11. Kapitel
Sobald wir Haus C betraten, schlug uns der Lärm von hunderten durcheinander redenden Studenten und Lehrern entgegen. Der Duft von Parfum, Deo, Schweiß und Essen vermischte sich und ließ mich das Gesicht verziehen. Schon zu Schulzeiten habe ich die Zeit in der Cafeteria gehasst. Vor allem im Winter, wenn es draußen kalt war und alle in die Wärme des großen Saals strömten, wünschte ich mir das Ende der Mittagspausen schnell herbei.
Im Sommer was die Cafeteria der RDA an den meisten Tagen wie leer gefegt. Man holte sich sein Essen und suchte
sich dann einen schattigen Platz unter einem Baum, im Pavillon oder auf der weitläufigen Dachterrasse.
Ich entdeckte Cora und Beth, die einen Platz an der langen Fensterfront ergattern konnten und schlängelte mich, dicht gefolgt von Carson und Toby, durch die Tischreihen.
Wir kamen an einem Tisch vorbei, an dem zwar ein halbes Dutzend wunderschöner junge Frauen saßen, aber kaum ein Krümel zu Essen zu sehen war. Balletttänzerinnen. Sie begnügten sich meistens mit einem kleinen Salat und Mineralwasser. Ich würde durchdrehen, wenn ich jedes Gramm, das ich aß, genau abwägen müsste.
Direkt hinter den hungernden Mädchen saßen Cora und Beth. Beide bemerkten mich nicht. Beth stocherte missmutig in ihrem Essen herum und Cora sah verträumt aus dem Fenster. Ich vermutete zu wissen, woran meine Freundinnen dachten.
Ich ließ mich ihnen gegenüber auf einen freien Stuhl fallen und zog Beths Tablett zu mir heran. Sie schnappte hörbar nach Luft und warf mir einen bösen Blick zu. „Was soll das? Hol´ dir dein eigenes Essen.“ Ich schnappte mir die Gabel aus ihrer Hand und schob mir ein Stück Fisch in den Mund. Dann leckte ich mir genüsslich über die Lippen. „Einer muss
dafür sorgen, dass das arme Tier nicht umsonst gestorben ist“, sagte ich und grinste sie an. Sie streckte ihre Hand aus, doch ich schüttelte den Kopf. „Nichts da. Du hast jetzt etwas anderes vor.“ Verdattert sah sie mich an. Dann wanderte ihr Blick von mir zu Toby und schließlich entdeckte sie Carson, der schüchtern ein wenig abseits stand und ganz verloren in dem großen Raum wirkte.
Beths Augen füllten sich mit Tränen. Schnell heftete sie ihren Blick wieder auf mich und fixierte mich mit grimmiger Miene. „Was soll das?“, verlangte sie zu wissen. „Können wir kurz reden?“, wagte Carson nun doch zu
sprechen. Ungläubig sah Beth ihn an. „Ach, jetzt willst du reden? Vielen Dank aber ich verzichte“, presste sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor und stand abrupt auf. Dann warf sie uns allen noch einen vernichtenden Blick zu und eilte aus der Cafeteria. Verwirrt sah ich ihr nach. Auch Carson stand bewegungslos neben uns und schien nicht zu wissen, was er jetzt machen sollte. „Worauf wartest du?“, drängte ich ihn. Er zuckte die Achseln, schien sich zu sammeln und endlich zu verstehen, dass jetzt der Augenblick war, dem Mädchen, das er mochte und dessen Herz er gebrochen hatte, zu folgen. Oh Beth, ich hoffe, du weißt auf was du dich da
einlässt!
Cora schien von der ganzen Aufregung nichts bemerkt zu haben. „Erde an Cora? Hallo?“, versuchte ich zu ihr durchzudringen. Keine Reaktion, auch nicht, als Toby nun ebenfalls zum Essensdieb wurde und ihr Tablett schnappte. „Ich bin umgeben von Irren!“, schnaufte er zwischen zwei Bissen. Ich wollte ihm schon grinsend beipflichten, da fiel mir ein, dass ich wohl auch dazu gehörte, wenn ich nicht sogar die schlimmste von allen war. Beth und Carson hatten gewöhnliche Beziehungsprobleme. Cora schwebte im siebten Himmel. Doch keiner von ihnen sah einen Typen, den niemand sonst
sehen oder hören konnte. Verdammt, ich konnte ihn sogar ANFASSEN! DAS war nicht normal!
Zu allem Überfluss regten sich nun doch so etwas wie Schuldgefühle in mir. War ich zu hart mit ihm umgegangen? Hätte ich mich für mein Verhalten entschuldigen sollen? Innerlich stöhnte ich. Er war nicht real! Es hatte keinen Zweck sich darüber Gedanken zu machen! Er war verschwunden und würde es hoffentlich auch bleiben. Möglicherweise sollte ich doch einen Arzt aufsuchen? Den selben zu dem Mum damals gegangen war. Vielleicht gab das Pluspunkte. An diese Geistergeschichte hatte ich mich nur so sehr geklammert,
um mir nicht eingestehen zu müssen, dass etwas mit mir nicht stimmte. Aber vielleicht war es an der Zeit, endlich die Augen zu öffnen und der Realität die Stirn zu bieten.
Toby riss mich aus meinen Gedanken. Die Pause war vorbei. Der Unterricht ging weiter. Ich schnappte mir mein, oder besser gesagt Beths Tablett, Toby rüttelte unsanft an Coras Schulter. Blinzelnd kehrte sie aus ihrer Traumwelt zurück. Zusammen verließen wir die Cafeteria.
Vor dem Gebäude erwartete uns eine besondere Überraschung. Wir entdeckten Carson und Beth, die es sich auf einer der Bänke bequem gemacht hatten und
sich eng umschlungen in den Armen lagen. Glücklich schmachteten sie sich an und tauschten zärtliche Küsse. Ich hörte, wie jemand hinter uns scharf die Luft einsog. Langsam drehte ich meinen Kopf und sah wie Portia die Szene vor uns mit weit aufgerissenen Augen und schockiertem Gesichtsausdruck verfolgte. Ich konnte mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
Nach der letzten Stunde, die sich unendlich lang gezogen hatte, traten Toby und ich endlich den Heimweg an. Ich hatte eine Entscheidung getroffen und wollte es nun zügig hinter mich bringen.
Viel zu schnell raste ich die beinahe
leeren Straßen entlang, was mir ungläubige Blicke von Toby einbrachte. „Hast du was vor?“, wollte er wissen. „Nein.“ „Warum fährst du dann so schnell? Liegst du mir nicht sonst immer in den Ohren, dass man sich unbedingt an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten muss?“
Er hatte ja recht. Seit Mums Tod sah ich die Dinge ein wenig anders. Sie war gestorben, weil sie zu schnell gewesen war, die Kontrolle über den Wagen verloren und von einer Brücke gestürzt war. Ob Unfall oder nicht, diese Erfahrung hatte mich gelehrt, mich an die Vorschriften zu halten.
Zu Hause angekommen, sprintete ich die
Treppe nach oben und öffnete den Laptop. Von Dawson noch immer keine Spur. Ist das nun gut oder schlecht?, fragte ich mich augenblicklich. Es war seltsam, dass er nicht da war. Vermisste ich ihn etwa? Nein, unmöglich!
Ich öffnete den Browser und erinnerte mich unweigerlich an den Moment zurück als ich herausfinden wollte, wie man einen Geist ins Licht schickte. Auch heute trieb Dawson mich vor den Computer.
Mit zittrigen Fingern tippte ich drauf los. Nur wenige Minuten später hatte ich meinen Entschluss gefasst. Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer, die mir auf dem Monitor angezeigt wurde. Mit
einem mulmigen Gefühl im Magen legte ich wieder auf und notierte mir „Montag, 18Uhr, 96 Whitley Wood Road“ auf einen kleinen Zettel, den ich mir tief in die Gesäßtasche meiner Jeans schob.
Ich würde direkt nach dem Unterricht nach Cumnor fahren, wie immer Toby absetzen, damit er nichts merkte, und dann direkt nach Reading fahren. Es war ein Umweg von beinahe einer viertel Stunde, aber ich wollte nicht, dass Toby Fragen stellte. Ich wüsste nicht, was ich ihm antworten sollte. Ich hatte absichtlich einen Therapeuten gewählt, der seine Praxis nicht in unmittelbarer Nähe hatte. Um jeden Preis wollte ich vermeiden, dass jemand erfuhr, dass ich
eine psychiatrische Sprechstunde besuchte. Jeder der meine Mutter kannte, würde wissen, was es damit auf sich hatte. Die Neuigkeit würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Es war wirklich besser, die einstündige Fahrt auf sich zu nehmen.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich mich jetzt entspannter fühlen würde, aber nein, ich war aufgeregter und unruhiger als zuvor. Montag schien noch ewig weit entfernt zu sein. Ich versuchte mich etwas abzulenken, aber das wollte mir einfach nicht gelingen. Selbst als ich die Musik aufdrehte und meinen Körper im Rhythmus der Musik bewegte, konnte ich nicht abschalten. Das war mir noch nie
passiert. Beinahe wünschte ich mir sogar Dawson herbei, der mich mit seinem hitzigen Temperament ablenken würde. Aber er tauchte nicht auf.
Auch am nächsten Tag ließ er mich im Stich. Ich müsste Freudensprünge und Lobgesänge an den Himmel richten, weil ich ihn endlich los war, aber dieses Glücksgefühl wollte sich einfach nicht einstellen. Das war doch verrückt! „Sei froh, dass du ihn los bist! Wenn du ihm nachtrauerst, beweist das doch erst recht, dass du verrückt bist!“, schimpfte ich, als ich den Schlüssel im Schloss drehte und in den Flur trat.
Es war dunkel im Haus, kein Licht brannte. Dad musste noch im Büro sein,
was seltsam war, denn Freitags machte er immer gegen Mittag Feierabend. Schon seit Jahren begann er das Wochenende am späten Vormittag, fuhr dann nach Hause, bastelte in der Garage an einem Auto, Motorrad oder sonst irgendetwas motorisierten herum und bereitete schließlich das Abendessen zu.
Vielleicht trifft er sich noch mit Richard?, schoss es mir durch den Kopf. In diesem Fall würde ich eine Nachricht am Kühlschrank vorfinden. Ich ging in die Küche und schrie überrascht auf, als ich stolperte, das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf gegen die Kante des Küchentresens fiel.
Ich stöhnte und fluchte anschließend,
dass Dad, hätte er diesen Ausbruch gehört, mir den Mund mit Seife ausgewaschen hätte. Mühsam rappelte ich mich auf und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Meine Fingerspitzen verharrten einen Augenblick an der Stirn. Ich hielt mit die Hand direkt vor das Gesicht. Im schwachen Licht, das von den Gartenlaternen durch die Fenster schien, erkannte ich das Glitzern der dunklen Flüssigkeit. Mein Kopf begann rhythmisch zu pochen. „Mist!“ Zornig stapfte ich zum Lichtschalter, den ich längst hätte anschalten sollen, dabei achtete ich sorgsam darauf, nicht wieder über was auch immer zu stolpern.
Helles Licht flutete den Raum und ließ
mich einen Moment benommen blinzeln.
Ich öffnete wieder die Augen und sah mich zwei durchdringend grünen Augen gegenüber. „Dawson!“, rief ich überrascht und sprang einen Schritt zurück. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Er was wieder da!
Ernst sah er mich an und gab keinen Laut von sich. Ich musterte ihn eingehend und erkannte, dass er sich kein bisschen verändert hatte. Natürlich nicht! Es waren gerade einmal zwei Tage!, rief ich mir ins Gedächtnis.
Noch immer sah er durchtrieben und unglaublich sexy aus.
Sein dunkles Haar stand ihm wild vom Kopf ab, die Augen schienen bis auf den
Grund meiner Seele zu blicken. Das schwarze Hemd spannte über seiner Brust und hätte er sich umgedreht, hätte ich einen Blick auf seinen mörderisch heißen Hintern werfen können.
Reiß dich zusammen!, ermahnte ich mich. Das ist immer noch Dawson. Arrogant. Selbstverliebt. Eingebildet. Nervig. Scheußlich. Trotzdem fühlte sich ein Teil von mir, ein kleiner Teil, nachdem was er am Todestag meiner Mum für mich getan hatte, zu ihm hingezogen.
Der pochende Schmerz in meinem Kopf erinnerte mich daran, dass ich verletzt war. Wirklich seltsam, dass Dawson ausgerechnet in diesem Moment
aufgetaucht war. Er hatte bei seinem Abgang irgendetwas unverständliches gemurmelt, vielleicht, dass ich es bereuen und er sich an mir rächen würde? Okay, das war ein bisschen sehr weit hergeholt. Aber ich glaubte einfach nicht an diesen Zufall!
„Was willst du hier?“, fauchte ich ihn an. Seine Mine blieb unverändert. „Ich rede mit dir!“, schrie ich nun beinahe. Doch wieder kam keine Regung. „Warst du das?“ Es machte mich wahnsinnig, dass er nichts sagte, sondern nur still dastand und mich mit diesem seltsamen Ausdruck ansah. War das etwa Mitleid? Warum? „Ich brauche eine Aspirin“, sagte ich mehr zu mir selbst und drehte
ihm den Rücken zu.
Meine Welt schrumpfte in sich zusammen. Ich konnte nicht atmen, mich nicht bewegen, meinen Blick nicht abwenden. Meine Augen hafteten sich auf das, was sich nun vor mir präsentierte. Ich war vorhin gestolpert. Ich hatte angenommen, dass Dad Einkaufstüten im Weg hat stehen lassen oder dass ich vergessen hatte, etwas wegzuräumen. Aber nein.
„Dad!“, hauchte ich tonlos. Meine Stimme war nicht stark genug. Sofort traten mir Tränen in die Augen und trübten meinen Blick. Wie durch einen nebligen Schleier nahm ich wahr, dass ich mich auf die Knie fallen ließ und zu
ihm kroch. Nein. Nein. Nein!, schrie es in meinem Kopf.
Mit ausgestreckten Gliedmaßen lag er auf dem Boden und rührte sich nicht. Er war blass. Kalter Schweiß ließ seine Haut glänzen. Panisch legte ich meine tauben Finger an seinen Hals und versuchte einen Puls zu fühlen. Nichts.
Ich nahm die Hand wieder weg, schüttelte sie und versuchte so, wieder Gefühl in sie zu zwingen.
Tief ein und ausatmen!, ermahnte ich mich und biss mir auf die Lippe bis ich Blut schmeckte. Ich merkte, wie sich Dawson mir gegenüber auf die andere Seite meines Vaters kniete. Auch er führte seine Hand an Dads Hals. „Ich
spüre seinen Puls“, sagte er schlicht und atemlos. Ich schüttelte den Kopf „Nein, ich habe nichts“, „Du bist viel zu aufgeregt!“, fiel Dawson mir ins Wort. „Was weißt du denn schon? Du existierst nicht!“
Immer mehr Tränen rannen mir über die Wangen. Innerlich zerbrach ich bei dem Gedanken, den Menschen, den ich am meisten auf der Welt liebte, verloren zu haben. Heftige Schluchzer schüttelten meinen Körper. Mein Herz verkrampfte sich. Dawson packte meine Hand und umschloss sie vorsichtig mit seiner. Seine Haut war warm und hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Das Zittern meiner Finger erstarb. Langsam
führte er meine Hand zurück an Dads Halsschlagader. Mit angehaltenem Atem wartete ich. Ich wartete, wartete und betete um ein Wunder.