Roter Samt
11. Kapitel
Langsam steuerte er das Boot über den See. Er hatte Zeit. Erst nach Einbruch der Dunkelheit würde er das Haus betreten. Der kleine Außenbordmotor tuckerte recht laut. Deshalb musste er auf dem Rückweg die Paddel benutzen. Das Motorengeräusch würde in der nächtlichen Stille über den See schallen und die Aufmerksamkeit der Anwohner wecken. Zweimal war er bereits die Strecke gefahren. Einmal am Tage, einmal in der Nacht. Kurz hatte er in Erwägung gezogen, den kleineren der beiden Seen, die der Kanal verband als Ausgangsbasis für sein
Vorhaben zu wählen. Doch dann hatte er festgestellt, dass unter der Brücke, die er hätte unterqueren müssen, ein Boot der Wasserschutzpolizei vor Anker lag. Er wollte kein Risiko eingehen. Das alte Schlauchboot, das er gekauft hatte, musste vor jeder Fahrt aufgepumpt werden. Am Bootssteg festgebunden, hatte es wie eine ausgelutschte Wurstpelle im Wasser gelegen. Wahrscheinlich hatten Kinder an den Ventilen gespielt. Doch diese Mühe störte ihn nicht. Hätte er sich beim Bootsverleih ein Boot gemietet, wäre das nur mit den üblichen Formalitäten möglich gewesen. Seine Personalien wollte er nicht preisgeben. Den Motor würde er nachher im See versenken und das Schlauchboot zu
entsorgen stellte kein Problem dar. Einmal war er vom Kanal schon zurückgerudert. Über den ganzen See. Es war nicht einfach, aber er hatte es geschafft. Es bestand nur auf einer Seite des Sees die Möglichkeit des Anlegens. Dort, wo auch der Ort war. Die anderen Uferbereiche hatten einen breiten Schilfgürtel. Außerdem schlossen sich an Land Kiefernwälder an. Wie sollte er nachts schnell durch die Wälder gelangen? Entscheidender aber war, dass er nicht anlegen konnte. Er hatte alle Optionen durchgespielt und war mit der von ihm getroffenen Entscheidung zufrieden. Der Betreiber des Bootsverleihes hatte ihm gestattet, das Schlauchboot an einem zerfallenen Bootssteg zu befestigen, weil er
diesen keinem Kunden mehr anbieten konnte. Das Auto hatte er immer im Ort abgestellt. Zwischen den Autos der Feriengäste und der Ausflügler fiel es nicht auf. Der Idealfall wäre gewesen, wenn er von Annegrets Grundstück nur über den Kanal hätte rudern können. Doch dort war ein Jugendcamp. Glücklicherweise hatte er die nächtlichen Aktivitäten dort rechtzeitig bemerkt. Aufglimmende Feuerzeuge, verhaltenes Gekicher. Es war nicht auszumachen, wo sich gerade Grüppchen von Jugendlichen aufhielten.
Seinen ursprünglichen Plan nachts in das Haus einzudringen, hatte er nach einigen Erkundungsfahrten zunächst verworfen. Vom Auto hatte er das Haus beobachtet. Annegret
und ihr Mann wohnten in der ersten Etage, das Souterrain wurde von einem jungen Mann bewohnt und an den Fenstern der Mansardenwohnung hingen Gardinen. Schwer zu sagen, ob die Wohnung belegt war. Gesehen hatte er dort oben noch niemanden. Er kannte die Räumlichkeiten nicht, musste versuchen sich im Dunkeln zu orientieren, mit Hilfe einer Taschenlampe nach dem Tagebuch suchen. Er konnte sich so leise wie möglich bewegen, doch waren Geräusche nicht auszuschließen. Würde er bemerkt werden, entstünde zwangsläufig Lärm. Er hätte mit Sicherheit zwei Gegner, wahrscheinlich drei, wenn der Bewohner des Souterrains noch hinzukäme. Es blieb nur die Möglichkeit am Tage unbemerkt in das Haus
zu gelangen. Hier bestand zwar die Gefahr von den Nachbarn gesehen zu werden. Doch sie waren weit genug entfernt. Wer sollte ihn aus der Ferne erkennen?
Er hatte Annegret mit dem Auto verfolgt. Sie war den ganzen Tag in einem Laden in der nahe gelegenen Stadt. Ihr Mann fuhr auf die Autobahn - das ließ den Schluss zu, dass sein Arbeitsort weiter entfernt lag. Wann der junge Mann das Haus verließ, hatte er nicht ergründen können. An den Tagen, an denen er das Grundstück und das Haus beobachtete, hatte er ihn nur am frühen Abend gesehen. Niemand war am Tage im Haus. Das war günstig. Das Betreten des Grundstücks von der Wasserseite war und blieb die einzige Möglichkeit. Er konnte
unmöglich über den Zaun, der das Grundstück von der Straße trennte, klettern. Nur einer der Bewohner auf der anderen Straßenseite würde genügen, um seinen Plan scheitern zu lassen. Ein Anruf bei der Polizei würde genügen. Er hatte sich auch schon die Eingangstür in der einen Nacht angesehen. Eine schwere alte Tür, ein Buntbartschloss, das auch einem Laien keinen Widerstand entgegensetzen würde. Nach dem Tod seines Großvaters hatte er Modernisierungen am Cottage vorgenommen - auch an den Nebengebäuden. Die Türen der Nebengebäude hatten auch diese Schlösser. Er hatte sie auswechseln lassen.
Das Glück - nein Glück hatte er keines im Leben - der Zufall kam ihm zu Hilfe. Als er
gestern ans Ufer fahren musste, weil der Dampfer den Kanal passierte, hörte er Annegret dem jungen Mieter, der sich in Ufernähe befand, zurufen, dass sie über das Wochenende nicht zuhause wären. Somit gewann die von ihm zuerst gewählte Variante wieder an Bedeutung. Die Wohnung war leer es waren keine Schwierigkeiten zu erwarten. Er würde an der Eingangsseite des Souterrains vorbeischleichen, dann brauchte er sich nicht im Dunkeln die breite Freitreppe hinauf tasten um über die Terrasse die Eingangstür von Annegrets Wohnung zu erreichen.
Es war 20,00 Uhr. Viel zu früh für sein Vorhaben. Doch wäre er später losgefahren, hätte er vielleicht Aufmerksamkeit erregt. Der
Bootsverkehr nahm um diese Zeit eher ab.
Heute würde er das Tagebuch in Händen halten. Einmal würde er es noch lesen - nach vierzig Jahren - und dann vernichten. Diesen Beweis seiner barbarischen Zeugung, den Beweis, dass er der Sohn eines Vergewaltigers, eines Mörders war. Dass seine Mutter überlebte, verdankte sie fremden Menschen. Andere hatten die Attacken dieses Mannes wahrscheinlich nicht überlebt. Selbst in seinen Gedanken wehrte er sich dagegen, ihn Vater zu nennen. Er war intelligent genug um zu erkennen, dass sein Bestreben in den Besitz dieses Tagebuches zu kommen, an Besessenheit grenzte. Seitdem er es bei Hannelore gesehen hatte, fand kaum noch anderes in seinem Kopf
Platz. Er hatte seine Geschäfte vernachlässigt und einen Mitarbeiter nach Berlin beordert, der sich darum kümmerte. Doch bald würde er wieder seinem üblichen Tagesablauf nachgehen. Weiterhin mit Erfolg die Tuchmanufaktur in London, die ihm sein Großvater vererbt hatte, leiten.
Er blickte auf die Uhr. Die Dunkelheit ließ auf sich warten. Es war Juni. Die Sonne hatte den ganzen Tag geschienen. Sein Sweatshirt war ihm beinahe etwas zu warm gewesen. Er hatte sich wegen der Kängurutasche dafür entschieden - für die Taschenlampe und das Tagebuch. Doch nachts würde es kühl auf dem See werden.
Wo würde er das Tagebuch finden? Wie lange würde er suchen müssen? Hatte
Annegret es schon gelesen? Annegret ... sie hatte sich verändert. Wie er auch. Als Hannelore voller Entsetzen preisgab, wer das Tagebuch hatte, erschien Annegrets Gesicht aus Kindertagen vor seinen Augen. Doch wer und wo war sie heute? Auf dem Friedhof wurde seine Frage beantwortet.
Hannelore hatte er sofort erkannt - auch nach so vielen Jahren. Als er seine Geschäfte in Berlin aufnahm, war einer seiner ersten Wege ein Besuch in der Rethelstraße. Er stand lange vor dem Haus. Eine Rothaarige kam aus der Haustür. Unverkennbar dieses verschmitzte Gesicht. Sie wohnte also immer noch hier.
Er steuerte das Boot etwas in Ufernähe. Sollte er den Motor schon abnehmen? Nein,
es war noch zu früh. Er zog den Schirm seines Basecaps tiefer in die Stirn und blickte sich prüfend um. Es fuhren kaum noch Boote. Als er vom Bootssteg ablegte war reges Treiben auf dem See. Gut so! Sein Boot unter vielen fiel nicht auf. Er hatte wohlüberlegt den Sonnabend für seine Aktion gewählt. Bald würde Stille auf dem Kanal und dem See einkehren.
Würde auch in sein Leben Stille einkehren? Würde er nach der Vernichtung des Buches Frieden finden? Welche Eintragungen hatte seine Mutter noch vorgenommen, nachdem er das Sühnekreuz auf die Fahrbahn gemalt hatte? Er hatte nicht mehr bemerkt, dass sie etwas in das Buch schrieb ... und gesucht hatte er nicht mehr danach. Er erinnerte sich,
wie sehr es ihn erschreckt hatte, als er die Reaktion von ihr bemerkte, nachdem sie das Kreuz auf der Straße gesehen hatte. Er wusste weder damals noch konnte er heute sagen, warum er das getan hatte. War es die Enttäuschung, dass der Mann, auf den seine Mutter voller Hoffnung wartete, gar nicht sein Vater war? Von dem sie Benjamin so oft erzählte. Ihm nie. Der Mann, von dem er hoffte, dass er ihm mehr Aufmerksamkeit schenken würde als seine Mutter oder war es das Entsetzen, dass ihn nach dem Gelesenen erfasst hatte. Entschlossen schob er die Gedanken, die immer wieder in die Vergangenheit abdrifteten zur Seite. Es war fast dunkel. Boote fuhren nicht mehr. Sie waren inzwischen sicher vertäut an ihren
Liegeplätzen. Mit wenigen Ruderschlägen hatte er die Mitte des Kanals erreicht. Er begann den Motor abzubauen. Nur einmal musste er die Taschenlampe benutzen. Kurz. Ein leises Plätschern und der Motor versank im Wasser. Noch eine halbe Stunde entschied er ... dann würde er an Land gehen. Seine Hand glitt in die Tasche seiner Jeans und fühlte die Konturen einer glatten Oberfläche. Ein Lächeln zog über sein Gesicht. Ein plötzliches Schaukeln des Bootes ließ ihn sofort wieder wachsam die Umgebung beobachten. Er versuchte die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. War noch ein Boot unterwegs? Nein, es war nur eine von dem leichten Wind, der aufgekommen war, ausgelöste
Wasserbewegung.
Das Bett schaukelte auch als sie um die Pistole gerungen hatten.
„Ich gebe dir die Waffe nicht“, hatte Benjamin gesagt.
„Es ist zu gefährlich. Ich weiß noch nicht einmal ob sie geladen ist. Sie lag in einem Gebüsch im Park.“
Doch er hatte immer wieder versucht Benjamin die Waffe abzuringen.
„Hör auf! Wenn Mamele - er nannte sie immer Mamele - hereinkommt, gibt es ein Donnerwetter.“
Bei diesen Worten lachte er. Er lachte oft, alberte mit ihm, neckte ihn ... und gab ihm immer das größere Stück der Schokoladentafel.
„Du musst noch wachsen Kleiner“, sagte er dann - und lachte.
... und dann hatte er die Waffe in den Händen gehabt.
„Pass auf ...“
Doch er hatte die Waffe schon an Benjamins Schläfe gehalten und abgedrückt. Als Benjamin auf dem Bett zur Seite fiel, war er in sein Zimmer gerannt.
„Jetzt hat sie nur noch mich“, hatte er immer wieder geflüstert.
„Jetzt schaut sie sich mit mir die kleine Meerjungfrau an.“
Das hatte sie nicht. Zehn Jahre nachdem sie nach England gegangen waren starb sie. Ihre gemeinsame Zeit beschränkte sich auf die Ferien, die er bei seinen Großeltern
verbrachte. Dann kam sie aus London und verbrachte einige Tage im Cottage - wegen der Großeltern. War er wieder im Internat war sie häufig bei den Großeltern.
Er ruderte ans Ufer, zog sich die Turnschuhe und Strümpfe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Keinerlei Möglichkeit das Boot zu befestigen. Er hatte das bereits bei seinen Erkundungsfahrten festgestellt. Also stieg er ins Wasser und zog das Boot ein Stück auf den Rasen. Ja, es lag fest. Sollte er jetzt die Schuhe wieder anziehen? Mit nassen Füßen? Nein, er würde barfüßig bleiben. Schuhe und Strümpfe ließ er im Boot. Als er sich dem Haus zuwandte sah er, dass die Außenbeleuchtung an der Eingangstür der Souterrainwohnung
eingeschaltet war. Aus den unteren Fenstern drang kein Licht. Der junge Mieter war also auch nicht zuhause. Jetzt konnte er an der Souterrainwohnung vorbei und um das Haus herumgehen, um zur Eingangstür von Annegrets Wohnung zu gelangen. Er brauchte nicht die dunkle Freitreppe hinaufgehen und sich auf der Terrasse an den Gartenmöbeln vorbei tasten. Die Taschenlampe würde er nur im Notfall benutzen. Deren Lichtkegel wäre in der Dunkelheit gut zu erkennen. Möglicherweise sogar von den Jugendlichen im Camp auf der anderen Seite des Kanals. Problemlos erreichte er sein Ziel. Mit den Fingern fühlte er nach dem Schloss ... zwei vorsichtige Umdrehungen mit seinem Spezialdietrich, ein
leises Schnappen - die Tür war offen. Er atmete auf. In der Diele schaltete er die Taschenlampe ein und orientierte sich. Die Küche. Dort würde er nicht suchen. Bad und Schlafzimmer ließ er auch unbeachtet. Er würde im Wohnzimmer beginnen. Trotzdem öffnete er noch die beiden geschlossenen Türen. Das schien ein Arbeitszimmer zu sein. Auf dem Schreibtisch waren große Zeichnungen ausgebreitet. Das letzte Zimmer war klein. ... und dann sah er es. Das Tagebuch. Es lag auf dem Tisch, als hätte es auf ihn gewartet. Vorsichtig nahm er es in die Hand, strich über den roten Samt - und spürte Erleichterung. Endlich. Die Scheinwerfer eines Autos huschten durch das Zimmer. Er löschte die Taschenlampe und
ging zum Fenster. Ein Auto hielt vor dem Haus. Drei Männer stiegen aus. Im Schein der Straßenlaterne erkannte er den Mieter aus dem Souterrain. Lachend betraten sie das Grundstück. Er musste schnellstens das Grundstück verlassen und ins Boot gelangen. Es waren junge Leute. Vielleicht fiel ihnen ein, ans Wasser zu gehen. Ihm wäre der Weg abgeschnitten. Sie würden das Boot entdecken ... und er musste jetzt den Weg über die Terrasse nehmen. Hastig steckte er das Tagebuch in die Schlupftasche des Sweatshirts und stürzte aus dem Haus. Die Tür zog er hinter sich nur ins Schloss. Dann rannte er nach links und hatte schnell die Terrasse erreicht. Er stieß gegen einen Stuhl, der mit einem Poltern umfiel. Jetzt hieß
es aufpassen. Die Treppe musste gleich kommen. Lachen und Stimmengewirr waren jetzt deutlich zu hören. Die Männer mussten schon in der Nähe der Eingangstür der Souterrainwohnung sein. ... und dann verfehlte er die erste Stufe, konnte sich nicht mehr halten und stürzte die Treppe hinab. Stöhnend richtete er sich auf, griff dabei auf die Taschenlampe, die ihm beim Sturz entglitten war. Wo war sein Basecape? Die Taschenlampe einzuschalten und danach zu suchen war zu riskant. Egal. Er humpelte mehr als er rannte über den Rasen. Die schemenhaften Wipfel der Kiefern auf der anderen Seite des Kanals, die sich vom Nachthimmel abhoben, wiesen ihm den Weg. Er hatte das Boot erreicht, zog es ins Wasser
und kletterte hinein. Mit unkoordinierten Ruderschlägen entfernte er sich vom Ufer. Nach kurzer Zeit hatte er eine sichere Entfernung zum Grundstück erreicht. Die Dunkelheit schützte ihn. Aufatmend hielt er einen Moment inne. Seine Hosen waren bei der hektischen Aktion nass geworden. Die Socken, die im Boot lagen, auch. Er warf sie ins Wasser. Die Turnschuhe würde er erst anziehen, wenn er das Boot verließ. Er stellte sie neben sich auf die Gummisitzbank. Der Boden des Bootes war doch mehr nass geworden, als erwartet. Mit den Füßen patschte er im Wasser. Gut, dass er die Taschenlampe gleich neben sich gelegt hatte. Jetzt griff er nach den Paddeln und zog sie mit gleichmäßigen Schlägen durch das
Wasser. Als er den Kanal verließ waren auf der anderen Seite des See die Lichter des Ortes zu sehen. Sein Ziel. Gut zu erkennen, doch jetzt hieß es durchhalten. Eine lange Strecke lag vor ihm. Doch er konnte Pausen machen. Meter um Meter glitt das Boot vorwärts. Er hatte fast die Mitte des Sees erreicht, als er bemerkte, dass das Boot nicht mehr hundertprozentig der Richtung folgte, die er ansteuerte. Er beugte sich nach vorn, um die Ruderhalterungen zu kontrollieren. Dabei stützte er sich auf der Seitenwand ab. Diese gab nach und Wasser schwappte über die Seitenwand. Dass jetzt weitaus mehr Wasser im Boot war, als noch vor einiger Zeit fiel ihm jetzt auch auf. Die Knöchel seiner Füße waren schon von ihm bedeckt.
Erschrocken griff er zur Taschenlampe. Sie war auf den Boden gerollt und lag im Wasser. Mehrmaliges Betätigen des Schalters brachte keinen Erfolg. Sie funktionierte nicht mehr. Er griff wieder zu den Paddeln, machte einige Schläge, doch nur widerwillig reagierte das Boot. Er gewann einige Meter, doch dann begann sich das Boot langsam zu drehen. Er hatte die Mitte des Sees erreicht. Mit einem Paddel versuchte er das Boot in die richtige Richtung zu dirigieren. Es gelang ihm fast. Doch bei dieser Aktion schwappte erneut ein Schwall Wasser ins Boot. Mehr als beim ersten Mal. Er tastete die Seitenwände ab, verhedderte sich dabei in der Halteleine, die schlaff im Wasser hing. Die Seitenwände waren genauso schlaff. Das Boot hatte ein
Leck oder mehrere. Nicht Kinder hatten an den Ventilen gespielt, er hatte ein defektes Boot gekauft. Heute, nachdem er es erstmalig mehrere Stunden benutzt hatte, offenbarte sich ihm diese Tatsache auf so schreckliche Weise. In dem Zustand, in dem das Boot jetzt war, war es nur eine Frage der Zeit, wann es sinken bzw. ihn nicht mehr tragen würde. Er blickte zu den Lichtern des Ortes, musste versuchen ihn schwimmend zu erreichen. Langsam ließ er sich ins Wasser gleiten.
„Ruhig bleiben“, murmelte er vor sich hin.
Mit langen Schwimmstößen bewegte er sich vorwärts und hatte doch das Gefühl, dass er an Strecke nicht gewann. Nach zehn Minuten hielt er erschöpft inne. Wasser war ihm in den
Mund gedrungen. Er würde es nicht schaffen. Er würde ertrinken. Hier würde er versinken und mit ihm sein Geheimnis.
„Warum konnte sie mich nicht lieben, meine schöne Mutter?“, flüsterte er vor sich hin.
Erneut drang Wasser in seinen Mund. Er tastete nach dem Tagebuch in der Schlupftasche. Schon benommen flammte ein letztes Entsetzen auf. Das Tagebuch war weg. Lautlos schloss sich das Wasser über seinem Kopf.
© KaraList 10/2015