13. Kapitel
Am Nachmittag fuhr ich noch einmal in Oxford vorbei. Dad war wach und sah schon etwas besser aus als noch am Morgen. Er würde eine Woche im Krankenhaus bleiben müssen, sagten die Ärzte. Dad gefiel das gar nicht. Aber ich beruhigte ihn und meinte, er sollte es als eine Art kleinen Urlaub betrachten. Hier wurde er schließlich von vorne bis hinten bedient, bekam das Essen ans Bett gebracht, das Zimmer wurde geputzt und er konnte so viel schlafen wie es wollte. Das pure Paradies.
„Und du kommst auch wirklich allein zurecht?“, fragte er bevor ich mich am
Abend von ihm verabschiedete. Ich nickte. „Dad, ich bin beinahe zwanzig. Ich weiß wie man Wäsche wäscht, Essen kocht und sauber macht.“ Er schmunzelte. „Du bist so erwachsen geworden. Ich bin stolz auf dich.“
Zum Abendessen verabredete ich mich mit Beth und Cora. Ich fuhr an der RDA vorbei und holte sie ab. Dann suchten wir uns einen Platz beim Chinesen. Die beiden saßen mir gegenüber, während Dawson neben mir platz nahm. Er hatte darauf bestanden, mitzukommen. Mir war bei dem Gedanken zwar etwas mulmig in der Magengegend, aber es freute mich auch ein bisschen, dass er bei mir sein wollte. Allerdings nahm ich ihm vorher
das Versprechen ab, keinen Ton von sich zu geben. Ich konnte nicht riskieren, dass meine Freundinnen merkten, dass etwas nicht stimmte.
„Wie geht es deinem Dad?“, fragte Cora als wir die Speisekarten überflogen. „Und wie geht’s dir?“, fügte Beth hinzu. Ich brachte sie auf den neusten Stand und begann von Neuem, die Karte zu studieren. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Dawson sehnsüchtige Blicke in meine Richtung, oder viel mehr in die der Speisekarte, warf. Ich grinste. Der arme Kerl! Die Kellnerin kam vorbei. „Nummer siebzehn bitte“, bestellte ich und reichte ihr die Karte. Mein Blick wanderte zurück zu meinen Freundinnen,
die mich kritisch musterten. Ich zog die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf schief. „Was ist?“ Sie sahen sich einmal kurz an und grinsten dann bis über beide Ohren. „Was?“, wiederholte ich genervt.
„Wer ist er?“, verlangte Beth zu wissen. Verständnislos sah ich sie an. „Wer ist wer?“ Cora seufzte. „Spiel hier nicht die Unwissende. Deine Augen strahlen und du hast so ein verdammt glückliches Lächeln im Gesicht. Du erinnerst mich an Beth, wenn sie an Carson denkt.“ Beth knuffte sie in die Seite und sagte dann zu mir: „Ich würde sagen, du erinnerst mich eher an Cora. Seit sie diesen Raffael kennengelernt hat, lächelt sie so verklärt
wie du es tust“, sagte sie. „Hey!“, beschwerte sich Cora. Ich rollte mit den Augen. Dawson warf mir neugierige Blicke zu. Sofort stieg mir eine leichte Röte in die Wangen. Bitte nicht! „Könnten wir uns darauf einigen, dass ihr beide den gleichen Ausdruck habt, wenn ihr an eure Typen denkt?“, schlug ich vor. „Aber nur, wenn du zugibst, dass du auch so guckst“, verlangte Cora. Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Weil es nicht stimmt. Ich habe niemanden kennengelernt“, blockte ich ab. Was sollte ich ihnen denn auch erzählen? Ich habe den heutigen Tag damit verbracht, mit einem Kerl zu knutschen, den nur ich sehen kann?
Außerdem sitzt eben dieser gerade neben mir, deshalb möchte ich nicht über ihn sprechen? Ganz sicher nicht!
„Du hast niemanden kennengelernt, okay. Also kennst du ihn schon länger“, mutmaßte Beth. „Geht er auch auf die RDA?“ Cora platzte dazwischen: „Ist es einer von uns!? Lewis, Orlando oder sogar Linus?“ Abermals verdrehte ich die Augen. „Mein Dad hatte gerade erst einen Herzinfarkt“, begann ich, wurde aber sofort wieder von Cora unterbrochen: „Da ist es nicht verwerflich, dass du dich von einem starken gutaussehenden Mann trösten lässt.“ Ich stöhnte. Dawson stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte
seinen Kopf darauf. Nachdenklich verzog er das Gesicht und musterte mich. Was er jetzt wohl denkt?, fragte ich mich.
Coras letzter Satz brachte mich zum Grübeln. Hatte ich Dawson heute nur geküsst, weil ich Trost gesucht hatte und er eben zufällig dagewesen war? Auszuschließen war es nicht. Aber ich wollte nicht so von mir denken. Noch nie hatte ich mich derart gehen lassen und mich einem Mann regelrecht an den Hals geworfen. Dafür musste es einen anderen Grund als bloße Traurigkeit geben!
Empfand ich etwas für Dawson? Nun, das wollte ich mir noch weniger eingestehen. Er war noch immer der Dawson, der mir seit ich ihn kennengelernt hatte, das
Leben schwer machte. Und dennoch... irgendetwas hatte sich verändert. Seit Mittwoch war etwas anders. Er war anders! „Du tust es schon wieder! Du grinst wie ein Honigkuchenpferd“, durchbrach Beth meine Gedanken. Beschämt senkte ich den Blick. Das war mir gar nicht aufgefallen. Und es gab auch überhaupt keinen Grund dafür! Schnell zwang ich meine Mundwinkel nach unten.
„Ist doch nicht schlimm“, meinte Cora mitfühlend. „Und es ist auch ok, wenn du uns noch nichts verraten möchtest. Wenn du reden willst, sind wir für dich da.“ „Und wenn du dir unsicher bist, ob er genauso empfindet wie du, dann rede mit
ihm, du hast gesehen zu welchen Missverständnissen das bei Carson und mir geführt hat. Wenn es wirklich einer von uns ist, MUSST du mit ihm reden“, sagte Beth eindringlich. „Ich empfinde nichts für ihn!“, brauste ich auf und bemerkte viel zu spät, dass ich mich mit diesem unüberlegten Satz verraten hatte. Beide sahen mich wissend und triumphierend an.
Unsicher flackerte mein Blick zu Dawson. Er durchbohrte mich mit seinen Blicken und schüttelte wütend den Kopf. Was war denn jetzt plötzlich los? Vermutlich war er sauer auf mich, oder auf sich selbst, weil er vermutete, dass ich mich in ihn verliebt hätte. Sicher
wollte er einfach nur die Tatsache ausnutzen, dass ich das einzige Mädchen weit und breit war, dass ihn sehen und BERÜHREN konnte. Für einen Mann wie ihn war es bestimmt frustrierend auf Dauer keine Frau küssen oder anfassen zu können. Wütend starrte ich zurück. Stumm forderte ich ihn auf zu gehen. Es war ein Fehler gewesen, ihn mitgenommen zu haben.
Bedächtig nickte er. „Okay ich verschwinde. Wir unterhalten uns später!“, sagte er. Es klang wie eine Drohung. Super!
Recht bald verabschiedete ich mich von Cora und Beth. Ich wollte das Unausweichliche nicht länger als nötig
hinauszögern. Dawson wartete, in dem alten Schaukelstuhl sitzend, auf unserer Veranda. Seine Miene war ernst und undurchdringlich, seine Stimmung schwer einzuschätzen.
„Hi, ist dir nicht kalt? Es ist Winter und du sitzt hier nur in dünnem Hemd“, versuchte ich die düstere Stimmung etwas aufzulockern. Dawson lachte grimmig auf. „Ich mag keine Spielchen Mira“, sagte er leise. Sofort verflog mein Lächeln. Er nannte mich Mira und nicht Prinzessin. Es musste ihm also sehr ernst sein.
Betreten senkte ich den Blick und starrte auf meine Schuhe. Die Kälte ließ mich zittern. „Ist dir kalt? Lass uns rein
gehen“, schlug Dawson vor. Ein Anflug von Sorge huschte über sein Gesicht.
Mit einer heißen Tasse Tee in den Händen setzte ich mich ihm gegenüber an den Küchentisch. Abwartend sah ich ihn an. Er blieb stumm. „Was ist los mit dir?“, hakte ich nach, als ich die Stille nicht länger ertrug.
„Ich habe wirklich etwas anderes von dir erwartet“, sagte Dawson resignierend. „Du schienst nicht eine der Frauen zu sein, die sich jedem x-beliebigem Mann an den Hals wirft. Du hattest noch nie eine Beziehung. Dir war dein Traum, Tänzerin zu werden, immer wichtiger.
Von Anfang an haben wir uns ständig gestritten, uns gegenseitig regelrecht
verabscheut. Aber plötzlich hast du mich so angesehen und dich bei mir ausgeweint. Ich wusste anfangs nicht, was ich davon halten soll. Dann hast du mich beleidigt und fort geschickt. Als das mit deinem Dad passiert ist, habe ich gespürt, dass du mich brauchst. Ich bin zurück gekommen und du schienst tatsächlich froh darüber gewesen zu sein, dass ich da war.“ Seine Stimme klang rau und bedrückt. „Ich bin froh darüber, dass du da warst“, bekräftigte ich. Doch er warf mir nur wieder einen seiner vernichtenden Blicke zu und fuhr fort: „Du hast mich darum gebeten, dass ich mit dir in deinem Bett schlafe. Die ganze Nacht über hast du dich an mich
gekuschelt und mein Shirt umklammert, so als wolltest du nicht, dass ich verschwinde. Und dann war da dieser Kuss. Beinahe den ganzen Tag haben wir damit verbracht, auf dem Sofa miteinander rumzumachen!“ Die letzten Worte knurrte er beinahe. Ich hörte ihm aufmerksam zu, verstand nicht worauf er hinaus wollte.
„Du hast mich wieder so angesehen und ich dachte... ach ich weiß doch selber nicht was ich dachte! Aber ganz sicher nicht, dass du neben mir noch wer weiß wie viele andere hast! Was war das die letzten Stunden für dich? Ein netter Zeitvertreib? Ich sage es dir nochmal: ich mag keine Spielchen! Ich weiß zwar
kaum etwas über mich, aber eins ist sicher: Wenn ich eine Frau küsse, dann nicht ohne Grund!“
Immer wieder fuhr er sich aufbrausend durch sein Haar. Verblüfft starrte ich ihn einfach nur an, unfähig irgendetwas zu sagen. Ich ließ mir das gerade Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Ich war davon ausgegangen, dass er im Restaurant so sauer gewesen war, weil er dachte, ich hätte mich in ihn verliebt. Aber scheinbar dachte er, ich hätte Gefühle für einen anderen, oder gleich mehrere. Und das störte ihn? War er etwa eifersüchtig? Das war schlicht und einfach unmöglich! Was hatte es zu bedeuten, dass er niemals eine Frau ohne
Grund küsste? Redete er etwa von LIEBE!? Unsinn!, schalt ich mich.
„Könntest du vielleicht auch einmal was dazu sagen?“, schnaube er. Ich räusperte mich. „Was soll ich denn deiner Meinung nach dazu sagen?“, erwiderte ich trotzig. „Wie wäre es damit, dass du mir erklärst, warum du mich geküsst hast“, schlug er verächtlich vor. Ich spürte wie meine Wangen heiß wurden. Mir stieg beim bloßen Gedanken seiner Lippen auf meinen, die Hitze ins Gesicht. Mein Körper begann zu kribbeln und mein Bauch tanzte Lambada. Was sollte das denn auf einmal!? Ich schwieg, traute mich nicht, ihm zu antworten.
Er biss sich auf die Unterlippe. „Na
schön, verrätst du mir dann, von wem deine Freundinnen gesprochen haben? Wer ist es, der dich so verklärt lächeln lässt und deine Augen zum strahlen bringt? Lewis, Orlando oder Linus?“, nahm er die Worte von Cora und Beth auf. Ich stöhnte. „Sag es mir!“, verlangte er und ballte die Hände zu Fäusten. Nein, sag es ihm nicht!, rief eine laute Stimme in meinen Gedanken.
Unruhig wippte ich auf meinem Stuhl hin und her. Die Luft um mich herum schien um mindestens zehn Grad gestiegen zu sein. Ich bekam keine Luft, musste mich unbedingt bewegen. Also schob ich den Stuhl nach hinten, stolperte ziellos durch den Raum. Mein Magen, der gerade noch
so tanzwütig gewesen war, schien nun einen Freizeitpark zu besuchen und eine Runde Achterbahn nach der nächsten zu fahren.
Zwei starke Hände legten sich um meine Oberarme und zwangen mich so zum Stehenbleiben. „Könntest du damit aufhören und mir endlich meine Frage beantworten!?“, drang Dawsons raue Stimme durch den wattigen Schleier, der sich über meine Sinne gelegt hatte. Ich schluckte schwer und befahl meinem unruhigen Magen, eine Pause zu machen. Im nächsten Moment fand mein Blick seinen. Nebelgraue Augen stießen auf grasgrüne. Ich verlor mich tief in ihm, bekam keinen zusammenhängenden
Gedanken mehr zustande. Sein Blick wurde immer intensiver. Er würde mich erst in Ruhe lassen, nachdem ich ihm eine Antwort gegeben hätte. Das Blöde an der Sache war nur: ich wusste es selbst nicht!
Ein Teil, den ich tief in mir vergraben hatte, versuchte sich einen Weg an die Oberfläche zu erkämpfen. Er wurde immer und immer stärker, bis es ihm gelang, die Kontrolle über meinen Mund, meine Hände, über meinen gesamten Körper zu übernehmen. Ich erwiderte Dawsons innigen Blick, meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und ich sagte leise, beinahe flüsternd: „Du bist es, der meine Augen zum glänzen bringt,
durch den ich lächeln muss, selbst wenn mir nicht dazu zumute ist. Du lässt Flugzeuge in meinem Bauch fliegen und Bienen, Schmetterlinge und was es sonst noch alles gibt. Es gibt keinen anderen. Vor dir habe ich erst einen anderen geküsst. Peter. Aber es war scheußlich!“, gestand ich atemlos. Nachdem ich es laut ausgesprochen hatte, fühlte ich mich seltsam erleichtert und frei. Plötzlich wurde mir klar, dass das, was ich eben gesagt hatte wirklich stimmte.
Dawson veränderte mich. Er war nicht mehr der, den ich vor ein paar Monaten kennengelernt hatte. Er hatte sich verändert, genau wie ich. Und in diesem Moment wollte ich nichts sehnlicher, als
diesen unmöglichen Mann zu küssen, ihn halten und mich an ihn kuscheln.
Doch je länger er mich einfach nur stumm betrachtete, desto mehr gefror mein Herz zu Eis. Er will mich nicht. Er will mich nicht, hallte es immer wieder in meinem Kopf. Ich biss mir auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten, was mir allerdings nicht gelang. Einer Träne gelang es über meine Wange zu rollen und da Dawson mich noch immer fest in seinem Griff hatte, konnte ich sie auch nicht wegwischen.
Überrascht weiteten sich seine Augen. Dann ließ er mich endlich los. Sofort taumelte ich ein paar Schritte zurück, fort von ihm. Doch ohne zu zögern folgte
er mir und schloss die Lücke zwischen uns.
Vorsichtig strich er mit seinem Daumen über meine Wange. Dabei unterbrach er nicht eine Sekunde lang unseren Blickkontakt. Ich wollte die Augen abwenden, doch nun legte er auch die zweite Hand an meine andere Wange. Sanft zog er mein Gesicht dichter an seines heran. Seine Lippen berührten meine erhitzte Wange. Er folgte der Spur, die meine Träne gezogen hatte, bis er schließlich auf meinen Mund traf. Ich schmeckte das Salz, vermischt mit diesem unwiderstehlichen Dawson-Geschmack.
Erneut versank ich in unserem Kuss. Die
Welt hörte auf sich zu drehen. Es gab nur noch Dawson und mich. Dawson, der mich nun fest an sich zog. Dawson, in dessen Haaren ich meine Finger vergrub. Dawson. Dawson. Dawson. „Du weißt gar nicht, wie glücklich du mich gerade machst!“, hauchte er zwischen zwei Küssen und schenkte mir sein strahlendstes Lächeln. Dann verdunkelte sich sein Blick und er sah mich mit ernster Miene an. Was war denn jetzt los?
„So sehr ich diese Versöhnungs-Küsse auch liebe, ich hoffe, wir müssen uns zukünftig nicht jedes Mal vorher streiten“, sagte er und verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. Ich
stimmte in sein Lachen mit ein. „Einverstanden“, pflichtete ich ihm bei, bedeckte seinen Mund erneut mit meinem und ließ die Schmetterlinge frei.