mutter, welche ihr die Haare kämmte und zu einem Bauernzopf flocht. Was Lotta noch mehr hasste als das Kleid, war das Haare kämmen. Jedes Mal
tat es höllisch weh und sie hatte das Gefühl, als reiße man ihr alle Haare vom Kopf. Stets musste sie sich von ihrer Mutter anhören, dass es nicht so weh tun würde, wenn sie sich regelmäßig kämmen ließe. Aber warum sollte sie etwas regelmäßig tun, was ihr weh tat?
Frisch gestriegelt stand die Familie um neun Uhr vor dem Haus. Der Vater hatte einen Anzug an und die Mutter trug ein langes beigefarbenes Kleid. In der Mitte stand eine sich ständig kratzende Lotta, aus deren Frisur sich bereits die ersten Strähnen gelöst hatten.
Als sie auf den Gehweg bogen, trafen sie den alten Piet mit seiner Frau Magda. Piet war ein liebenswerter und lustiger
alter Herr, welcher sich stets einen Streich mit den Kindern erlaubte. Seine Frau hingegen sah man nur sonntags auf dem Weg zur Burg und zurück. Sie war nicht sonderlich gut zu Fuß und musste von ihrem Mann gestützt werden.
Der Weg war beschwerlich und führte an der äußeren Dorfmauer entlang rauf auf einen Berg. Die Burg befand sich in mittlerer Höhe und war von Bäumen umwachsen, so dass man sie vom Dorf aus nicht sehen konnte. Unterwegs mussten sie immer wieder anhalten und kurz verschnaufen, da niemand verschwitzt in der kalten Kapelle stehen wollte. Die Kapelle befand sich im rechten Außenflügel der Burg, wo der
Wind beträchtlich durch das Gemäuer pfiff. Es befand sich zwar ein großer Kamin in dem Saal, jedoch wurde dieser nie befeuert. Der Pastor hatte es verboten und gemeint, jedem der genug glaube, müsse die Wärme und Liebe Gottes ausreichen.
Je näher sie der Burg kamen, desto kälter und dunkler schien es zu werden. Lotta klammerte sich an die rechte Hand des Vaters und erschrak bei jedem Knacken das sie hörte. Der Weg schien sich schier unendlich den Berg hinauf zu schlängeln. Lotta schaute die meiste Zeit auf den Boden, um nicht über einen Ast zu stolpern. Als sie jedoch kurz aufschaute, stockte ihr der Atem. Vor
sich erkannte sie die groben Umrisse der sehr dunklen und aus grau, verwitterten Steinen erbauten Burg. Sie war so groß, dass Lotta ihren Kopf ganz in den Nacken legen musste, um das Ende zu erahnen. Es schien als reiche die Burg bis in den Himmel. Das kleine Mädchen stand regungslos da und schaute mit großen Augen auf das Gemäuer. Mit einem Ruck wurde sie nach vorne gezogen, so dass sie beinahe hingefallen wäre und sich gerade noch aufrecht halten konnte. Der Vater schaute irritiert nach unten, sagte jedoch kein Wort. Als sie um die nächste Kurve bogen, standen sie vor den Toren der Burg. „Uuiii“, staunte Lotta mit offenem Mund und
wusste gar nicht wo sie als erstes hinsehen sollte. Erna hatte recht, unterstellen konnte man sich hier nirgends und die hohen Steinwände wirkten schon sehr bedrohlich. Im Schatten ihres Vaters ging Lotta weiter in das Burginnere hinein, bis dieser unerwartet stehen blieb und sie gegen ihn prallte. Vor lauter staunen und umherschauen, hatte sie gar nicht bemerkt, dass sich im Innenhof eine Menschenschlange gebildet hatte. Die Leute standen in Zweierreihen vor einer massiven Holztür, in welcher der Pastor stand und die Erwachsenen mit Handschlag begrüßte. Den Kindern schenkte er lediglich einen kurzen
verachtenden Blick.
Langsamenschrittes begaben sich die Menschen in das Innere der Burg und es sah fast so aus, als würden sie sich in der Dunkelheit des Einganges auflösen. Kaum hatte Lotta die Finsternis überwunden, stand sie einem großen Raum mit bunten Fenstern. Die Spiegelungen der Scheiben ließen alles in einem schönen Licht erstrahlen und es wirkte so gar nicht mehr bedrohlich. Lotta atmete tief durch und begab sich mit ihren Eltern in die dritte Reihe vor dem Altar. Kaum hatte sie ihren Platz eingenommen, war sie auch schon mit ihren Gedanken wo anders. Sie betrachtete die bunten Spiegelungen und
erkannte darin die unterschiedlichsten Figuren, welche sie miteinander spielen ließ. Unsanft wurde sie von ihrem Vater in die Realität zurück geholt, als dieser sie an den Schultern nach vorne schob. Mit weichen Knien ging sie zum Pastor und begann das Glaubensbekenntnis aufzusagen.
Während Lotta die Verse vortrug, schaute sie am Pastor vorbei, da sie ihm nicht ins Gesicht schauen konnte ohne eine Gänsehaut zu bekommen. Gerade als sie sagte, „ich glaube an den Heiligen Geist“, sah sie hinter dem Altar, ganz in eine Ecke gedrängt, ein kleines Mädchen hocken. Es war nur mit einem weißen Hemdchen bekleidet, jedoch von oben
bis unten beschmutzt und hatte den Kopf im Schoß vergraben. Lotta stockte, wusste auf einmal nicht mehr was sie sagen wollte und ehe sie sich versah, stand sie draußen vor den Burgtoren. Noch etwas verwirrt von dem Geschehenen stand sie da und wusste zunächst nicht was sie tun sollte. Ihre Eltern hatten ihr vorab erklärt, dass eine Messe bis zur Mittagsstunde dauern würde. Sie hatten ihr gesagt, dass sie es daran erkennen würde, dass die Glocken zwölfmal schlugen. Sollte sie vor die Tore geschickt werden, solle sie sich nicht von ihnen entfernen, damit die Eltern sie fanden und sie die Glockenschläge besser hören konnte.
Lotta lehnte sich an die kalte Steinwand und schaute in den Wald. Sie dachte an das kleine Mädchen und fragte sich, woher es kam und warum es in der Ecke hockte. Sie konnte das Gesicht des Mädchens nicht erkennen, aber die Gestalt kam ihr seltsam bekannt vor. Intuitiv ging Lotta in die Knie. Kaum hatte sie dies getan, spannte sich das Seil, welches eben noch vor ihr auf dem Boden lag und knallte nur eine Hand breit über ihrem Kopf gegen die Mauer. Hätte sie sich nicht gebückt, wäre sie wohl von dem Seil zerquetscht worden.
„Der Viehtrieb!“, hauchte es leise über ihre Lippen und mit einem großen Satz sprang sie zur Seite in den kleinen
Graben, welcher sich mit der Zeit durch das abfließende Regenwasser zwischen der Mauer und dem Weg gebildet hatte. Mit lautem Getöse wurden die Schafe aus dem Inneren der Burg über den Weg raus in den Wald auf die nahegelegene Wiese getrieben. Lotta hatte sich ganz klein gemacht und hielt ihre Hände schützend über ihren Kopf. Immer wieder wurde sie von Steinchen getroffen, welche durch die laufenden Tiere den Weg hinunter in den Graben hüpften. Als es über ihr ruhiger wurde, stellte sie sich vorsichtig wieder auf und versuchte so gut sie konnte den Sand von ihrem Kleid abzuklopfen. Wie konnte das sein? Heute war doch Sonntag! Warum brachte man
um diese Zeit die Schafe auf die Weide und vor allem, warum wusste Lotta was zu tun war?
Fortsetzung folgt...
Apollinaris Tolles Coverbild! :-) |
AngiePfeiffer Das st eine tolle, interessante Geschichte. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. LG Angie |
tooshytowrite ich freu' mich auf die Fortsetzung! |