Mitten in Deutschland herrschte der blanke Terror. Angst griff nach kleinen Kinderherzen, hielt sie im harten Klammergriff, denn sie war unerbittlich, verschlang uns, die Inkarnation der MACHT: unsere Grundschullehrerin Frau Ziethen. Sie war Gorgone und Nemesis in einem, gab unserem Dasein einen Stempel nach dem anderen für nicht gemachte Hausaufgaben, Schwätzen während des Unterrichts, unsaubere Heftführung und für versonnenes Träumen in den Unterrichtsstunden.
Ihr könnt euch denken, dass ich trotz aller Angst, die ich vor diesem Drachen
hatte, dennoch eine stattliche Anzahl dieser kleinen schwarzen (!!!) Stempel in meinem Hausheft nach Hause trug, aber noch weitaus mehr dieser hässlichen „Icons“ nannte ER sein Eigen: Uwe, der hübsche blonde Junge aus der letzten Bankreihe. Uwe war das, was meine Eltern „einen richtigen Jungen“ nannten, ein deutscher Michel aus Lönneberga, immer zu Streichen und liebenswertem Unfug aufgelegt, und dabei bezaubernd wie kaum einer. Uwe war der Schwarm von uns Mädchen und löste gigantische Zickenkriege unter Siebenjährigen aus, die sich in Zwicken, Haare ziehen und gemeinen Singsprüchen auf dem Pausenhof
entluden: „Cas-sy hat nen Zahn verlorn, Cassy sieht jetzt doof aus!“ Und das natürlich immer dann, wenn Uwe es hören konnte.
Meine Mutter wunderte sich, warum ich auf einmal so „mädchenhaft“ war, bis dato war ich nämlich ein ausgemachter Junge gewesen, bastelte mit meinem Vater an Motoren herum und trug eigentlich nie richtig saubere Kleidung. Mein Lieblings-Outfit war eine alte Lederhose meines Lieblingscousins mit einer Bluse oder einem Trikot ( die Teile, die wir später T-Shirt nannten). Und meine Fingernägel waren nie richtig sauber… Aber seit ich mich in
Uwe verguckt hatte, betrieb ich einen unglaublichen Körperkult, ich ging sogar so weit, mich einmal an Mamas Parfum zu vergreifen, was mir prompt einen der berüchtigten „Ziethen-Stempel“ einbrachte.
Der derart Umschwärmte bekam davon offensichtlich nichts mit, er trieb sich mit den Jungen der Klasse auf dem Hof herum und la Ziethen in den temporären Wahnsinn, was uns Fans natürlich noch mehr für ihn einnahm, war da doch einer, der alle Eigenschaften eines Helden, eines Drachentöters besaß- Mut, Witz und Sorglosigkeit. Aber es war so furchtbar schwer, an den Süßen
heranzukommen, ich jedenfalls war zu naiv und unerfahren, mein Bruder war ein Kleinkind, somit kannte ich das andere Geschlecht noch nicht so gut.
Doch meine Chance sollte kommen, und zwar schon bald. An unserer Grundschule gab es einen Raum, das „Aquarium“, in welchem Schüler beaufsichtigt wurden, deren Lehrer verhindert waren. Diesen Raum mochten wir, denn er besaß sechs bodentiefe Fenster mit langen blauen Vorhängen, hinter denen wir uns prima verstecken konnten, was manche Lehrer durchaus zuließen. La Ziethen hatte zu unser aller Glück selten Aufsicht, und somit waren
diese Stunden bei uns über alles beliebt. Unser Pastor, der den katholischen Religionsunterricht gab, war nicht zum Unterricht erschienen, und so hieß es „ab ins Aquarium!“ Und Uwe war— ka-tho-lisch! Schnell bildetet sich ein Pulk aufgeregter Zweitklässlerinnen um ihn und seinen Freund Robbie, aber sicherlich nicht wegen Robbie. Das Gekicher und Gegluckse war so lebhaft, dass Frau Hörnschemeyer mehrmals auf ihr Pult klopfen und „Kinder, bitte etwas leiser“ rufen musste, aber richtig böse war sie uns nicht.
Mir wurde das Getue der Mädchen bald zu blöd und ich zog mich mit einem Lolli
hinter einen der Fenstervorhänge zurück. Gelangweilt und etwas verstimmt nuckelte ich an meinem Lutscher und achtete nicht darauf, dass der Lolli klebrige Spuren auf Gesicht und Kleid hinterließ. Es war ein Himbeer-Lolli, die waren besonders lecker, wie ich damals fand. Auf einmal stand Uwe neben mir, hinter besagtem Vorhang, und sagte trocken „Du hast dich ganz schön vollgesaut!“ Wo war das Mauseloch, in das ich hätte kriechen können? War das peinlich… Sicher war ich zu allem Überfluss auch noch rot wie eine Tomate geworden und am liebsten hätte ich geweint, als Uwe noch hinzufügte „ … aber ich mag dich, du
bist nicht so albern wie die andern Mädels“. Und dann drückte er mir ein dicken Kuss auf meine klebrigen Lippen… alles hinter besagtem Vorhang. Den Kuss selber habe ich eigentlich in keiner besonderen Erinnerung mehr, aber fortan „gingen“ Uwe und ich miteinander, wie die anderen Mädchen neidisch sagten. Erst der Übergang auf die weiterführende Schule setzte unserer „Romanze“ ein Ende.
Aber das tollste war, dass ich in Uwes Fußballverein mitspielen durfte. Als einziges Mädchen!