Krieg, Krankheit, Tod und Zerstörung. Die Menschheit hatte innerhalb des letzten Jahrhunderts die Erde mit ihrem Blut getränkt, sie bis aufs letzte Mark ausgehöhlt, sie mit Narben übersät und fast jegliches Leben von ihr getilgt. Der Himmel war grau und wolkenlos, der Boden nackt, verbrannt. Die Sphäre, die die verdreckte Luft hielt, blutete, starb, getötet von Menschenhand. Die Erde war vollkommen am Ende. Die Menschheit ebenso. Die eigenen Reihen waren stark dezimiert, in den zerstörten Städten lebten sie in gesetzlosen Gemeinschaften, aufgeteilt in Reich und Arm, miteinander.
In jener trostlosen Zeit klammerte sich eine kleine Gruppe vermögender privilegierter Menschen an ein Relikt des Menschseins: Der Religion. Der Glaube war eines der letzten verbliebenen Erinnerungen an die einstige Zivilisation. Vater Staat und Mutter Kirche arbeiteten Hand in Hand zusammen. Die Kronos-Kirche ward geboren.
Klack-toc. Klack-toc. Monoton wurde die gräuliche Lösung in einer Zentrifuge herumgeschleudert. Früher, als junger, enthusiastischer Materialist hatte Absolem die Teilchen, die in der ekelerregenden Brühe schwammen,
freudig beobachtet, gespannt auf deren Einsatz. Doch diese Vorfreude war nicht mehr, existierte schlichtweg nicht mehr in seinem Innern. Er war abgestumpft, alt geworden. 42 Jahre, d.h. für die gegebenen Verhältnisse alt. In dem völlig weißen, künstlich, aber spärlich beleuchteten Labor saßen so einige seiner Art: Ergraute, trostlose Materialists, die auf klapprigen Stühlen mit den Injektionsgeräten in der behandschuhten Hand vor den Zentrifugen hockten. Toc. Das Gemisch war nun einsatzbereit. Er nahm das Reagenzglas in die Hand und platzierte die Spritze in die Mitte, sodass er die Flüssigkeit mit ihr aufnehmen konnte.
Zweimal mit dem Finger gegen das Glas geklopft, damit die Sauerstoffbläschen sich auflösten und gemächlichen Schrittes bewegte er sich auf die Sinners Lounge zu, die nicht mehr war als ein verdreckter, rostiger Käfig. Ängstlich auf dem feuchten und Fäkalienverseuchten Boden kauernd, hockten zwei junge Frauen dicht aneinander gedrängt, als sie die Schritte Absolems panisch bemerkten. Sie waren laut Kronos der Sünde verfallen, hatten ihren Leib Männern angeboten, um ihr bisschen Eigentum zu erlangen. Sie waren Schmutz, waren Schmach, waren Schande. Er öffnete die Gittertüre, während indes die beiden Frauen
begannen fürchterlich um ihr Leben zu schreien. Verzweifelt packten sie einander, versuchten sich gegenseitig zu Absolem zu schieben. Loyalität war keine Tugend, die den Menschen vom Zeitpunkte seines Eintrittes in das irdische Sein begleitete. Loyalität musste wachsen, gedeihen, im Herzen des Menschen. Absolem war loyal, absolut loyal. Er war der Kronos-Kirche schon seit 22 Jahren ergebener Diener. Die Kirche hatte es sich zur Aufgabe gemacht den letzten Rest der Menschheit mit nötigen Rohstoffen und Materialien zu versorgen. Aus diesem Grund wurde der Rang des Materialists ins Leben gerufen.
Unwillkürlich packte er die eine junge Frau bei den schmandigen Haaren, die andere trat er zurück ins Innere des Käfigs. Dann betätigte er einen Knopf und eine Falltür öffnete sich unter ihr. Sie verkaufte ihren Körper? So sei es. Die Sünderin sollte fortan als Zuchtobjekt für Sinners Children herhalten. Sie würde auf ewig an ihre Sünde erinnert werden. Denn egal zu welchem Preis: Die Kronos-Kirche hatte seine Anhänger mit den essentiellen Dingen des Lebens zu versorgen. Mit aller Kraft wehrte sich die Sünderin, in der Akte als Megaira betitelt, trat, biss, schlug, kratzte. Doch Absolem war dieses letzte Aufbäumen gewöhnt. Jeder
der Sünder, die aus der gesetzlosen, dunklen Zone, dem sogenannten Sinners Land, kamen, wollte sein gottgebenes Schicksal nicht akzeptieren. Die Kronos-Kirche hatte Regeln und Gesetze entwickelt, die der Menschheit große Dienste geleistet und sie zurück zur Zivilisation geführt hatten. Ihre Worte waren determinierend für jeden einzelnen Menschen. Ihnen musste Folge geleistet werden. Wer sich nicht an den himmlischen Codex hielt, für den gab es keine Zukunft. Sünder waren keine Menschen. Die Kronos-Kirche erlaubte den Materialists nichtmenschliche Wesen für ihre Zwecke zu gebrauchen, um ihren menschlichen Untertanen eine
lebenswerte Zeit auf Mutter Erde zu schaffen.
Schließlich war es Absolem in seiner unendlichen Geduld gelungen, die junge Frau, die sich noch immer verzweifelt zur Wehr setzte, zum „OP“-Sitz zu schleifen und sie dort festzuschnüren. Mit schreckgeweiteten Augen erkannte sie die Gefahr, die Spritze, die in seinen Händen lag. Panisch versuchte sie sich fortzureißen, die Arme sich selbst auskugelnd, Schaum vor dem Mund, ohrenbetäubendes Geschrei, den Kopf hin und her werfend, den Sessel in ungläubiges, verängstiges Beben versetzend. Doch es nützte alles nicht. Er jagte ihr die Spritze in die Vene, das
Metall bohrte sich durch das junge, saftige Fleisch, durchdrang alle Schichten. Mit einem festen Ruck entließ Absolem die Flüssigkeit in ihre Blutbahnen und die Frau verfiel sogleich in eine Schockstarre. Der Materialist entfernte das Injektionsgerät. Es würde einige Zeit dauern, bis sich alle Körperfunktionen eingependelt hatten. Doch dann brachte er die Frau in eine Glaskapsel. Die Picroroboter würden sich sofort an die Arbeit machen, direkt unter die menschliche Epidermis Lichtsammelkomplexe wie sie bei photoautotrophen Pflanzen vorkamen nachbilden. Gleichzeitig würde das Chlorophyll künstlich hergestellt, sodass
der gesamte menschliche Organismus in Grün gekleidet war. Schließlich würde die Haut dann die Lichtenergie aufnehmen, der Lunge würde CO2 entzogen und von den 80% der Körperflüssigkeit würde die nötige Wassermenge entnommen werden. Die Frau veränderte allmählich die menschliche Gestalt. Die Picroroboter leisteten gute Arbeit. Waren die Arbeiten morgen früh abgeschlossen, konnte man sie auf dem Gelände der Kronos-Kirche in eine kleine Glaskuppel stecken, wo sie 02 ausstoßen würde und man ihr bloß Wasser und Nährstoffe geben musste, damit die dann photoautotrophe Sünderin überlebte. Für
mindestens 10 Jahre. Herstellergarantie.
Seine Abteilung hatte für heute Feierabend. Die stickigen, im metzgerweiß gehaltenen Labore konnten endlich verlassen werden. Absolem kam aus dem Haupteingang der Kronos-Tech. Und entledigte sich seines ranzigen, unreinen weißen Kittels. In seiner weißen Gänze erstreckte sich das Kronos Land von Westen nach Osten. Die alte, verlorene Moderne der Menschheit hatte die wunderbare, vom Himmel geschenkte Kirche zurückgebracht, nicht vollständig, doch sie war vorhanden. Im Norden überragte dieses gigantische Monument, der Kronos Dom, im edlen Elfenbein mit abertausenden Edelsteinen
verziert, das weiße Meer um hunderte Meter. Die Menschheit war stark geschrumpft, dennoch strömten die weiß gekleideten Massen durch die blankpolierten, weißen Straßen, die anstatt von Bäumen und Laternen wie in geraumer Vorzeit gesäumt, sondern von Glaskuppeln umgeben, in denen die Resultate der Kronos-Tech. Abteilung O, den sauerstoffveratmenden Sünden und die Ergebnisse der Kronos-Tech. Abteilung L, den Sündern in welchen die Biolumineszenz für optische Strahlung in der tiefdunklen Nacht sorgte.
Absolem reckte sich kurz. Er sah am Horizont schnelle, weiße Fahrzeuge auf die weiße Zivilisation zu jagen. Sie
waren die einzigen, die solche Transportmittel benötigten. Sie waren Hunter, die große Strecken im Sinners Land zurücklegen mussten. Jenes Land erstreckte sich bis über den Horizont hinaus. Die Kronos-Kirche war eine Insel inmitten eines freien, gesetzlosen Landes, wo Zivilisation und Technik verloren schienen. In dieses Land zogen Arme, Irre, Verbrecher, Rebellen. Sie alle suchten nach dem Glück der Freiheit. Doch alles was sie vorfanden war Ödnis, Leid und Tod. Durch die schier unfassbare Gier des vergangenen Menschen war die Flora und Fauna nur noch begrenzt nutzbar, weshalb andere Ressourcen bezogen werden mussten. Die
Kronos-Kirche hatte diese eine Technologie entwickelt, die mithilfe von Menschen alles Essentielle, sei es Wasser, Sauerstoff, Licht, Metall und Holz oder sogar Nahrung, herstellen konnte. All jene, die der Sünde verfallen waren und ins Sinners Land flüchteten, wurden für diese Zwecke genutzt. Menschen waren nur noch Material zum Überleben. Absolem glaubte der Kirche. Wenn die Menschheit ihre eigenen Reihen nicht vom Bösen, von der Sünde befreiten, dann würde die Menschheit schon lange nicht mehr existieren. Absolem glaubte, dass die Arbeit, die er als Materialist verrichtete, gut war. Jeder schätzte sie, selbst die Sünder
selbst würden es verstehen, wenn sie schließlich von ihren Untaten befreit waren. Absolem glaubte, dass der vergangene Mensch sich selbst gerichtet, weil das Böse sich tief in das menschliche Herz gefressen hatte. Doch jetzt war die Menschheit wieder dabei auf den alten, verrotteten Thron zurückzukehren. Besser und stärker denn je. Absolem glaubte alles, was die Kronos-Kirche ihm erzählte. Er zweifelte nicht.
Ein paar Hunter kamen auf ihn zu. Sie schleppten Kinder und Frauen für die Abteilung H. Wasser und Abteilung N. Nährstoffe in das Materialist Zentrum. Tränen, Geschrei, Tritte, Schläge, Bisse.
Wieder diese typische Reaktion der Sinner. Er rollte mit den schmerzenden Augen. Die Hunter trugen gewaltige Panzer und Helme mit Sichtschutz, die flinken und gelenkigen Hände in milchigen Polyester Handschuhen, breite Militärstiefel aus weißem Stahl an den Füßen und an der Seite, ein grelles, poliertes Schwert aus Glas. Ihre Körperhaltung war erhaben, war stolz, war mächtig. Jede Muskelfaser war unter der Brustpanzerung zu erkennen. Die Hunter bewegten sich wie Tiger auf der Pirsch. Die Blicke folgten ihnen. Alles, was das mindere Volk verkörpern wollte, war in den Huntern vereint. Sie waren direkt unter der Kronos-Regierung
positioniert und unterstanden nur dem Befehl Sündern ausfindig zu machen und sie zu Materialists zu bringen. Lebend. Kein Materialist konnte es mit einem Hunter aufnehmen, geschweige denn sich gegen einen auflehnen. Hunter waren freie, fliegende Exekutivbeauftragte der Kronos-Kirche, die durch das weite, ergraute Sinners Land streifen konnten. Absolem sehnte sich nach ihrer Freiheit. Nach ihrer absoluten Freiheit. Er wollte nicht länger in den stickigen Laboren hocken und Sauerstoffmonster herstellen. Er wollte etwas von dieser geschändeten Welt mit eigenen Augen sehen, sie berühren, sie unter seiner Haut fühlen. Ganz egal wie kaputt und tot die Erde
war. Er wollte sehen, was hinter der weißen Grenze auf ihn wartete, was die Sünder vor ihnen mit dem einstigen blauen Planeten angerichtet hatten. Hunter waren Richter, wussten, wem das Herz in der Flut der Dunkelheit und des Bösen verloren gegangen war. Sie folgten den Gesetzen Kronos, waren aber auch Vollender, Vollstrecker selbst. Ohne sie war die Kronos-Kirche, waren die Materialists, waren die Average People und waren auch die Sinner selbst völlig kraftlos, wertlos und leer. Die Hunter saßen am Hebel der Macht. Absolem hingegen musste sich ihren Kriterien beugen, langweilige Experimente machen und den Sündern
dabei zusehen, wie sie vom menschlichen in einen materialistischen, künstlichen Zustand übergingen und dann allmählich verendeten. Er wollte so sein wie sie. Er wollte Richter, wollte Kämpfer, wollte Macht, wollte Bewunderter, wollte Hunter sein. Er wollte selbst spüren, wie es war, die Gesetze der heiligen Kirche durchzusetzen.
Absolem hatte sich schließlich von den Huntern abgewandt. Er ging die hellerleuchteten Straßen entlang, auf der kein einziges Sandkorn das strahlende Material befleckte. Unter dem Glas saßen mit geschlossenen Augen Kinder, die lumineszierendes Licht ausstrahlten und die Stadt immer, egal zu welcher
Tageszeit erleuchtet hielt, sodass man selbst aus größter Entfernung in der Ödnis, die weiße Stadt der Kronos-Kirche erkennen konnte.
Endlich war er zu Hause angekommen, raus aus dem Trubel, den die Verehrten verursacht hatten. Er begutachtete sich in dem trüben Digitalspiegel im Eingang seiner Wohnung. Unter den Augen zeichneten sich dicke, graue Ringe ab, die von Müdigkeit sprachen. Seine Lippen waren blass und spröde, am Kinn waren einzelne Stoppeln seines Dreitagebartes zu erkennen, das schmale Gesicht verkrampft. Die Zeit hatte seine Spuren hinterlassen. Doch das war in Ordnung, hatte er doch Zeit seines
Lebens der gottgegebenen Kronos-Kirche gedient. Er ging weiter in seine Wohnung hinein. Es waren nicht viele Möbel, nur das Nötigste. Weiße Lacken versteckten ihr eigentliches Aussehen, ihr eigentliches Sein, hüllten sie ein, als wollte die Kronos-Kirche auch nach der Verarbeitung die frühere, wahre Identität der Sünder verschleiern. Absolem schlurfte zum Sofa, wo er sich fallen ließ. Neben der Sitzgelegenheit stand ein kleiner, verlorener Beistelltisch. Er griff zu. Ein umgedrehter Photorahmen küsste die weiße, kalte Fläche. Sanft berührte er das Photo, das sich hinter dem Glas verbarg. Die Frau auf dem Bild war
wunderhübsch und lächelte freundlich in die Kamera. Wenn Absolem sagen konnte, ob er jemals für etwas Anderes als die Kronos-Kirche gelebt hatte, so war es diese Frau. Drei Jahre war er mit ihr zusammen gewesen, seit dem 16.Lebensjahr. Er hatte schon von Anfang an gewusst, dass sie die Liebe seines Lebens war. Aber als er das 19. Lebensjahr erreicht hatte, war er der Kronos-Kirche beigetreten und hatte begonnen für die Kirche zu arbeiten. Doch damit war sie nicht klargekommen. Er hatte jeden Tag lange und hart gearbeitet, arbeitete daran für das Lebenswichtige zu sorgen und vielleicht sogar seinem Traum Hunter zu werden
näher zu sein, aber sie hatte es nicht verstanden. Sie wollte nicht, dass er sich von ihr entfernte. Sie hatte Angst ihn an die Kirche zu verlieren. Aber das war absurd. Kronos verband die Menschen. Kronos zeigte ihnen, was für Regeln sie zu befolgen hatten, um Mensch zu bleiben. Wer sich nicht daran hielt, der war nicht würdig, sich Mensch zu bezeichnen. Nach all den Jahren verstand er sie noch immer nicht. Wenn nicht Materialist Sinner verarbeiteten, wie konnte man in dieser Zeit noch überleben? Die Welt war leergefegt, war nur noch ein verwüsteter, vertrockneter, fruchtloser Erdball, war leblos ohne die Kronos-Kirche. Pandora… Obgleich er
sie nicht verstand, er liebte sie noch immer. Er seufzte, legte dann das Bild wieder umgedreht auf den Tisch. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen. Die Hände auf die Augen gelegt, massierte er sein Gesicht. Absolem war müde. Die Kirche würde es sicherlich begrüßen, wenn er jetzt schon ruhen würde und morgen früher einsatzbereit wäre. Für Kronos alles geben, seinen Alltag, seine Jugend, sein Leben.
Er erhob sich nach 5 Stunden Schlaf aus dem Bett, das mit einem weißen Laken abgedeckt war, wie ein Leichentuch auf einem Leichnam, wie ein Totensarg. Weiß war nach dem Verständnis der Kronos-Kirche die Farbe der Reinheit ,
die Farbe des Gewissens, die Farbe der Wahrheit. Nur mit dem allesdurchleuchtenden Weiß der himmlischen Kronos-Kirche konnten diejenigen, die auf den richtigen Pfaden wandelten sich von den Sinnern unterscheiden. Absolem hob abermals das Bild seiner Verfloßenen auf, streichelte verzagt das blasse und doch fröhliche Gesicht, das ihren unbändigen Kämpfergeist verbarg. Es war sein Abend- sowie Morgenritual. Sie war schon lange fort. Er hatte sie nicht mehr erreichen können, geschweige denn aufhalten können. Alles was ihm von ihr geblieben war, war ihr altes Bild, das als einziges in seiner Wohnung nicht
verstaubt war, auf dem sie farbenfroh und mit jugendlicher Energie alles in seiner Wohnung überstrahlte. Wenn er ihr Bild berührte, dann fühlte sich Absolem für einen kurzen Moment nicht einsam, nicht verlassen oder verloren. Er wusste selbst, dass dieses Klammern an die Vergangenheit armselig war. Doch was hatte er schon für eine andere Wahl. Er war einfach ein einsamer, alternder, vor sich hinvegetierender Materialist, der nichts anderes hatte als Kronos. Kronos war für viele wie ihn zum rettenden Faden, an den sie sich verzweifelt festhielten, geworden. Selbst für die Sinner war Kronos der Rettungsanker, das reinigende Licht, das
sie aus der Finsternis der Sünde befreien könnte. Absolem zog sich seinen weißen Schutzanzug an, der im Entferntesten an die Rüstung der Hunter erinnerte, ließ seine Bartstoppeln weiter sprießen und ignorierte die Stirnfalten, die sich allmählich auf seinem Gesicht ausbreiteten. Jeder alterte. Jeder starb. Selbst die glorreiche Kirche war nicht imstande diesen Missstand zu beheben. Im Gegenteil: Sie schlug daraus Profit: Sünder, die früher starben, als von Materialists eingeplant, wurden weiterverarbeitet. Zu dem Material, das gerade benötigt wurde. Grausam, aber Absolem hatte es nicht anders gelernt. All jene, die unter Kronos lebten hatten
sich längst damit abgefunden. Wer sich dagegen sträubte, wurde dann einfach zum Sinner degradiert. Da gab es keine Gnade. Kronos war Vollstrecker.
Die weißen Straßen strahlten wie auch den Vortag zuvor eine für Anhänger der Kronos-Kirche mehr oder weniger willkommene Wärme aus. Die Erde selbst hatte lange nicht mehr willkommen geheißen. Die trüben Landstriche oder vielmehr, was davon übrig geblieben war, luden nicht unbedingt ein, dort Unterschlupf zu suchen. Dennoch hatten die Verstoßenen der Gesellschaft keine andere Wahl. Sie legten sich lieber in den kalten, vertrockneten Schoß von Mutter Erde,
die sie im Gegensatz zu Kronos noch nicht aufgeben hatte, als sich in die gierigen, menschenverachtenden und blutverschmierten Kirchenhände zu begeben. Solange man sich noch am Leben und von Kronos unmanipuliert wusste, war den Sinnern ihre Lebenslage so ziemlich egal. Armselig hielt Absolem diese Denkweise. Sich nur mit vertrocknetem und verseuchten Gras abfinden, als die Güte der Kirche und ihre lebensfördernde Technologien zu empfangen, war einfach nur töricht und absolut inakzeptabel. Die weißen Massen strömten durch das Straßengebilde in Richtung Kronos-Dom. Das riesige Elfenbeingebäude, mit weißleuchtenden
Glasornamenten verziert. Zwei hohe, weiße Türme und in glühendes Kreuz, das aus der Dachkuppel ragte, waren die Symbole der Kirche, die die Fäden dieser Welt in den profitgeilen Händen hielt. Auch Absolem begab sich durch einen Seiteneingang ins Innere des Doms. Die Massen waren kaum zu bändigen, jeder von diesen Average People in Weiß wollten nach vorne, zum Altar, dem wahren und heiligen. Jeder wollte ihn einmal berühren, den Segen für diesen Tag einholen, doch die Hunter hatten das alleinige Privileg inne zuerst an das himmlische Heiligtum zu treten und den polierten Marmor zu berühren. Sie waren abgetrennt vom restlichen
Volk und überstrahlten neben dem reichverzierten Kirchengut die ungeduldige, gesamte Menge. Kein anderer kam an ihre Erhabenheit heran. Dann waren da noch die Materialists, zu denen sich Absolem noch immer zählen musste. Sie standen ebenfalls in einer eigenen, abseits gelegenen Ebene, aber viel enger aneinander gedrängt und überhaupt nicht so edel, mutig und stark. Die Materialists knieten sich vor dem Altar hin und berührten mit ihren Stirnen das kalte und doch für ihr Empfinden warme Gestein. Absolem hatte diese Schritte schon lange beobachtet und hatte es ihnen vor Jahren gleich getan. Doch jetzt küsste er den
Altar noch zusätzlich. Das war er Kronos schuldig. Heute würde ein guter Tag werden. Er spürte es. Heute würde er die Freiheit der Hunter zu spüren bekommen. Das wusste er.
Die Messe war schnell vorbei, Hunter, Materialists und die Average People, die einfachen und alltäglich benötigten Arbeiten nachgingen, konnten wieder im Trott des Alltags entschwinden. Die Regierung selbst hielt sich aus diesem Kult heraus. Waren wahrscheinlich damit beschäftigt, einstige menschliche Leben auszubeuten. Absolem streifte sich in der Kronos-Tech. Abteilung O. einen noch weißen Kittel über. Es war bloße Verschwendungssucht jeden Tag ein
neues blütenweißes Kleidungsstück an die Exekutive sowie die Technologen auszugeben, um die Farbe der Reinheit jeden Tag aufs Neue von dem rotgetränkten Spuren der Sünder zu befreien. Absolem hatte die Kittel aber nicht deswegen satt. Er wollte sich endlich aus dieser Hülle schälen und eine vollkommene Hunter-Rüstung tragen. Er hatte schließlich lange genug in der Materialist-Abteilung gedient. Und mindestens genauso viel geopfert. Er würde durch nichts davon abgehalten werden können seinen letzten Tropfen Blut für Kronos herzugeben. Schließlich hatte er nichts mehr. Er war verloren. Verloren im Materialism, fühlte sich wie
gefangen in einem albtraumhaften Mandala, verloren im Glanze des weißen, die Sicht verschleiernden Lichtes, verloren in Kronos. Seine Muskeln spannten sich unter dem hellen Stoff an, er war bereit. Heute würde er so viele Sinner zu Sauerstoffmaschinen konvertiert haben, dass die Kronos-Regierung nicht anders konnte, als ihm einen Wunsch zu gewähren. Jeden Tag schaffte der Materialist es 12 Menschen photosynthesefähig zu machen. Er war ein Profi, war der Beste seiner Abteilung. Heute würde er 13 Menschen materialisieren. 13 Sinner fehlten ihm bis er in seiner gesamten Dienstzeit 500.000 Sünder auf den rechten Pfad
zurückgebracht hatte. Heute würde er Hunter werden. Die Materialist Abteilung für Sauerstoffbedarf quoll an jenem Tag über mit streitsüchtigen Sinnern, weinenden Sinnern, verlorenen Sinnern… und ihn. Als Absolem ihn sah weiteten sich seine sonst so trüben Augen, er erstarrte. Ein Hunter sprach ihn knapp an: „Dir werden heute 13 Sinner zugeordnet, also mach deine Sache gut.“ Also hatte sich seine verarbeitete Zahl an Sinnern und die damit verbundene Beförderung bzw. sein Rangaufstieg in den Exekutivbereich von Kronos bereits rumgesprochen. Allerdings war es auf taube Ohren getroffen. Er war einfach nur
verstummt, erstarrt, unfähig sich aus seinem eigenen Käfig aus Angst zu befreien. Jetzt wo sein Ziel in erreichbare Nähe gerückt war, war es als würden ihn tonnenschwere Ketten aus dem Blute seiner Opfer wieder gen Boden ziehen, als wollten sie verhindern, dass er flog, flog wie ein kleiner, weißer Vogel. Wollte Kronos ihn prüfen? Der junge Mann, der mit anderen Sinnern in die Kronos-Tech. Abteilung O. geführt worden war, war an den Händen gefesselt und hatten nur teilnahmslos auf den staubigen Boden gestarrt. Jetzt als Ruhe in die Reihen der Sünder eingekehrt war, da sie sich in den dunklen Hallen der Materialists
befanden, schaute er erstaunt auf, mit der Intention eine Fluchtmöglichkeit auszumachen. Er sah Absolem direkt in das versteinerte Gesicht. „Hallo, Vater… Hättest nicht gedacht, dass du mich unter diesen Umständen wiedertreffen musst, was?“ Ein leichter Ton von Schadenfreude, aber auch von abstoßender Verachtung lag kalt in seinen Worten. Für den jungen Mann war sein Vater nichts weiter als dreckiger Abschaum. Abschaum, der einfach aus dem Leben seiner Freundin verschwunden war. Abschaum, der seine Mutter im Stich gelassen hatte. Und vor allem Abschaum, der sich nicht um seinen Sohn geschert hatte. Absolem war
schon lange bei seinem eigenen Fleisch und Blut unten durch. Nur Unterhalt zu zahlen und kleine Geschenke zu schicken, reichte nicht aus. Der Junge hatte nie verstanden, warum sein eigener Vater sich nicht nur mit materiellen Gütern um sie kümmern konnte. Jetzt wusste er warum. Materialists waren so. Das war einfacher Fakt, von Kronos bestimmt. Absolems Stimme ging in kurzen Abständen, brüchig. „Lión…“ Die sonst glühenden Augen seines Sohnes blieben kalt und direkt auf den alten Mann gerichtet, mit einem Blick scharf wie das verfolgende und tödliche Mustern eines Löwen, der sein nächstes Opfer ins Auge gefasst hatte. Absolem
spürte, dass sich sein Junge mächtiger und stärker fühlte als sein Erzeuger, und das obwohl er derjenige hinter Gittern war. Lion lag richtig. Schließlich war Absolem zu schwach gewesen, hatte sich dem Zug Kronos nicht entziehen können, anstatt sich für seine Familie zu entscheiden. Die beiden starrten sich weitere Momente weiter an, bis es dem Hunter zu viel wurde und der dem Jüngeren einen kräftigen Schlag in die mageren Rippen versetzte. „Geh weiter, Junge! Vergiss Vater Staat und Mutter Kirche nicht, Absolem. Ein Sinner bleibt ein Sinner. Aber ein Materialist braucht kein Materialist zu bleiben.“ Diese Worte waren eindeutig, sie trieben
Absolem wieder in die weiß geformte Gedankenwelt geschaffen von Kronos selbst. Doch heute war es so, als würde das weiße Licht nicht ganz so stark auf ihn herab scheinen, ein dunkler Schatten legte sich allmählich auf ihn wie ein erlösendes Leichentuch. Schwarz war die Trauer, der Tod, das Nichts. Keine Farbe für den Anhänger der Kronos-Kirche.
Absolem legte sich das Geschirr zurecht, sein gesamter Körper zitterte. Warum musste Lión ein Ebenbild seiner selbst sein? Und wie war es ihm möglich die Schuld mit einem einzigen Blick seiner Mutter, der einzigen Frau, die Absolem je geliebt hatte, in Absolem zu treiben? Er hatte sich doch immer nur das Beste
für sie und den gemeinsamen Sohn gewünscht. Seine Hand massierte die Schläfen. Er versuchte sich wieder zu konzentrieren. In seinem Innern regierte das Chaos, zwei Streitmächte gingen aufeinander los, hinterließen nichts anderes als eine Spur von Verwüstung. Doch seine Hände arbeiteten an der Lösung, die den Sinnern gespritzt werden sollte. Er war Profi. Ein gewisser Automatismus erlaubte ihm perfekt zu agieren. Fehler unterliefen ihm schon lange nicht mehr. Ein leicht bläuliches Glühen ging durch die Flüssigkeit. Blau wie das Wasser, das Pflanzen wie Blut in ihren Adern führten. In der Flüssigkeit generierte
sich allmählich die Picroroboter. Ein weißes Licht funkte auf, als sie nacheinander bereit für den Einsatz waren. Die Spritze zog die Lösung genüsslich in ihr Inneres. Bedrohlich schwappte das Gift hin und her und jeder einzelne Schritt Absolems glich einem ausgesprochenen Todesurteil. Das Sinnergesindel wimmerte, schrie, schlug gegen die Metallstäbe, die einst die Knochen ihrer Kameraden waren, stießen Gebete gen Himmel, in den verpesteten, in dem es keinen anderen gab als Kronos. Sein Blick wanderte zwischen den 13 Unglücklichen hin und her. Normalerweise blickte er keines seiner Objekte an. Normalerweise nahm er sich
nicht so viel Zeit, um sich ein Opfer zu suchen. Normalerweise hatte er keine Reihenfolge mit wem er anfangen wollte. Normalerweise. Heute war die Routine routiniert und doch von seinen Gefühlen, die in seinem Innern längst verstaubt waren. Er griff sich einen Mann, ungefähr in seinem Alter, fixierte aber seinen Sohn. Er wusste nicht genau, was er damit bezwecken wollte. Ob er seinen Sohn retten wollte? Er wusste es nicht. Ob er doch nur 12 Sinner schaffte? Er wusste es nicht. Er wusste nur: Lion war heute als Letzter dran. Was das auch immer heißen möge.
Schmerz. Ein Ausdruck, den Absolem schon ewig kannte. Er hatte selbst zu
spüren bekommen, als ihn seine Geliebte und ihr ungeborenes Kind verließen. Er hatte es in den abertausenden von anonymen Niemanden gesehen. Er hatte den Schmerz tausende Male gehört. Er war den Schmerz gewöhnt. Der Schmerz war ein Teil von ihm. Doch heute hatte er auf eine absurde Art und Weise Angst vor dem Schmerz… Was würde er tun, wenn sein Sohn vor ihm liegen würde? Sich vor Schmerzen krümmen würde? Und was sollte er tun, wenn Lión nicht den physischen Schmerz offenbarte, sondern den psychischen? Was war dann noch Vergebung für die Untaten seines Sohnes, der mit seinen 22 Jahren zehn Jahre büßen müsste bis er letztendlich
qualvoll verenden würde? Konnte Absolem dann selbst noch um Vergebung bitten, als ein Vater, der seinen Sohn auf dem Gewissen hatte? Er schüttelte den Kopf. Der Materialist wusste, dass er dieses Chaos aus Fragen abschütteln musste. Sie hielten ihn nur von der Arbeit ab. Im Käfig hinter seinem Rücken regte sich etwas. Die Insassen drückten sich panisch, angsterfüllt gegen die Gitterstäbe, die auf der anderen Seite wie ein Jerusalem erschienen. Nur Lión saß seinem Vater direkt im Rücken, hatten die Hände, die mit Handschellen aneinandergebunden waren, an das kalte Eisen gelehnt und schaute seinem Vater dabei zu, wie er den sich krümmenden
Mann in eine sauerstofffördernde Haltung formte, indem er ihm sämtliche Knochen brach. Belustigt sah er weiter dem Treiben Absolem zu. „Macht es Spaß sein Geld zu verdienen, indem man Menschen verkrüppelt? Dann könnte ich sicherlich ein ebenso toller Materialist werden… Also wenn ich meine Flamme denn verlassen wollte!“ Absolem ignorierte die Zurufe seines Sohnes. Ihm wurden schon schlimmere Sachen an den Kopf geworfen, auch wenn er es als verletzend empfand, dass sein Sohn noch immer auf diesem Thema herumritt. „Fragst du dich denn überhaupt nicht, wie dein geliebter Sohn vom Menschen zum Sinner degradiert werden konnte?“
Der Junge imitierte amüsiert das Gequengel eines Kleinkindes, was der Gesamtsituation eine merkwürdig verworrene und widersprüchliche Atmosphäre verlieh. Es war ungewöhnlich, dass ein Sinner sich mit seinem Henker unterhielt. Die anderen Materialists der Kronos-Tech. Abteilung O. schauten misstrauisch zu Vater und Sohn. Absolem spürte die Blicke. Ignoranz war da die beste Verteidigung, das beste Schild, die beste Waffe dagegen. Er arbeitete weiter: Hielt den Gurt, der die zu verarbeitenden Menschen auf dem Sessel hielt, der verhinderte, dass sie einer instinktiven „Fight or Flight“ Reaction unterliegen
konnten, fest verschlossen. Prüfte deren Vitalitätszeichen, Atem, Augenpartien, Herzfunktionalität. Was war ein verarbeiteter Sinner der Abteilung O. schon wert, wenn er zu tot war, um Sauerstoff zu produzieren. Die Picroroboter waren viel zu wertvoll als dass man sie an Tote verschwendete. Doch es gab genug andere Möglichkeiten den Verschiedenen der weißen Gesellschaft und Kronos zu dienen. Die Kirche war da unendlich bewandert, ließ da keine Möglichkeit aus. Wasser war für die Mutierenden essentiell. Absolem mischte der glasklaren Flüssigkeit notwendige Nährstoffe bei, bis er das Gemisch schließlich großzügig über den
Körper des Mannes schüttete und kurz einmassierte, um die Absorptionsfähigkeit anzuregen. Begleitet wurden die Sauerstoffmonstererhaltungsaufgaben von ohrenbetäubenden Geschrei, schmerzerfülltem Gestöhne, leisem Gewimmer und irrem Gelächter seitens Lión. Es war eine bizarre Situation für den Materialist. „Bist du sicher, dass du das richtig machst, alter Mann?“ Ein Seufzen ging durch Absolem. War dieses Unikum wirklich sein Sohn? Aber wenn er dem Jungen in die Augen schaute, war er sich sicher. Er konnte sie ganz deutlich erkennen. Eigentlich wollte er gar nicht so genau wissen, was sein
eigen Fleisch und Blut verbrochen hatte. Wer wollte sein Kind schon in Ketten mit rotbefleckten, schuldbelasteten Händen sehen? Doch Kronos wollte alles wissen. Jeder wurde durchleuchtet. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind. Absolem wusste, dass Sinner der Abteilung O. an weniger schweren Delikten beteiligt waren. Leichte Körperverletzung, Diebstahl, Betrug. Die Sünder dieser Abteilung waren nicht sonderlich gefährlich. Erleichterung machte sich in seiner Brust breit, nachdem er den Sinners-Antrag der Hunter über Lión überflogen hatte. „Was ist, alter Mann? Schon Angst gehabt, dass aus deinen ehrenwerten Materialistgenen ein Mörder
entstanden ist?“ Sein schallendes Lachen erfüllte den kahlen, metzgerweißen Raum, der vollgestopft mit abertausenden Laborartikeln war. Injektionsgeräte lagen hier zu Hauf, bildeten eine bedrohliche Armee, die nur darauf wartete sich in ihren Feind, den Sünder, zu bohren.
Erschrocken las Absolem nochmals die Zeile durch: Mutter-Pandora. Vater-? Der Kopf drehte sich wie mechanisch zu Lión, wobei die Hände in ihrem schier überlegenen Automatismus munter an der nächsten Lösung arbeiteten. Pandora wusste doch, wer der Vater ihres Sohnes war. Das war niemals ein Geheimnis gewesen. Lión schien zu wissen, weshalb
der Ergraute so verwirrt war. „Ich hatte nie einen richtigen Vater gehabt, also warum den Spermaspender auf dem Frageformular, das eindeutig beweist, wie allwissend Kronos wirklich ist, erwähnen? Und deine bescheidenen Almosen haben bei Weitem nicht gereicht. Mal abgesehen davon, dass wir die gar nicht wollten. Ich musste Mutter und mir alles selbst besorgen. Also steck dir deine entsetzte Fratze sonst wohin.“ Erschütterung machte sich in dem biologischen Vater Lións breit, ein leichtes Zittern ging durch jede einzelne Faser und hinterließ ein unbekanntes, unheimliches und vor allem ein hilfloses, taubes Gefühl. Würde
Ablenkung ihm aus diesem schwarzen Wirbel der fremden Machtlosigkeit helfen? Absolem hoffte es sehr. Der Mann, der bisher auf der Liege ausgeharrt hatte, hatte eine grünliche Farbe angenommen und verströmte bereits eine frische Brise. Mit einem gewaltigen Ruck beförderte Absolem ihn in eine bereit gestellte Kapsel. Dort würde er vorerst mit essentiellen Nährstoffen versorgt werden, bald schon würde er einsatzfähig sein. Absolem schaute auf die Uhr. Es war als arbeiteten seine Hände schneller als gewöhnlich. Das Hunterdasein war in erreichbarer Distanz. Wie lange hatte er sich schon danach gesehnt? Teilnahmslos
griff er sich einen kleinen Jungen aus dem Käfig, der verzweifelt von seiner Mutter umklammert wurde. Ihr herzzerreißender Schrei und ihr wimmerndes Bitten erreichten sein Herz nicht. Es war von Kronos überschattet.
Das Kind weinte, krallte sich mit Leibeskräften an seine Mutter. Gerechtigkeit nannte das System das. In seiner Akte stand mehrmaliger Diebstahl. In diesem jungen Alter. „Jetzt zeigst du also endlich dein wahres Gesicht. Du wärst ein wirklich schrecklich guter Vater gewesen, alter Mann. Ein wirklich sehr guter!“ Aufgeheizt durch den Krawall den das Kind und seine Erzeugerin machten, brüllte Lions sich
voller Inbrunst den Sarkasmus aus dem ausgemergelten Leib und der verletzten Seele. Gereizt wirbelte sein Vater herum. „ Wie kannst du wissen, ob ich ein guter Vater für dich gewesen wäre, wenn ich noch nicht einmal die Möglichkeit hatte in deine Nähe zu kommen?! Deine Mutter wollte lieber als Verbrecher, lieber als Sinner leben, als unter Kronos zu arbeiten! Sag mir, was ist daran falsch, dass ich mir für meine Familie Wohlstand und einen vollen Magen gewünscht habe! Und überhaupt, wenn ich die Chance gehabt hätte, dein Vater zu sein, dann hätte ich niemals zugelassen, dass du Leute bestiehlst!! Also was bitte, habe ich falsch gemacht,
dass du mich derart verabscheust! Sag es mir! Na los!!!“ Die Luft zog scharf durch seine Lungen. Ein Keuchen verriet Lión, dass sein biologischer Vater schon lange nicht mehr derart entgleist war. Gefühlsausbrüche oder gar Geschrei war unter den Anhängern Kronos nicht weit verbreitet. Wut, Zorn, Eifersucht, Mordlust waren verpönte Eigenschaften. Kronos lehrte Liebe, lehrte Geduld, lehrte sogenannte Weisheit. Irgendwie gefiel es Lión wie sein Vater nach ein paar kleinen Provokationen bereits die Fassung verlor. Es zeigte ihm, dass Absolem das Thema die ganze Zeit gewurmt hatte. Dennoch war dort eine tiefe Wut in Lións Herzen vergraben,
tief verwurzelt. So einfach würde er seinem Vater sicher nicht verzeihen. Nicht nach einem kleinen unbedeutenden schlechten Gewissen. „Du fragst mich ernsthaft, was du falsch gemacht hast? Mich, den du regelrecht verstoßen hast?! Aber weißt du was? Du hast Glück! Ich kanns dir nämlich sagen! Alles! Du hast alles falsch gemacht! Wie konntest du nur deine Freundin, die ihr ungeborenes Kind unterm Herzen trug, im Stich lassen, nur um einem albernen Traum, nein, Hirngespinst hinterherzujagen?! Weißt du eigentlich mit was für einem Verständnis von Liebe ich aufgewachsen bin? Ich war verbittert, darüber, dass mein Vater mich einfach so verlassen
hatte und mir jeden neuen, weiteren Geburtstag Geschenke und Geld schickte, als wollte er damit angeben und provozieren, wie viel Geld er jetzt hatte. Jetzt, wo er sich nicht mehr um sein uneheliches Kind kümmern musste! Weißt du, wie verletzt ich mich gefühlt habe? Und Mutter erst! Ich habe Elend, Armut und Leid in diesen jungen Jahren gesehen. Aber wenigstens haben die Bewohner von Sinners Land zusammengehalten. Wenigstens hatten sie einander und haben sich gegenseitig unterstützt. Das Leid hat Familien zusammengeschweißt. So hat es sich vor meinen Augen abgespielt. Doch meine Familie hat ein einziger Mann grausam
in zwei blutige Hälften auseinandergerissen: Es war mein eigener Vater. Wie denkst du hab ich mich da als Kind gefühlt? Ohne meine Mutter wäre ich schon lange nicht mehr hier. Aber du, „Vater“: Du hast mit meinem Leben nichts zu tun. Abgesehen davon, dass ich von dir dein feiges Y-Chromosom geerbt habe, und Megaira noch nicht einmal-“ Er brach mitten im Satz ab und verstummte, während er sich auf die trockenen Lippen biss. In seinen Augen spiegelten sich Scheu, Angst, Verzweiflung, Wut und Selbstzweifel wieder. Wie eine grausame, lethale Suppe wirbelte sie in seinem Innersten umher. Sein Vater hatte stumm seinem
Kind zugehört und kurzzeitig mit der Arbeit aufgehört. Er schwieg. Dann ging er einen Schritt auf die Sinners Lounge zu und hockte sich direkt vor seinen Sohn. „Wer ist Megaira? Und was hat sie mit meinen Genen zu tun?“ Der junge Mann schwieg und drehte sich mit dem Gesicht von dem Materialist fort. Absolem seufzte. Vielleicht war es erst einmal besser die Stimmung abkühlen lassen.
Er fuhr mit seiner Arbeit fort und blendete alles in der Umgebung aus. Spritzen, festhalten, einölen, Vitalfunktionen überprüfen. Er arbeitete 8 Stunden am Tag, ohne Pause. Schaffte in 40 Minuten ein Sauerstoffungetüm.
Das hieß es waren immer genau 12 Sinner, die er täglich verarbeitete. Doch heute war ihm so, als befände er sich in einem Vakuum der Zeit. Obwohl er sich mit seinem Sohn mehr oder weniger unterhalten hatte, waren noch nicht mal 70 Minuten vergangen. 2 waren bereits verarbeitet. 11 fehlten noch. Er konnte aber nicht langsamer arbeiten. Reiner Gewohnheitstrieb. Es schien, als wollte Kronos, dass er seinen Sohn in ein zwischenmenschliches Lebewesen verwandelte. Irgendetwas stimmte heute überhaupt nicht mit seiner Arbeitsweise.
Warum war es ihm heute so, als würde sein gesamter Körper rebellieren? Er hatte als Materialist, als Techniker unter
der schützenden Hand Kronos, nie eine sonderlich harte oder schwere Arbeit verrichtet. In seinem Job ging es um Präzision und Perfektion. Und die hatte der ergraute Mann bereits inne. Also warum schmerzten seine gesamten Glieder, als wollten sie ihn in die Knie zwingen? Als wollten sie ihn lähmen und ihn nie wieder aus dieser metzgerweißen Hölle entkommen lassen? Gleichzeitig arbeiteten die Hände dermaßen schnell, als konnten sie es kaum erwarten die freie Arbeit eines Hunters zu verrichten.
Chaos regierte in seinem Kopf, zum ersten Mal seit langem sprudelte frisches, erregtes Blut durch Absolems Adern. Er fühlte sich lebendig, doch
gleichzeitig müde und schwer. Es war seine Pflicht als Vater seinen Sohn zu beschützen. Doch hob sich diese Pflicht auf, wenn das eigene Kind den Vater abstößt, sodass dieser seiner Schutzfunktion nicht nachkommen kann? Es war seine Pflicht als Materialist im Dienste Kronos alle Sinner zu befreien und ihnen eine neue Aufgabe zu schenken. Aber was war, wenn er zum ersten Mal einen Widerwillen gegen das System hegte und seine Familie nicht ein zweites Mal verraten wollte? Wie auch immer, es war ihm nicht möglich seinen Körper darin zu hindern Kronos zu dienen. Es geschah einfach.
Der programmierte Automatismus und
die vollkommene Perfektion hatten bereits die Hälfte der Sünder verschlungen, während die Zeit nach Absolems Empfindung in Slow-Motion voranschritt. Sie waren alle Gefangene der Zeit. Doch erst jetzt hatte Absolem die Qual, die dahinter steckte, verstanden. Er linste unauffällig zu seinem Sohn, der seit einiger Zeit keinen einzigen Ton mehr von sich gegeben hatte. Lion saß in der Ecke direkt zu Absolems Rücken gewandt, schlafend. Wahrscheinlich erschöpft vom Kampf mit den Huntern. Ein Arm lugte aus dem Käfig hervor, als versuchte er nach dem Vater zu greifen. Vielleicht bildete es sich Absolem nur ein, doch es schien
ihm, als suchte Lión im Momente seines Urteils noch einmal die Nähe zu seinem vergessenen Vater, der ihn vor Jahren verlassen hatte, um für ihn zu sorgen. Das Gesicht des jungen Mannes war geglättet, sanft im Schlafe versunken. Dennoch hatte Lión den stolzen, starken Ausdruck beibehalten, und das obwohl seine alles durchbrechenden Augen verschlossen waren. Absolem musste sich augenblicklich auf die stummen Lippen beißen, gleichzeitig allerdings schlich sich ein liebevolles, fast väterliches Lächeln auf sein Gesicht. Er war froh, dass Pandora trotz ihrer Trennung seinen Namensvorschlag für den löwenstarken Jungen angenommen hatte und ihm
dadurch gezeigt hatte, dass sie noch was auf ihn hielt. Und wenn es nur ein winziges bisschen war.
„Lión! Steh auf!“ Er umgriff den Arm des Jungen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen oder sich zu wehren, stand er auf. Mit erhobenem Haupt bestieg er die Liege, die starken leuchtenden Augen auf seinen Vater gerichtet. Langsam und behutsam legte er sich hin und ließ sich ohne Widerwillen angurten. Absolem blickte auf die Uhr. Es war noch mehr als eine Stunde Zeit, um seinen Sohn zu verarbeiten. Er schluckte. Dann griff er zu den Chemikalien, um die giftige Lösung vorzubereiten. Das blaue Blut der Pflanzen glimmte auf, als Absolem
es in seiner Spritze aufzog. Mit dem Henkersgerät trat er an die Liege, die verhasste, heran. „Hast du…“, Absolem brachte es fast nicht übers Herz es auszusprechen. „… noch irgendwelche letzten Worte… Sohn?“ Mit einem frechen, provozierenden Grinsen sagte er: „Jetzt wo du deinem ollen Hirngespinst so nah bist, kann ichs dir ja sagen: Wenigstens hatte ich einen Grund zu sterben.“ Es lag ein merkwürdiges Leuchten in Lións Blick. Eigentlich wollte Absolem das alles hier schnell über die Bühne bringen, doch igendetwas hielt ihn davon ab. Es entglitt ihm ein Seufzen. Er beugte sich zu Lión und senkte die Spritze. „Also gut, Lión.
Heißt dein Grund zu sterben vielleicht Megaira?“ Wütend spukte der junge Mann seinem Vater ins Gesicht. „Nimm ihren Namen nicht in deine dreckige Fresse, die einer falschen Wahrheit und Gerechtigkeit an den Lippen hängt! Und wieso sollte ich dir das überhaupt erzählen? Willst du mir das auch noch nehmen?-“ „Was bitte soll ich dir genommen haben? Ich habe dir im Gegenteil das Leben geschenkt und Geld zukommen lassen!“, entrüstete sich der Ältere. „Alterchen, wirst du schon senil? Meine Kindheit und Jugend? Meinen Vater? Und überhaupt: Selbst wenn du mir das Leben geschenkt hast, bist du gerade im Begriff es mir wieder zu
nehmen!!!“ Wieso glaubten eigentlich alle Sinner, dass sie direkt starben, wenn man zur O2-Maschine umfunktioniert wurden? Nur knapp 20% Lethalität bestand, einige Sinner verendeten an den Schmerzen der Umwandlung. „Ich kann das hier ewig lang hinziehen, also erzähl deinem alten Mann endlich was Sache ist!“ Aufbrausend war Absolem eigentlich nie gewesen. Aber er hatte nicht das Gefühl, dass er an seinen Sohn mit ruhigen Worten herankam. Stumm und stillschweigend tauschten die beiden einige Augenblicke vielsagende und erzürnte Blicke aus. Absolem hob drohend seine Spritze. Schließlich gab Lión nach und zischte unter dem
enggezogenen Anschnallgurt hervor: „Sie ist meine Kindheitsfreundin. Wir wollten bald heiraten. Aber sie hat irgendwann das Transportgerät eines Hunters zerlegt, aus Zorn darüber, dass man einige ihrer Leute aus nächster Umgebung verschleppt hatte.“ Absolem nickte. Sein Sohn hatte also ein Mädchen gefunden. Trotz seines Stolzes über seinen Erfolg, hörte er weiter stillschweigend zu, um mehr in Erfahrung zu bringen. Schließlich war es selten, dass Vater und Sohn sich so „friedlich“ unterhielten. „Und was hat das nun mit meinen „feigen“ Genen zu tun?“, wollte der Materialist wissen. „Na, sie wurde halt mitgenommen und gestern verarbeitet.“
Langsam regte sich in Absolem ein dunkler Verdacht. „Ich habe mich in der Nacht ins Lager geschlichen, um sie zu befreien. Aber ich, arschgesichtiger Feigling, war zu spät. Sie war schon in einer dieser Kapseln… Wenn ich doch nur früher da gewesen wäre, dann hätte ich ihr noch helfen können…!“ Er wies schmerzerfüllt mit dem Kopf in Richtung der Glaskuppeln, in denen seine Vorgänger in die Brühe eingelegt worden waren. Zum ersten Mal regte sich so etwas wie Reue und Schmerz in Lións Augen. Absolem schluckte, taumelte zurück. Hieß nicht eine junge Frau, die sich prostituiert haben soll, Megaira? Gestern hatte er also die Geliebte seines
Sohnes… Und heute musste er seinen Sohn selbst… Ihm wurde allmählich schwindelig. War das eine Prüfung der Kirche? Vielleicht hatte er doch einen Fehler gemacht und das war die himmlische Rache dafür. „Warte… Lión. Wurdest du gefangen genommen, bevor du an ihre Kapsel herangekommen bist?“ Er schüttelte den Kopf. „Erst als ich Megaira aus dem Glas geholt hatte und sie in ihrer grünen Lache neben mir lag, sind die Hunter angekommen… Reicht das jetzt an Fragerei?“ Gereizt fing Lion wieder an zu spuken. Seine Wildheit war zurückgekehrt. In Absolem drehte sich alles. Er wusste genau, dass schwere Körperverletzung und Randale zur
Abschiebung in Kronos-Tech. Abteilung H. führte, Mord zu Abteilung M. Aber vor allem gehörten Staatsverrat oder Rebellion in die Abteilung N.Der Ergraute hielt sich den Kopf. War das vielleicht eine Verwechslung? Hatte die Kirche das wirklich so vorausgeplant, dass alles zusammenführte? Oder war es eine Prüfung für jenen, der einen Schritt zum Hunter-Dasein benötigte? Wollte Kronos tatsächlich, dass Absolem seinen Sohn Lión, den Rebell und Widerstandskämpfer, der sich für seine Liebe gegen das System aufgelehnt hatte, von seinen Sünden reinwusch?
Er konnte das nicht. 20 Jahre Dienst, 20 Jahre Loyalität, 20 Jahre Determination
durch die Kirche. Alles umsonst. Wie viel Leid sollte Absolem noch erfahren? Wie konnte die Kirche, die Gerechtigkeit und Liebe predigte von ihm verlangen, dass er sein Leben mit der Verarbeitung seines eigenen Kindes gänzlich in tausend Scherben zerschmetterte? Aber noch viel wichtiger, ganz egal, wie sehr er als Vater versagt hatte: Er konnte niemals auch noch das Leben seines einzigen Sohnes zerstören. Eltern lag die Bestimmung des Schutzes in den Händen. Die Kronos-Regierung schien wohl ein fruchtloser Verband aus alten Männern zu sein, die davon nichts wussten.
„Lión… Es tut mir leid… Ich…“, seine Stimme versagte. Beschämt legte er sich
eine Hand auf die Stirn. Er brauchte auch gar nicht weiterzureden. Lión wusste schon, was sein Vater ihm sagen wollte. Heiße Tränen sammelten sich in den sonst so feurigen Augen des Sohnes. Die salzigen Fluten raubten seinem innern Feuer die Wildheit. Absolem konnte seinen Blick nicht von ihm abwenden. „Du Schwein! Du mieses Schwein!!! Ich bring dich um! Ich bring dich sowas von um!!!“ Lións krächziges Geschrei war grauenerregend wie das über die verdörrten Ebenen hallende Gebrüll eines mächtigen Löwen. Es war Absolem ein Graus. Er fühlte sich wie in seine Vergangenheit versetzt. Pandoras Tränen. Pandoras Blick. Pandoras
Schrei. Es waren dieselben. Es wiederholte sich alles. Aber Absolem würde sich heute nicht gegen seine Familie stellen. Verzweifelt warf er das gesamte vorbereitete Lösungsmittel zu Boden. Er wollte seinen Sohn nicht schreien hören. Glas zersplitterte, sein Blut regnete auf den Boden, den metzgerweißen, herab. Er trat, schlug gegen die Kapseln seiner vorherigen Opfer wie die Sinner selbst. Die nährende Flüssigkeit trat aus, die O2-Monster fielen aus den Kuppeln. Grün mit Blau mit Rot. Alles vermischte sich zu einem dunklen Etwas. Das Weiß Kronos verschmutzt. Absolem schrie den ganzen Schmerz der letzten Jahre heraus.
Das konnte nicht wahr sein. Es durfte einfach nicht wahr sein.
Wachen kamen hereingestürzt, als Absolem dabei war seinen Sohn vom Gurt zu befreien. Jetzt wusste er wie sich die Sinner fühlten, die man brutal und erbarmungslos gefangen nahm. Sie hielten ihn fest und verfrachteten ihn in eine weiß ausgeleuchtete Kammer, die so grell war, dass man beinahe erblindete. Man degradierte ihn, nahm ihm sein Glaubensrecht und damit das Recht unter der Kronos-Kirche zu leben. Die Regierung nahm sich ihm persönlich an. Es wurde „gerichtlich“ über ihn verhandelt. Ihm wurden Dutzende
Delikte, die er niemals begangen hatte, angelastet. Aber vor allem warf man ihm Staatsverrat höchsten Grades vor. Ein Materialist verriet nicht. Ein Materialist arbeitete. Seine Strafe: Verarbeitung. Er rechnete damit Nahrung für die weißen Menschen der Kirche zu werden, doch dem war nicht so. Abteilung O. hieß es, sollte sich seiner annehmen. Ein weiterer Akt grenzenloser Logik seitens Kronos. Doch nicht, dass die Demütigung gerade in der Abteilung, in der er jahrelang zuverlässig gearbeitet, mitgewirkt und gelebt hatte, nicht genug war: Lión wurde ebenfalls zur gleichen Zeit wie Absolem verarbeitet. Doch kein einziger Schrei des Vaters seinem Sohn Gnade zu
schenken, erreichte das Herz eines einzigen Materialist. Lión hatte schon aufgegeben. In einer Reihe standen sie nun mitten auf dem Hauptplatz. Vater, Sohn, Freundin. So nah und doch so fern. Absolem hatte jetzt verstanden, was Gerechtigkeit für Kronos war. Er hatte verstanden, dass diese Gerechtigkeit relativ war. Gerechtigkeit hieß einen Sinner entsprechend seiner Vergangenheit zu demütigen, zu entwürdigen. Und vor allem zu entmenschlichen. Gerechtigkeit für den Zweck. Gerechtigkeit mit allen Mitteln. Er wünschte sich, dass er niemals der Wahrheit Kronos Glauben geschenkt hätte. Dass er Pandora niemals verlassen
hätte. Dass er seinen Sohn niemals verstoßen hätte. Dass er niemals das Blut jener menschlichen Wesen, die als Sinner weniger als Rohstoffe gegolten hatten, an den Händen kleben gehabt hätte. Er wünschte, er hatte niemals all diese Fehler begangen.
Er blickte zu Lión. Hinter dem matten Glas war sein erloschener Blick noch viel trüber. Er schwamm wie schwerelos in der grünen Brühe, wie ein gefallener Engel hatte er den einstigen stolzen Kopf gesenkt, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Er war ein Löwe, dem man Zähne und Klauen gestohlen hatte. Sein Anblick war demütigend und erfüllte Absolem mit tiefster Trauer. Er
wollte seinen Sohn nicht mehr so sehen, doch er konnte nichts gegen das Verlangen, die Sehnsucht in seinen Innern unternehmen. Sein Wunsch war es ihn zu befreien. Doch er war selbst ein Gefangener der Abteilung O. Er war gefangen hinter dem Glas, in den Ketten seiner eigenen Schuld. Es sah für ihn so aus, als könnte er mit der bloßen Hand den Jungen berühren. Doch in Wirklichkeit befanden sich Lichtjahre zwischen ihnen. Er würde nimmermehr Mensch sein und sein Schicksal in die Hand nehmen können. Es füllte ihn mit Melancholie. Er bereute es als Materialist gegen die Natur anstatt mit ihr gearbeitet zu haben. Denn jetzt
wusste er, wie hilflos und machtlos eine einsame, verkümmerte Pflanze sich im Sinners Land fühlte, nicht imstande etwas gegen den Untergang ihrer Art tun zu können.
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