Kurzgeschichte
Dezemberschnee

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"Dezemberschnee"
Veröffentlicht am 03. Dezember 2008, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Karten. Stechen. Ins Auge. In der Nacht.
Dezemberschnee

Dezemberschnee

Ein Blick. Es war nur einer. Ehrlich. Versprochen. Ich lüge nicht. Und dieser Blick. Hatte es in sich. Wirklich. Tief in sich drin.

Ich lief nach Hause. Schnelles Gehen, Laufen, Rennen, so etwas halt. Und als ich dann dort ankam, schmiss ich mich aufs Bett und starrte an die weiße schrecklich helle Decke, die so weit entfernt war. Wahrscheinlich verbrachte ich viel zu lange auf diesem Bett. Als ich endlich wieder aufstand glitzerte Schnee auf der Fensterbank. Wie kitschig. Wie schön. Wie unpassend. Wenn ich ein aufbrausender Mensch gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich jede einzelne Schneeflocke mit meiner Körperwärme schmelzen lassen, bis meine Hände taub würden und mir endlich auffiele, dass viel zu viel Schnee fällt, um ihn wegzuwischen. Ich bin nicht aufbrausend. Ich rechne. Und die Lösung war irgendetwas unbestimmtes, wenn  nicht sogar undefinierbares, darum blieb ich einfach stehen. Und starrte voller Hass, ohne sonderliche Bewegungsenergie zu verbrauchen.

In Büchern liest man, wie sich die Hauptcharaktere etliche Jahre später immer noch an das Gesicht ihrer viel zu weit entfernten Frau erinnern. Ist das dann die wahre Liebe? Ist sonst keine Liebe echt und aufrichtig? Nur weil ich mich nicht mehr an ihren verdammten Blick erinnere?! Ist das wichtig? Ist das nicht menschenabhängig? Und ganz langsam wunderte ich mich, warum ich meine Liebe so hartnäckig beweisen wollte. Lieber sie ist nur Illusion. Lieber sie ist nicht wirklich. Lieber alles andere als dauerhaft und schmerzerfüllt.

Irgendwann kam meine Mutter. Meine Schwester. Mein Bruder. Und mein Vater.

Abends aßen wir alle zusammen.

"Was ist denn los?, du siehst ja aus, hmmm. Wie nennt man das noch mal Frank? Ich meine,

 irgendein Vergleich..."

"Ne Wasserratte."

"Ach, nein, Frank." Und sie lachte und mein Aussehen war vergessen. Wie sah ich denn aus? Später kam mein Bruder. Er ist zwei Jahre älter, ich habe das große Glück der Jüngste zu sein. Klinge ich jetzt ironisch, oder was? Keine Ahnung, ob es Glück ist oder nicht. Ich hörte gerade Radiohead. Als er die Tür öffnete.

"Mach mal leiser!"

Ich machte sofort leiser. Das wunderte ihn und er betrachtete mich, so wie man jemanden betrachtet, wenn man sein Bruder ist.

"Hey, was ist los?"

Ich habe mich ein Mädchen verliebt! Was ist daran zu schwer zu verstehen? He? Ist doch ganz deutlich zu sehen? Oder? Sieht man nicht, wie mich das Gefühl quält? Und sofort ärgerte ich mich, dass ich jetzt mit meinem Bruder reden musste. Ich wünschte mir wieder die schreckliche Musik von Radiohead.

"Ähm."

"Ja?"

"Ach, weißt du. Nichts, worüber ich reden möchte."

"Aha."

Und damit schloss sich die Tür, aber nicht die Möglichkeit gerettet zu werden. Denn sofort rief Luka an. Fast sofort. Eine halbe Stunde später. Aber man merkt die Zeit nicht so sehr, wenn man an die weiße Decke starrt. 

Meine Mutter reichte mir das Telefon.

"Hallo, Luka."

"Du ich wollt mit dir über Cathy reden, ich meine. Du weißt schon. Das hat sie heute nicht so gemeint. Verstehst du?"

Ich brummte und ging zum Fenster, öffnete es und starrte in den Schnee.

"Also, ihr geht es im Moment nich’ gut. Davon weiß ich schon länger, sollte es aber keinem erzählen."

Natürlich, tolle Masche. Wie immer war ich eifersüchtig, weil Luka Cathys bester Freund war. Oder wie man das nennt. Jedenfalls weiß er immer mehr als ich. Und meint, ihre Gefühle deuten zu können. Bla. Bla.

"Ich hab dir ja gesagt, dass es ein Fehler wäre, ihr ein Schokoherz zum Nikolaus zu schenken, und dann auf so ne blöde Art."

Ich grinste. In meinem Kopf breitete sich Ironie aus und es fühlte sich herrlich an. Ja! Was für ein Verbrechen! Ein Herz zum Nikolaus! Wie furchtbar! Unwiedergutmachbar. Grausam. Kindisch. Kitschig. Ich habe ihr einen Zettel an ihr Fach gehängt, so American Style. Es prägt einen, wenn man ein Austauschsjahr macht, aber es genügen auch genug US Teeny Filme. Und während sie versucht hat, den Zettel zu entziffern, bin ich von hinten an sie rangeschlichen und habe ihr das Schokoherz gegeben. Nichts romantisches, kitschiges. Einfach. Eine Aufmerksamkeit, oder nicht?

"Ich habs dir tausendmal gesagt, dass sie noch nicht so weit ist. Wie ich auf dich eingeredet habe. Mann. Das war voll ätzend. Und dann hörst du nicht mal auf mich."

Er machte eine echte Pause und wartete wohl auf irgendeine Zustimmung meinerseits.

"Ja."

"Nichts ja. Du bist echt dämlich, Mann."

"Ja. Wahrscheinlich."

"Nein, nichts wahrscheinlich!" Seine Stimme wurde lauter und genervt, ich mag ihn trotzdem. So wie man jemanden halt mag.

Der Sarkasmus in meinem Kopf summte und ich antwortete galant: "Ja, ich weiß. Ich war wirklich dumm", dramatisch: "Aber ich konnte nicht anders!! Was zum Teufel habe ich denn falsch gemacht?"

"Also, eigentlich darf ich es keinem erzählen."

Und warum rufst du an?

"Aber, sie hat mich gebeten, es dir zu erklären, damit du sie nicht hasst."

Sie hassen...

"Also, hast du dich denn nie gewundert, warum sie in letzter Zeit immer komischer wurde?" Nö. Ich habe es gar nicht gemerkt. Wie sie mir nicht mehr Hallo gesagt hat. Wie sie in den Pausen nie da war, wo sie sonst war, wie sie meine Chatanfragen ignoriert hat.

"Doch."

"Ja, Mann. Weil sie Angst gekriegt hat. Und gerade jetzt in der Weihnachtszeit!"

In der Weihnachtszeit? "Hat sie Angst vor Knecht Rubrecht?"

Oh, jetzt flippte er aus: "Das ist voll nicht witzig! Ihr Freund ist letztes Jahr an Nikolaus gestorben!"

"Quatsch."

Er sagte nichts mehr. Was ein schlechtes Zeichen ist. Und in meinem Kopf fiel der ironische Turm in sich zusammen und zurück blieb - gar nichts. Nichts. Leer. Tot. Dunkel. Fragezeichen. Ich verlor das Bedürfnis zu reden. Ich verlor jegliches Bedürfnis. Ich spürte die kalte Dezemberluft in meinem Gesicht und sah den Schnee der jetzt in mein Zimmer schneite.

"Verstehst du jetzt?"

"Und warum hat sie mir das nie gesagt?"

Er lachte grimmig, ein gekünsteltes Lachen:" Warum sie das nie gesagt hat? Denkst du, sie will da groß drüber reden? Sie hat keine Lust die ganze Zeit bemitleidet zu werden und sowas alles."

"Aha." Pause. "Und jetzt?"

"Keine Ahnung! Lass sie einfach. Okay?"

"Klar." So klar wie Brühe. Die übrigens gar nicht klar ist. Mein Gesicht fror ab.

"Gut. Dann lass ich dich jetzt, okay?"

"Klar."

"Du hörst dich überhaupt nicht so an, als ob man dich lassen könnte."

Da hatte er wohl recht, ich riss mich zusammen und brachte diesen Satz hervor: "Okay, danke, dass du mir Bescheid gesagt hast. Machs gut. Bis morgen." Auch wenn ich wenig Lust auf morgen hatte.

"Okay."

Tut. Tut. Ich ließ solange tuten, bis es aufhörte. Ich legte nicht auf, bis meine Schwester reingestürmt kam, "Ich muss vielleicht mal telefonieren?". Sie riss mir das Telefon aus der Hand und dann schaute sie mich an.

"Was ist denn mit dir los?"

"Müde."

Und ich ließ mich ins Bett fallen. Sie machte das Fenster zu und schloss mit einem Gute Nacht die Tür.

Irgendwann wachte ich auf. Es war so kalt. Ich strampelte die Decke hervor und deckte mich zu. Ich konnte nicht mehr schlafen. Vier Uhr morgens. Ich stellte mir vor, ich stellte mir schöne Sachen mit Cathy vor. Zusammen auf dem Weihnachtsmarkt. Glühwein. Wärme. Silvester. Nähe. Ein gutes Gefühl. Und dann dieses Herz. Ihr toter Freund. Toll. Und plötzlich ärgerte ich mich über sie, wie sie einfach den Problemen aus dem Weg geht. Wie sie mir nichts sagt. Wo sie doch anscheinend meine Absichten durchschaut hat. Beruhigende Gleichgültigkeit breitete sich in mir aus. Mich nervten diese Fragen und ich ging ins Wohnzimmer und schaute die restlichen eineinhalb Stunden Fern.

 

Als ich schließlich in der Pause stand. Tanzte Lisa um mich herum und erzählte von ihrem herrlichen Montagnachmittag. Luka distanzierte sich völlig und war nirgendwo zu sehen. In der einen Ecke saß ein Pärchen, in der nächsten ein zweites. Als Kirsten dazu kam, plapperte Lisa noch mehr. Und dann kam sie die Treppe herunter. Und in meiner Brust dieser beschissene Schmerz und ich drehte mich einfach um und ging raus. In diese noch beschissenere Kälte und setzte mich auf einen Stein. Wie heldenhaft. Ich bewunderte mich. So wie ich da saß. Frierend. Verbittert. Leidend. Toll. Irgendwann rettete mich eine soziale Seele aus meiner Klasse und zwang mich mitzukommen in den Unterricht, in dem ich Cathy gegenüber sitzen würde.

Neben mir Luka, der wirklich zu nett sagte: "Ich hoffe, du hast es endlich kapiert." Ich antwortete nicht. Zu mühsam. Zu schmerzhaft. Ich rettete mich in den Unterricht und konzentrierte mich auf Mathe und brachte es irgendwie zu Stande mich darüber zu freuen, dass ich in Deutsch eine gute Note hatte. Schule ist lästig und gleichzeitig eine gute Ablenkung. Der Gong und ich stand auf, vergaß meine Jacke und stand wieder in der Kälte, bis ich so laut zu husten begann, dass sich andere Schüler zu mir umdrehten.

"Hast du die nicht vergessen?"

Die freundliche Stimme von Cathy. Ich drehte mich mit Bauchgeschwür um, der Husten war mir tatsächlich im Halse stecken geblieben.

"Danke."

Und ich hüstelte künstlich, um nichts mehr sagen zu müssen. Ich wandte den Trick aus den Büchern an und schaute auf ihre Augenbrauen.

"Bitte."

Und damit ging sie und ich lief in die warme Schule und ließ meine Wut an der verschlossenen Klassentür aus, bis eine Putzfrau zu freundlich war.

 

Und so wurde aus meinem Dezember ein ganz schrecklicher Dezember. Ich hatte die Aufgabe die Türchen unseres Adventskalenders in der Küche zu öffnen. Grandiose Aufgabe.

Am Wochenende verbrachte ich die Adventstage wie gewünscht mit meiner Familie. Und in den ersten Ferientagen lag ich rum und beschäftigte mich. Eigentlich tat ich nichts anderes als sonst auch, nur das da ein gewisser Knoten in meinem Bauch war, den ich fast nie vergaß. Heiligabend. Und ich glaubte es kaum. Aber da war dieser Brief. "Erst am Abend öffnen." Mädchenhandschrift. Cathys Schrift. Ich öffnete ihn. Natürlich.

"Lieber J, Ich könnte dir ja alles erklären, weißt du, aber das hat Luka ja schon gemacht. Ich möchte dir sagen, dass es mir Leid tut und ich möchte, dass du ein schönes Weihnachtsfest hast und das wünsche ich dir hiermit. Alles Liebe, deine Cathy."

Das alles war auf eine schöne Mery Xmas Karte geschrieben. Ausweglos. Endlos. Gefühllos. Los. Los. Los.

 

Alles was ich tun konnte, war wohl ihr einen Gefallen zu tun. Aber das klappte nicht. Denn ich saß um den Baum herum und wunderte mich, warum es mir so schlecht ging.

Ich fragte mich nach einem Happy End. Kann man etwas ändern? Hat sie ihn so sehr geliebt? Oder ist es nur die Angst, eine neue Beziehung einzugehen? Angst aber wovor? Erwartete sie wirklich, dass alle ihre zukünftigen Freunde sterben würden, nur weil ihr erster es tat? Solche Gedanken klangen dämlich und dumm. Ich wusste das und ließ es trotzdem nicht bleiben. Ich war mir sicher, dass sie mich mochte und dass sie sich so heftig dagegen wehrte noch mehr zu fühlen. Aber warum konnte ich mir sicher sein? Verdammt. Warum machte ich mir so viele Illusionen...

Ich kam zu dem Schluss, dass das wahre Leben kein Aschenputtelfilm ist, den wir alle am ersten Weihnachtsmorgen zusammen mit meiner Mutter schauen durften.

Für mich gibt es kein Happy End an Weihnachten und weiter bin ich noch nicht gekommen.

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