Für Dich
Trauer
kann man nicht sehen,
nicht hören,
kann sie nur fühlen.
Sie ist ein Nebel,
ohne Umrisse.
Man möchte diesen Nebel packen
und fort schieben,
aber die Hand fasst ins Leere.
Glioblastom Multiforme. Wer es nicht besser weiß, der vermutet hinter dieser Diagnose eine harmlose Hautkrankheit. Eine Hautkrankheit die man mit Tinkturen und Salben erfolgreich behandeln kann.
Glioblastom Multiforme - ist ein aggressiver Hirntumor. Ein gehirneigener, schnellwachsender Tumor. Eine Bestie. Ein Teufel im eigenen Körper.
Und auch ich wusste vor der Diagnose, die mein Vater zu der damaligen Zeit bekam, noch nichts von der Existenz dieses Tyranus-Rex unter den Krebskrankheiten. Heute weiß ich es besser. Wir sind verletzbar!
„Glioblastom Multiforme eventuell noch zwei Jahre.“, hat sich der Neurologe, der uns vorher noch in eines der steril wirkenden Ärztezimmer hereingebeten hatte, vorsichtig ausgedrückt. Wohlbemerkt, mit Abstand der höflichste und diplomatischste Arzt der mir jemals, während des gesamten Aufenthaltes meines Vaters im Krankenhaus, untergekommen war. Die anderen, für uns so Wichtigen, für uns alles entscheidenden Gespräche, fanden entweder am Bett meines Vaters und dass, in einem erheblich unangebrachten, forschen Ton, zwischen Tür und Angel, oder gar nicht statt.
Zwei Jahre? Was bedeuten zwei Jahre? Bedeuten sie Hoffnung? Bedeuten sie noch einmal alles geben, noch einmal die Welt entdecken, noch einmal die Welt verändern wollen? Nein, mein Vater war nie ein Weltenbummler, ein Workaholic. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass er todunglücklich war, weil er den schiefen Turm von Pisa, die schillernde Reklame von Las Vegas, oder die Bergwipfel der Rocky Mountens nicht zu Gesicht bekommen hat. Mein Vater war bescheiden. Es war ihm wichtiger mit seiner Familie zusammen zu sein und er war mit dem zufrieden was er hatte. Und das hat er uns auch vermittelt. Das heißt,
Bescheidenheit ist uns in die Wiege gelegt worden. Ja, sicher haben wir ihn auch enttäuscht. Wir waren Kinder. Wir hatten Träume, unsere Luftschlösser und keine Ahnung. Und wir sind im Osten groß geworden.
Und sicher hatte mein Vater auch Träume. Vielleicht hat er sie nur aus Schamgefühl niemals preisgeben. Vielleicht wollte er noch einmal seine Heimat, seine Geburtsstätte sehen, von der er immer mit so viel Wehmut und Begeisterung gesprochen hat. Ich weiß noch genau, wie mein Vater immer zur Weihnachtszeit bei Kerzenschein mit uns Kindern in der kleinen Wohnküche saß und uns von seiner Heimat erzählte.
Vielleicht wollte er noch einmal die Weite, den Duft, das Licht seiner Heimat vor Augen haben. Vielleicht wollte er sich dieses oder jenes mit seinen Erzählungen bewahren. Für uns und für sich selbst. Er hatte immer diesen sehnsuchtsvollen Klang in seiner Stimme, wenn er seine Geschichten erzählte. Vielleicht haben ihn seine Erinnerungen, seine Empfindlichkeiten stumm gemacht? Es waren ja nicht nur schöne Erinnerungen. Der Krieg, die Flucht, der gefallene Vater, Bruder und die kleine Schwester, um die er sich kümmern musste.
Was sind also zwei Jahre wert? Was bedeuten zwei Jahre Aufschub? Bedeutet
es Hoffnung auf Heilung? Zweifellos sind die Heilungschancen von Krebspatienten heute größer denn je. Die Krebsforschung ist heute auf einem Stand, die vor ein paar Jahren als undenkbar erschien. Aber dennoch, bedeuten zwei Jahre Leben und dann Sterben? Was für ein Sterben? Ein schnelles? Ein langes leidvolles?
Es waren nicht nur ein paar Fragen die uns auf der Zunge klebten, es waren hunderte und doch brachten wir kaum ein Wort heraus. Wir standen wie auf einem brennendem Vulkan, der jeden Moment auszubrechen drohte. Wir waren hilflos, wie gelähmt und waren den gnadenlosen Fakten, die uns der Arzt da
verdeutlichte, völlig ausgeliefert. Wir hörten was der Arzt sagte und doch hörten wir alles nur im Dunstbild eines schlechten Filmes. Wir nahmen nur kurze Wortfetzen wahr und fragten uns danach, sollen wir wirklich glauben was der Arzt uns da sagte?
Meiner Mutter riss es den Boden unter den Füßen weg und ich, ich stand nur da. Ich kann mit dem Tod nichts anfangen - und auch jetzt noch nicht. Er gehört für mich in eine andere Welt. Ich schiebe es von mir fort, weiß jedoch, dass Menschen sterben, überall, auch in meinem Umfeld. Aber nicht in meinem Leben!
Ich klammerte mich unweigerlich daran das der Arzt sich vielleicht geirrt haben könnte. So etwas kommt schon mal vor, selbst in den besten Kliniken. Und doch irgendeine innere Stimme vermengte sich mit meinen zurechtgelegten Strohhalm und hinderte mich daran, meine konstruktiven Überlegungen weiterzudenken. Da schwang zu viel Kapitulation mit, in dem was der Arzt uns da versucht hat, schonend aufzutischen. Ich winselte innerlich, ersuchte alle guten Himmelsmächte, die für mich sonst noch nie zu existieren schienen und flehte den Schöpfer da Oben an, er möge Gnade mit uns und meinem Vater haben. Ich hatte von da an
nicht nur Angst um meinen Vater, ich hatte ab nun Angst um Beide.
Die Klinik in der mein Vater lag, ist oberstes Paradebeispiel modernster Technik und Einrichtung, hervorragender Betreuung durch geschultes Personal und einem Pulk hochkarätiger Ärzte und Professoren. Mit dieser exzellenten Wertschätzung wird diese Klinik im Internet angepriesen.
Also, entweder waren wir von dem überwältigen Glanz der Vorweihnachtszeit schon so über die Maßen erblindet - wir bekamen nämlich von diesem Hoch-Lob-Lied für besagte
Klinik nichts mit, oder unsere Ansprüche waren einfach in einer unvorteilhaften, nicht zu realisierendem Konstellation. Oder, wir haben da einfach nur etwas übersehen, denn wir durchliefen ein Martyrium von Kaltschnäuzigkeit und Arroganz der Ärzte, Bequemlichkeit und Lustlosigkeit des Pflegepersonals und einer überaus undurchdringlichen Bürokratie. Wir haben die Mühlen des Gesundheitswesens in so einer Konstellation zu spüren bekommen, dass, über die schwere Erkrankung meines Vaters hinaus, wir machtlos, entnervt und entkräftet wurden.
Bei meinem Vater wurde von einem zum anderen Tag eine OP am Kopf angesetzt, was wir von meinem verzweifelt, weinenden Vater und sonst von niemandem erfuhren. Erst nach stundenlangen Warten, mehrmaligen Bittgesuchen bei den Schwestern und permanentem Hingehalte, kam ein Gespräch mit einer Ärztin zustande und das, auch nur flüchtig, zwischen Tür und Angel und in einem Tonfall, bei dem selbst Hartgesottene sich jegliche weitere Fragen verkneifen würden.
Die berühmte Szene, in der ein fürsorglicher Arzt den engsten Verwandten an Hand von Röntgenbildern, die Diagnose, den
weiteren Verlauf der Behandlung, die Risiken und Gefahren einer OP erläutert, die gibt es im wahren Leben nicht. So etwas gibt es nur in schnulzigen Telenovelas oder in billigen Kitschromanen. „Friss oder stirb“ heißt die Devise. Bei meinem Vater ist das bestens gelungen.
Nicht dass die Diagnose „Glioblastom Multiforme Grad IV“ schon ein Schreckensbotschaft genug war, ging, dessen ungeachtet die Odyssee für uns weiter. Eine Odyssee in der man uns hat spüren lassen, wir sind nur Menschen zweiter Klasse und verdienen keine weitere förderliche Behandlung, keine
brauchbare Hilfe, keine wohltuenden Worte.
Aber hat nicht jeder ein bisschen Würde und Respekt verdient? Und wieso muss man sich überhaupt erst diese Frage, stellen? Und haben nicht solche Menschen, bei denen die Diagnose „Tod“ unausweichlich ist, die unwiderruflich verloren sind, und sich, was das Krankheitsbild angeht, in der letzten Phase ihres Lebens nicht mit eigenen Händen mehr helfen können und so schon gnadenlos auf die Gunst und Aufopferung der Menschen um sie herum angewiesen sind, nicht ohnehin alle Wertschätzung und Hingabe dieser Welt verdient. Dieser letzte Weg sollte
doch von Liebe und Demut begleitet werden. Dies sollte der letzte einnehmende Ruhepol vor dem allerletzten stillen Ruheplatz werden. Wir sind verwundbar und unsere Zeit ist kostbar, das ist mir bis dato noch nie so bewusst gewesen. Und schon alleine deshalb sollte man doch so viel tun um sie für jeden, der diesen bitteren Weg gehen muss, diesen letzten, so endgültigen Weg, ein wenig annehmbar und erträglich zu machen.
Wir wissen alle, wir sind längst eine Zwei-Klassengesellschaft und wir wissen auch, die Krankenkassen haben sich das Sparen auf ihre Fahnen geschrieben. Ich könnte so viele
peinliche, respektlose und beschämende Vorfälle aufzählen, dass ich nicht einmal müde dabei werden würde. Zum einen, weil die Wut und die Empörung sich darüber immer noch in mir viel zu hoch kochen würde, und zum anderen, weil ich der Meinung bin, das Ärzte und Pfleger nicht nur ihr fachliches, sondern auch ihre menschlichen Fähigkeiten in den Vordergrund stellen sollten. Oder ist diese kaltschnäuzige, unpersönliche Art und Weise einfach nur Normalität in den Kliniken geworden, weil selbst ein kleines bisschen Aufmerksamkeit und Fürsorge zu kostspielig geworden ist? Das selbstverständlichste, was es eigentlich in unseren Krankenhäusern
geben sollte, das können wir uns nicht mehr leisten. Menschlichkeit!
Ich weiß mittlerweile dass du an einer, sagen wir mal vorsichtig ausgedrückt, ungünstig dosierten Gabe Morphium gestorben bist. Zehn Minuten nach deiner letzten Morphiumspritze hörte dein Herz auf zu schlagen. Genau zehn Uhr.
Du schliefst friedlich ein, hattest kein schmerzverzehrtes Gesicht und doch wolltest du noch nicht gehen.
Morphium ist umstritten. Erst kürzlich ist wieder ein Fall in den Medien aufgetreten, wobei eine Ärztin laut Berichten zu Folge, Krebspatienten mit
zu hohen Morphium-Gaben behandelt hat. Dies hatte zur Folge, dass es einigen Patienten das Leben gekostet hat. Kaum ein Mensch glaubt doch, dass diese Ärztin vorsätzlich getötet hat. Dass sie diese hohen Morphium-Gaben geplanter Weise eingesetzt hat, um genau diese Patienten aus dem Weg zu räumen. Für diese Ärztin waren die Beweggründe so zu handeln, sicher nicht von flüchtig, schlampigem Überlegungen überlagert. Unerträgliche Schmerzen, barbarische Qualen, unmenschliches Dahinsiechen ihrer Krebspatienten trieben sie in den Strudel, das vielleicht ihr menschliches Gefühlspotenzial mehr in den
Vordergrund gerückt hat, als ihre fachliche Kompetenz. Und das ist genau die Gradwanderung der ein guter Arzt ausgesetzt ist. Fachliche und menschliche Fähigkeiten sollten sich auf jeden Fall ergänzen.
Die Dosierung machts und ist lebenswichtig. Du warst angesichts des Krebses, der Strahlentherapie so schon geschwächt, das du schließlich keinen Lebenswillen mehr aufbringen konntest. Und du hattest Schmerzen. Nicht im Kopf, sondern in deinem Körper. Unerträgliche Schmerzen mussten es gewesen sein, denn irgendwann - du lagst da schon zu Hause in deinem Pflegebett, verlangtest du selber nach
Morphium. Du wolltest Morphium und hast es auch Wort und Kommentarlos bekommen.
Der Pflegedienst bemühte sich sehr und die Ärztin, die das Morphium verschrieb, hatte dich nicht einmal untersucht, geschweige denn gesehen. Zuerst wurden dir die Morphium-Gaben in Tablettenform gereicht. Später - du konntest schon nicht mehr Schlucken hat man es dir gespritzt.
Vielleicht hätte eine auf dich abgestimmte Dosis dein Leben um Tage, ja vielleicht um Wochen verlängert. Aber vielleicht hätten wir auch ein Horrorszenario durchlebt. Dich, mit
schmerzverzehrtem Gesicht, mit krampfendem Körper, was von epileptischen Anfällen herrührt, welch, bei einem Gehirntumor nicht selten sind und wahrscheinlich hätten wir dein quälendes Stöhnen und dein fahles Schmerzenswimmern nicht mehr ertragen können.
Wer weiß was noch geschehen wäre und ich möchte es auch nicht wissen. Ich halte mich von diesen Gedanken fern um mich selber zu schützen.
Mein Trost, du bist still von uns gegangen. Du bist bei uns zu Hause gewesen und wir bei dir. Wir haben deine Lippen befeuchtet, wir haben deine Hand gehalten, wir durften dich
fühlen, dich anschauen und das, bis zu deinem allerletztem Atemzug. Und wir haben deine Seele von uns schweben sehen.
Ja, man spürt in diesen Stunden dieses Endgültige. Man sondiert die Zeit und weiß, die Frist, die man jetzt noch mit dir hat, ist nur noch von kurzer Dauer. Der Tod, der schon längst an deinem Bett steht und seine verführerisch, trügerischen Flügel ausbreitet, hat schon längst begonnen, dich in seinen Besitz zu nehmen und mit jeder Faser die man hat, saugt man dieses Bild, dieses zerbrechliche Wesen, welches da vor einem liegt, in sich auf. Wie du so dalagst. So unbeweglich, hilflos und
doch so würdevoll. Du hattest deine Hände gefaltet und wartetest nun auf das, was nun kommen musste.
Uns kam diese Zeit unendlich vor. Drei lange Tage dauerte dein Sterben. Drei nie endende Tage. Wir waren ausnahmslos erschöpft und müde und hatten von den stundenlangen Sitzwachen an deinem Bett unerträgliche Rückenschmerzen. Wir konnten ja nicht wissen, wann der Zeitpunkt da ist. Wir konnten nicht wissen, wann dein Herz aufhört zu schlagen. Aber irgendwann wünschten wir die Erlösung herbei. Es gab ja nur noch ein kurzzeitiges Atmen. Die Sprache hattest du mittlerweile schon vor drei Tagen verloren. Deine
Haut hatte am ganzen Körper schon eine blaue Färbung angenommen. Von da an wussten wir, es ist bald soweit und niemand und nichts kann diese Tatsache rückgängig machen oder gar umkehren. Und genau weil wir das wussten, haben wir jeden Blick von dir, jede noch so kleine Bewegung, dein Aussehen, einfach jede Sekunde die uns noch blieb, in uns aufgesogen. Mit der vollen Geistesgegenwart, mit jeder Faser unseres Körpers hat sich dein Sterben in unser Gedächtnis gebrannt. So etwas mitzuerleben ist nahezu ein beklemmend leiser, fast spiritueller Moment.
Der frühe Anruf meiner Mutter ließ mich hochschrecken. Ich spürte instinktiv irgendetwas ist nicht in Ordnung. Irgendetwas ist nicht wie sonst. Ich hatte Gott sei Dank an diesem Tag frei. So fuhr ich kamikazemäßig und hoffend, dass ich niemanden dabei über den Haufen fahre, durch meine Heimatstadt zu meiner Mutter. Das mulmige Gefühl verstärkte sich noch, als ich in den vierten Stock herauf hetzte und atemlos die Wohnungstür aufriss. Wir hatten dich längst zu Hause im Pflegebett und wussten immer noch nicht, dass es eigentlich dein Sterbebett war. Wir klammerten uns an den kleinsten Strohhalm. Vielleicht lebst du
ja noch zwei, drei Jahr, dachten wir und hatten uns vorgenommen alles dafür zu tun.
Der Notarzt den ich rief, erklärte uns mit der Vorsicht einer Mutter, die ihrem Kind erklärt, es möge niemals zu fremden Personen ins Auto steigen, dass das dein Sterben ist. Dass man hier nichts mehr tun kann außer Abzuwarten. Er wünschte uns viel Kraft und ließ uns allein mit unserer Hilflosigkeit, unserer Ohnmacht.
Und so war es dann auch. „Ich muss sterben.“, flüstertest du irgendwann und hast mir so die Gewissheit gegeben das der Arzt Recht hatte.
Ein Urinstinkt trieb mich aber trotzdem
weiter und ich hoffte immer noch insgeheim, dass das alles nur ein schlimmer Traum war. Ein Spuck, ein Wahnbild in meinem Kopf. Doch es war kein Spuck. Die Realität kokettierte mit dem Tod und wir konnten nichts mehr tun, außer Warten.
Es war soweit du hattest die letzte Spritze Morphium erhalten und schliefst zehn Minuten später ein. Friedlich wie ein Kind, ohne zu kämpfen hast du dich dem Schicksal hingegeben. Du hattest keine Kraft zu kämpfen. Du hattest es hingenommen. Und doch wolltest du noch nicht gehen. Du wolltest noch nicht für immer von dieser Welt.
Irgendetwas, wir werden es nie erfahren, hast du mit dir herumgetragen. Es hatte den Anschein, du wartest auf etwas. Aber warten nicht alle Sterbenden auf etwas?
Viel zu speziell und feinnervig ist dieses Thema, als das man sich in einen Sterbenden hineinversetzen kann. Was kann derjenige noch wollen? Was will er uns sagen? Und auch wenn meine Mutter tief bedauert, dass du nicht mehr sprechen konntest, für mich hast du alles gesagt. Du hast mit Blicken gesprochen. Du hattest zwar keine Sprache mehr, aber deine Blicke sprachen Bände.
Ich weiß noch genau, irgendwann fragte ich dich, ob ich mich ein bisschen neben dich legen soll. Du beantwortetest mir die Frage mit einem ganz leichten Kopfnicken. Es war kaum zu sehen und doch konnte ich es deuten. Du spürtest unsere Anwesenheit ganz genau und du wolltest und solltest nicht alleine sein. Zu jedem beliebigem Friseur oder Zahnarzttermin, hätte ich dich alleine gehen lassen, aber nicht bei dieser alles so entscheidenden und endgültigen Unwiderlegbarkeit. Und genau das, war das Einzige was wir aus eigener Kraft und eigenem Willen beeinflussen konnten. Du solltest wahrhaftig nicht mutterseelenallein irgendwo in einem
sterilen Raum, umgeben von piependen Maschinen, blinkenden Gerätschaften, sterilen Schläuchen, die dir die Atemwege freisaugen, oder aus denen irgendein Mittel fließt, um deinem Körper eine gewisse Stabilität zu verleihen, liegen. Vollgepumpt mit Medikamenten und Schmerzmitteln würde sich so der Sterbeprozess als unendliche Qual in die Länge ziehen. Wer soll und kann so etwas verantworten?
Wagt man sich zu weit vor, wenn man die Frage stellt, wer den viel zu frühen Tod meines Vaters zu verantworten hat? Wagt man sich in ein viel zu sensibles Territorium und kann man überhaupt
jemandem die Schuld daran geben? Was nützt es jemanden dafür in die Verantwortung zu nehmen. Was nütz es ein Fass, welches kein Boden hat aufzumachen? Mein Vater wäre ohnehin gestorben, ob mit oder ohne Morphium und wenn ohne, dann garantiert mit unermesslichen Schmerzen.
Nachtrag
Es kommt wie ein Blitzschlag. Wie ein Stromschlag, den man bekommt, wenn man einen dieser Spannungszäune für Nutzvieh anfasst. Und dieser Stromschlag tut weh, weil man nicht damit gerechnet hat, die Ladung Energie, die in ihm schlummert, abzubekommen. Ein Erstarren, Stutzen lässt mich dann aufhorchen, weil die schmerzlichen Bilder wieder und wieder vor meinem geistigen Auge ablaufen. Was mit dir passiert ist, kann man zu keiner Zeit wahrhaben. Und das, was die Normalität des Lebens verschluckt, kommt urplötzlich als Alptraum ins Licht
der Gedanken zurück.
Wahrscheinlich wägt man sich in Sicherheit und macht die Zeit dafür verantwortlich, dass man glaubt, den Tod, den Verlust des Vaters, schon ganz gut verarbeitet zu haben. Doch die Seele, das Bewusstsein speichert ausnahmslos alles ab. So wie die Festplatte eines Computers. Es braucht nur ein klitzekleines Wort, eine Begegnung, eine Reflexion, ein Gedanke - und schon sehe ich wieder alles haarscharf und szenengetreu vor mir.
Vergessen?
Wie kann ich nur so töricht sein und von Vergessen sprechen? Natürlich läuft das Leben weiter seine Bahn. Wir schalten
jeden Morgen das Radio ein um den Wetterbericht zu hören. Wir fahren zur Arbeit, in den Supermarkt, in den Urlaub, oder sonst wohin. Wir trinken am Nachmittag unsere gewohnte Tasse Kaffee und lesen das regionale Tagesblatt. Und doch ist da ganz hintenin meinem Kopf, ganz abgelegen in einer klitzekleinen Schublade, so ein unabdingbarer, hilfloser Gedanke. Ein trauriger Unterton, der dem Leben einen bitteren Beigeschmack verpasst.
Dein Krebs hat gewonnen!