Roter Samt
10. Kapitel
August 1945
Ich wohne immer noch bei Pfarrer Gehrke. Im Französichen Sektor.
Im Juni hat er mich in die Rethelstraße begleitet. Sie gehört jetzt zum russischen Sektor. Überall trafen wir auf Soldaten. Auf Umwegen gelangten wir in die Frankfurter Allee. Wo einmal unsere Schneiderei war, türmten sich Trümmerberge. Wir passierten Kontrollstellen, wurden befragt. Endlich waren wir in Treptow. Auch dort begegneten uns Soldaten. Viele. Sie blickten auf Jakob, der in seinem inzwischen für ihn zu klein
gewordenen Kinderwagen saß. Ein Lächeln stahl sich in ihre Gesichter. Junge Gesichter, die gezeichnet waren. Ich dachte an Hans. Wo ist er jetzt, wie geht es ihm?
Vor meinem Haus blieben wir stehen, blickten zu den Fenstern meiner Wohnung hinauf. Wo waren die Gardinen? Wir gingen weiter. Ich wollte zu Frau Knecht, wollte wissen ob es sie noch gibt und hoffte, dass ich sie in die Arme würde schließen können.
... und dann lagen wir uns in den Armen.
Pfarrer Gehrke und Frau Knecht kannten sich nicht. Aber beide kennen Wilhelm - nein, kannten ihn.
„Er ist gefallen“, erzählte Frau Knecht.
„Kurz vor Kriegsende wurde er zum Volkssturm einberufen. Weit musste er nicht
gehen. Vor den Toren Berlins war sein Leben zu Ende.“
Ich bin traurig, sehr traurig. Wozu, wofür ... und die vielen anderen.
Von Hans hatte sie nichts gehört. Der Krieg war ja erst vier Wochen vorbei.
August 1945
Heute war ich wieder bei Frau Knecht. Das dritte Mal seit Kriegsende. Es gibt viel zu erzählen.
Einmal hat sie mich in Alt-Tegel besucht und mir meine Papiere gebracht. Sie hatte sie gut verwahrt.
„Ihren Schmuck und das Geld, das Sie bei mir gelassen haben, gebe ich Ihnen nach und nach, Frau Marquardt. Wenn Sie das
nächste Mal zu mir kommen, nehmen Sie schon etwas mit. Sie müssen es gut in der Kleidung verstecken. Wenn Sie in eine Kontrolle geraten, ist alles weg.“
Ich bin fassungslos. Sie hat alles aufbewahrt. Doch das Geld wird uns helfen auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel zu bekommen. Sie sind jetzt noch knapper als zu Kriegszeiten.
Zum ersten Mal erlebe ich, dass mein Pass mit dem roten „J“ mir einen Vorteil bringt.
In meiner Wohnung lebt eine russische Militärärztin. Frau Knecht hat es mir schon bei unserem ersten Wiedersehen erzählt.
Heute waren wir bei ihr. Ich habe den Rat von Frau Knecht befolgt und Jakob mitgenommen. Ein Soldat öffnete die Tür, die
notdürftig mit Sperrholzplatten versehen ist. Hinter ihm erschien eine große stämmige Frau in Uniform. Sie sprach Deutsch. Unfreundlich fragte sie uns, was wir wollten. Frau Knecht erklärte ihr, dass ich dort gewohnt hätte, mich aber vor den Nazis verstecken musste, weil ich Jüdin sei. Ich selbst brachte kein Wort heraus.
„Ausweis“, forderte mich die Ärztin im Befehlston auf. Dann sagte sie zu mir:
„Komm´ in vier Wochen wieder! Wohnung dann frei!“
Mit meinen Eltern konnte ich noch keinen Kontakt aufnehmen. Morgen gehe ich in den britischen Sektor. Ich werde wieder einen Passierschein brauchen.
November 1945
Ich habe den ersten Brief von meinen Eltern bekommen - mit einem Bild von Benjamin. Über die britische Kommandantur. Es geht ihnen gut. Wann habe ich in den vergangenen Jahren so ein Glücksgefühl empfunden? Doch Tante Mary ist tot. Meine Eltern sind aus London weggezogen und leben jetzt mit Benjamin bei Onkel Eduard im Cottage. Es ist groß genug.
Ich habe ihnen sofort geantwortet. Ihnen geschrieben, dass es mir gut geht, besser als anderen. Dass ich auf Hans warte, er sicher in Gefangenschaft ist und dass ich noch ein Kind habe. Ich lasse sie in dem
Glauben, dass es von Hans ist. Da wir keinen Kontakt hatten, wissen sie ja nicht, wann genau Hans eingezogen wurde. Warum soll ich sie mit meinem Erlebten belasten? Ich muss mit dieser Lüge leben. Pfarrer Gehrke hat auch gelogen, oft genug ... für mich, wahrscheinlich auch für andere. Was wird sein Gott auf der Waagschale seiner Taten bewerten? Seine Lügen oder seine Menschlichkeit?
Ich wohne wieder in unserer Wohnung. Das Wohnungsamt wollte, dass ich noch zwei Mieter aufnehme. Die russische Ärztin - sie kannte inzwischen meine Geschichte - hat das abgelehnt. Es gibt noch einen Ehemann und ein zweites Kind. Die Wohnung wäre voll
belegt, hat sie dem Amt klar gemacht - nachdrücklich. Sie gehörte zur Besatzungsmacht ... und das zählte.
Ich habe kaum Möbel in der Wohnung. Was noch vorhanden ist, ist stark beschädigt. Wo der Rest geblieben ist, weiß ich nicht. Nur Hans´ Schreibtisch ist unversehrt. Es war wohl zu schwierig, ihn aus der Wohnung zu transportieren. Dass niemand Brennholz aus ihm gemacht hat, wundert mich. Anderen geht es schlimmer als mir.
Frau Stranz und Frau Wilsberg, zwei verwitwete Schwestern, leben auch noch in der Nebenwohnung. Sie gaben sich immer sehr zurückhaltend, aber nie abweisend. Ein Mann wohnt jetzt bei ihnen. Vielleicht ein
Verwandter. In die Wohnung über mir ist die russische Ärztin eingezogen. Die vorigen Mieter mussten ausziehen. Die ehemalige Hausmeisterwohnung im Parterre ist völlig zerstört - eingeschlagene Fensterscheiben, die Wohnungstür mit Brettern vernagelt. Die anderen Mieter kenne ich nicht. Sie sind neu.
Februar 1946
Es gibt wieder eine Jüdische Gemeinde in Berlin. Sie wollen Kontakt mit der Jüdischen Gemeinde in London aufnehmen. Mutter schrieb mir, dass Vater auch schon etwas unternommen hat, um Benjamin wieder nach Deutschland zu bringen. Vielleicht sollte ich mich an den „Zentralen Frauenausschuss für Kinderrückführung“ wenden.
Ich habe Zweifel. Ist es richtig, Benjamin von seinen Großeltern zu trennen? Dort ist sein Zuhause. Mich kennt er nicht. Ich bin eine Fremde für ihn. Ist es besser nach England zu gehen?
Nein, ich werde auf Hans warten. Er soll mich hier finden ... und Benjamin. Was wird er zu Jakob sagen?
März 1946
Heute war ich auf dem Bergungsamt. Ich wollte Möbel kaufen. Doch als ich die Möbel sah, die aus NSDAP-Vermögen stammten bzw. bei deren Mitgliedern beschlagnahmt wurden, wollte ich sie nicht. Sie gehörten vielleicht einmal Juden. Wurden ihnen gestohlen.
März 1946
Kein Lebenszeichen von Hans. Ich war wieder beim Deutschen Roten Kreuz. Es gäbe so viele Vermisste, sagten mir die Mitarbeiter.
April 1946
Meine Eltern haben ein Paket geschickt. Zu Pfarrer Gehrke. Lebensmittel, Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak. Den Tabak habe ich Pfarrer Gehrke gegeben. Er raucht Pfeife. Ich besuche ihn oft. Dann brauche ich immer einen Passierschein.
Auf den Schwarzmarkt gehe ich selten. Frau Knecht begleitet mich dann. Niemand will
Schmuck gegen Lebensmittel eintauschen. Wer kann schon Schmuck essen?
Juni 1946
Wieder ein Paket von meinen Eltern. In der Schokoladenverpackung war Geld versteckt.
Jakob hat eine Angina. Ich ging mit ihm zu Dr. Klein. Er ist Jude und hat am Treptower Park eine Praxis eröffnet. Praktischer Arzt und Geburtshelfer steht auf dem Schild an der Hauswand. Sein Wartezimmer war überfüllt. Mit anderen musste ich im Treppenhaus warten. Jakob klammerte sich an mein Bein. Ich streifte seine Hände ab und schämte mich dafür, wie so oft.
Auf dem Rückweg kamen Soldaten über die
Fahrbahn. Sie kamen aus dem Treptower Park. Er ist verwüstet. Soldaten der russischen Armee sind dort stationiert.
Frau Knecht hat mir erzählt, dass es kurz vor Kriegsende dort erbitterte Kämpfe gab. SS-Leute hatten sich verschanzt. Der Park wurde sogar bombardiert.
Meine ungestellte Frage wurde von ihr beantwortet.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie.
„Ich habe ihn seit Kriegsende nicht mehr gesehen. Seine Frau und den Jungen auch nicht.“
Juli 1946
Heute früh war Tumult im Haus. Ich hatte Angst. Vorsichtig schob ich die Gardine ein
Stück zur Seite Pfarrer Gehrke hat sie mir gegeben. Wo er sie nur aufgetrieben hat? Jetzt habe ich schon in zwei Zimmern Gardinen. Auf der Straße standen Männer mit Leitern und ein Kohlenwagen - ohne Kohlen. Von den beiden Schwestern erfuhr ich später, dass unten eine Bäckerei eingerichtet werden soll.
Juli 1946
Frau Knecht arbeitet an drei Tagen in der Woche bei Dr. Klein. Sie führt die Patientenakten und hilft im Haushalt. Die Frau von Dr. Klein hilft ihm in der Sprechstunde.
An den anderen Tagen kommt sie zu mir, hilft
mir, macht mit mir Behördengänge. Habe ich mit deutschen Behörden zu tun, begegnet mir oft Ablehnung.
Auf den Stadtkommandanturen ist man immer freundlich zu mir.
Frau Knecht - was ist sie mir? Lebensretterin, Freundin, Schwester? Alles in einem! Wir sagen immer noch „Sie“ zueinander.
Keine Nachricht von Hans. Das wäre nicht ungewöhnlich, sagt das DRK. Aus russischen Kriegsgefangenenlagern kommen selten Nachrichten.
September 1946
Die russische Ärztin ist ausgezogen. Nach Karlshorst. Dort hätte sie ein Haus für sich allein, erzählte sie mir.
Jetzt wohnt eine Frau mit drei Kindern über mir. Das jüngste Kind ist eine niedliche Rothaarige. Sie hat ein keckes Gesicht.
Oktober 1946
Heute war ich bei Pfarrer Gehrke. Er hat eine Bronchitis. Hoffentlich ist es nichts Schlimmeres. Ich bin wieder nachhause gefahren, habe Geld geholt und zum ersten Mal allein auf den Schwarzmarkt gegangen. Der Honig, den ich gekauft habe, hat ein Vermögen gekostet. Das macht nichts. Meine Eltern schicken mir jeden Monat Geld. Dann bin ich wieder zu Pfarrer Gehrke gefahren. Heißer Tee mit Honig wird seine Beschwerden lindern. Ich war den ganzen Tag unterwegs. Jakob war bei Frau Knecht.
Oktober 1946
Den ganzen Tag nach einem Bezugsschein für Einkellerungskartoffeln angestanden. Einen Bezugsschein für Textilien brauche ich auch noch.
Oktober 1946
Frau Knecht hat mir heute erzählt, dass die Frau, die über mir eingezogen ist ihre Schwester sei.
"Sie ist so verbohrt, dass es schon krank ist. So erzieht sie auch die Kinder. Die beiden älteren gehen mir aus dem Wege. Der Kontakt mit mir wurde ihnen verboten. Die Jüngste strahlt mich immer an, wenn ich ihr im
Treppenhaus mit ihren Geschwistern begegne. Mein Schwager ist kurz nach dem Krieg spurlos verschwunden. Ich wusste nie wo und was seine Arbeit war."
Warum hat sie mir das erst heute erzählt? Es bedrückt sie sehr.
Oktober 1946
Benjamin kommt. Im November. Die jüdische Gemeinde hat mir das mitgeteilt. Ich bin aufgeregt, muss immer wieder weinen. Frau Knecht freut sich auch.
„Er war so klein als ich ihn zum Zug brachte“, sagte sie.
Oktober 1946
Mutter hat geschrieben. Sie schreibt selten, weil sie Probleme mit den Augen hat. Sie schreibt, dass Vater und Benjamin am 27. November mit einem Frachtschiff in Bremen eintreffen werden. Nur fünf Tage später fährt er mit dem gleichen Schiff nach England zurück. Es ist zu riskant für ihn nach Berlin zu kommen, weil er nicht weiß, welche Genehmigungen er braucht. Die Zeit wäre zu knapp. Ich müsste nach Bremen kommen und Benjamin abholen.
Ich brauche einen Interzonenpass.
November 1946
Heute habe ich einen Antrag für einen Interzonenpass bei der örtlichen Militärregierungsabteilung gestellt. Erst wollte man ihn nicht annehmen. Nur Geschäftsreisende können einen Antrag stellen, sagte mir der Mitarbeiter. Er war in Zivil.
„Ich habe meinen Sohn sechs Jahre nicht gesehen“, sagte ich, „jetzt kann ich ihn zurückholen.“
Der Mitarbeiter holte einen Vorgesetzten. Ein Offizier betrat den Raum, sah sich meinen Pass und meine Papiere von den Jüdischen Gemeinden in Berlin und London an.
Er sagte etwas auf Russisch zu dem Mitarbeiter.
„Sie können den Pass in zwei Wochen abholen“, sagte der Mitarbeiter.
März 1947
Benjamin ist jetzt fast vier Monate hier. Die Tage vergehen wie im Fluge. Immer wieder entdecke ich Neues an ihm. Der Abschied von seinem Großvater ist ihm schwergefallen. Er wollte nicht mit mir gehen. Wir hatten doch nur wenige Tage um uns kennenzulernen. Vater hat geweint, Benjamin hat geweint ... und ich habe mich zum hundertsten Mal gefragt, ob es richtig ist, was ich tue.
Das Wiedersehen mit meinem Vater war von Tränen und von glücklichem Lachen begleitet. Wir konnten nicht aufhören uns zu
umarmen.
Vater gab mir das Märchen „Die kleine Meerjungfrau“.
„Mutter hat es Benjamin oft vorgelesen. Er liebt es sehr“, sagte er.
„Jakob ist ja dafür noch zu klein ... ist er bei Frau Knecht gut aufgehoben?“, setzte er in gleichem Atemzuge fort. Ich hatte sie schon in meinen Briefen erwähnt. Beruhigend habe ich mit dem Kopf genickt. Ich wollte nicht über Jakob sprechen. Zu Benjamin habe ich gesagt, dass wir irgendwann einmal nach Kopenhagen fahren und uns die kleine Meerjungfrau ansehen.
Keine Nachricht von Hans.
August 1947
Ich habe recht ordentliche Möbel aus einer Tischlerei bekommen. Die Wohnung sieht schon beinahe gemütlich aus. Doch Benjamin fragt immer wieder, warum wir dieses oder jenes nicht haben.
„Großmutter und Großvater haben so etwas“, sagt er dann.
Er vermisst seine Großeltern.
Oktober 1947
Ich war bei Pfarrer Gehrke. Er ist nicht mehr so gut zu Fuß. Doch seiner Gemeinde steht er immer noch vor.
Mein Vater ist genauso alt wie er. Er leitet jetzt die Tuchmanufaktur allein. Onkel Eduard ist krank und hat ihm seine Anteile überschrieben. Vater schrieb, dass er einen Geschäftsführer wird einstellen müssen. Mutter geht es gut.
Das Paket von meinen Eltern habe ich bei Pfarrer Gehrke geöffnet. Den Tabak gab ich ihm gleich. Er freut sich immer. Den Tee habe ich ihm auch dagelassen. Es war dieses Mal ein sehr großes Paket. Meine Mutter hat mir Wolle geschickt. Jetzt kann ich Pullover für die Kinder stricken. Der letzte Winter war so kalt.
Juni 1948
Es gab eine Währungsreform. Jetzt gibt es unterschiedliches Geld für die westlichen Besatzungszonen und die russische Besatzungszone. Ich weiß gar nicht, wie ich das Geld, das mir meine Eltern monatlich schicken eintauschen soll. Alle reden von einer Blockade. Was bedeutet das?
Dezember 1948
Weihnachten ist vorbei. Am christlichen Heiligen Abend kam Frau Knecht. Ich hatte die Kaffeetafel mit Kerzen und Tannengrün dekoriert. Frau Knecht hatte einen Napfkuchen gebacken, ich hatte Bohnenkaffee und für die Kinder Kakao und
Kekse. Benjamin bekam zwei Bücher und Jakob zwei Handpuppen. ... und beide bekamen einen Strickpullover. Frau Knecht hatte Weihnachtssterne gebastelt. Benjamin und Jakob hingen sie auf, wo sie einen geeigneten Platz dafür fanden. Für Frau Knecht habe ich auch einen Pullover gestrickt. Mutter schickt mir noch Wolle.
Am ersten Feiertag sind wir alle am Nachmittag zu Pfarrer Gehrke gefahren. Ich habe Bohnenkaffee und Schokolade für ihn mitgenommen. Am 27. Dezember zündete ich die erste Kerze des Chanukka-Leuchters an. Ich tat das für Benjamin. Er kennt es so von seinen Großeltern.
Benjamin fühlt sich jetzt hier wohl. Er hat
Freunde gefunden und er liebt seinen jüngeren Bruder. Frau Knecht mag die Kinder auch sehr gern. Nur ich kann Jakob keine Liebe schenken.
Oktober 1949
Deutschland ist jetzt geteilt. Zweimal Deutschland. Ich gehöre jetzt zu Ostdeutschland, Pfarrer Gehrke zu Westdeutschland. Wie soll das gehen?
Frau Knecht sagt, dass die Zeit es zeigen wird. Was wird sie zeigen? Vier Jahre nach Kriegsende neue Konflikte?
Der Mann von Frau Klinger ist aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen. Er hat einen Arm verloren. Dass er die
Gefangenschaft überlebt hat ist ein Wunder. Wenn er sich erholt hat, wollen sie ihren Lebensmittelladen wieder aufmachen.
Dass Herr Klinger wiedergekommen ist, gibt mir Hoffnung. Ich warte auf Hans.
Annegret blätterte weiter. Die wenigen Eintragungen in den folgenden Jahren bezogen sich überwiegend auf Erlebnisse und Ereignisse, die Benjamin betrafen. Häufig gab sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass Hans kommen würde. Man hört immer wieder, dass ein Spätheimkehrer zurückgekommen sei, schrieb sie. Voller Dankbarkeit erwähnte sie, dass es ihr durch die Zuwendungen ihrer Eltern, besser als anderen gehen würde.
Jakob wurde von ihr kaum erwähnt. Eine
Eintragung, die ihre ablehnende Haltung gegenüber Jakob wieder sehr deutlich zum Ausdruck brachte war vom Juli 1953.
Juli 1953
Jakob kam heute mit einem sehr guten Zeugnis aus der Schule. Ich sah in seine erwartungsvollen Augen - Meinkes Augen - und quälte mir ein "gut gemacht" ab. Den missbilligenden Blick von Frau Knecht habe ich bemerkt.
Später sagte sie zu mir:
"Er ist ein Kind, Frau Marquardt. Er trägt keine Schuld."
Welche Tragik, dachte Annegret - das Furchtbare, das Frau Marquardt erleben
musste in Jakob immer vor Augen zu haben,
unfähig eine Differenzierung vorzunehmen.
Die nächsten Seiten beinhalteten wenig Neues. Doch die letzten beiden Eintragungen weckten auch bei Annegret wieder Erinnerungen.
April 1955
Es war eine entsetzliche Nacht. Warum kann ich die Vergangenheit nicht aus meinem Gedächtnis löschen wie einen Fleck, den ich von meiner Bluse entferne.
Ich konnte nicht schlafen und bin aufgestanden um ein Glas Wasser zu trinken. Ich öffnete das Fenster einen Spalt. Vom Park hörte ich ein Käuzchen rufen. Dann fiel mein Blick auf die Straße. Im Schein der
Straßenlaterne erkannte ich ein Sühnekreuz - mit Kreide auf die Fahrbahn gezeichnet. Ich musste weinen, konnte nicht mehr aufhören.
Als Frau Knecht am Morgen kam hatte ich mich immer noch nicht beruhigt.
Später am Tage habe ich vom Fenster immer wieder auf das Kreuz geschaut. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Es war genauso gezeichnet wie in meinem Tagebuch. Die gleichen Unregelmäßigkeiten. Jakob hat das Tagebuch gefunden. Er hat es gelesen und alles verstanden. Er ist intelligent. Deswegen hat er mich heute so aufmerksam beobachtet. Wollte er meine Reaktion sehen? Er darf das Tagebuch nie wieder in die Hände bekommen.
Annegret holte tief Luft. Hatte wirklich Jakob das Sühnekreuz auf die Fahrbahn gezeichnet? ... die vermeintliche Hopse?
Doch was Frau Marquardt schrieb, schien schlüssig.
Annegret blickte auf die Uhr. 02,00 Uhr. Doch die letzte Eintragung wollte sie jetzt auch noch lesen.
Mai 1955
Ich kann nicht mehr weinen. Meine Tränen sind versiegt. Übriggeblieben ist Schmerz. Schmerz, der jede Faser meines Körpers durchströmt, der mir den Schlaf raubt, mich jede Minute des Tages spüren lässt, dass Benjamin tot ist. Vor vier Tagen haben wir ihn
beerdigt. Frau Knecht, Frau Klinger, sogar
die beiden nunmehr schon recht betagten Schwestern von nebenan sind diesen schweren Weg zum Grab mit mir gegangen ... und Pfarrer Gehrke. Er läuft jetzt am Stock.
Als ich den Schuss hörte, glaubte ich, er käme von der Straße. Das Fenster war offen. Nur langsam wurde mir bewusst, dass er aus Benjamins Zimmer kam. Er lag auf dem Bett, halb zur Seite gerollt. Blut auf dem Kissen, auf dem Laken. Nicht viel. Ich sah, dass er tot war und hoffte doch, Dr. Klein könne Wunder vollbringen.
"Ich muss die Polizei verständigen, Frau Marquardt", sagte er.
"Wo hat er die Waffe her?", fragte mich ein Polizist.
Ich wusste es nicht. Es gab noch genug
Trümmer, in denen Waffen oder Munition gefunden wurden. Er war jung, stromerte mit seinen Freunden herum.
"Ist noch jemand in der Wohnung?", fragte derselbe Polizist.
"Jakob, mein jüngerer Sohn. Er ist noch ein Kind."
"Selbstmord", sagte der leitende Kommissar.
Ich schüttelte den Kopf.
"Er war das erste Mal verliebt. Er war glücklich."
"Liebeskummer, ein starkes Motiv", beharrte der Kommissar.
"Er wird jetzt in die Gerichtsmedizin gebracht, doch können Sie ihn sicher bald beerdigen."
Er hatte noch so viel gesagt. Ich hörte nicht zu.
"Wo ist ihr anderer Sohn?", fragte der Kommissar.
Diese ganz normale Frage vergrößerte mein Entsetzen noch.
Warum hatte er sich nicht einmal sehen lassen? Es war Tumult in der Wohnung, fremde Leute, fremde Stimmen. Er musste den Schuss gehört haben - wie ich.
An vieles, was an dem Abend gesprochen wurde, kann ich mich gar nicht mehr erinnern.
Doch eines weiß ich. Benjamin hat sich nicht umgebracht. Vielleicht war es ein Unfall.
... und warum verfolgt mich der Gedanke, dass Jakob etwas damit zu tun hat?
Ich wollte leben - für Benjamin, für Hans und
meine Eltern. Hans gilt als vermisst. Irgendwo in den Weiten Russlands ist sein Grab. Das ist inzwischen für mich zur Gewissheit geworden. Das andere Grab ist hier in Berlin. Benjamins Grab.
Meine Eltern leben noch. Ich werde Deutschland verlassen. Vielleicht werde ich in London, vielleicht aber auch bei meinen Eltern im Cottage leben. Jakob wird auf ein Internat gehen.
Frau Knecht kann meinen gesamten Hausrat verkaufen und den Erlös behalten. Gestern habe ich ihr als Andenken meine Kette mit dem großen Anhänger geschenkt. Wenn ich sie trug, hat sie die Muschelgemme immer bewundert. Sie will weder das Geld aus dem Verkauf noch wollte sie die Kette annehmen.
Ich brauchte meine ganzen Überredungskünste um sie dazu zu bewegen.
Heute früh brachte sie mir auch ein Geschenk.
"Das ist der Wohnungsschlüssel, der Ihnen einmal das Leben gerettet hat", sagte sie.
Trotz meines Kummers musste ich lächeln.
"Sie waren das", antwortete ich ihr.
Und sie wird es auch sein, die ab und an einen Stein auf Benjamins Grab legt, ihm einen Gruß mit diesem "Anklopfen" hinterlässt.
Warum schreibe ich diese letzten Zeilen? Ich weiß es nicht, denn das Tagebuch werde ich nicht mitnehmen. Ich lasse es bei Frau Knecht. Für immer! Jakob darf es nicht noch einmal in die Hände bekommen. Ich glaube,
er würde es vernichten. Doch wäre das so schlimm? Wer soll es jetzt noch lesen?
Betroffen schloss Annegret das Buch. Doch sie öffnete es wieder und ließ nachdenklich die Seiten durch die Finger gleiten. Benjamin hatte also Selbstmord begangen. Oder nicht? Beim Lesen der letzten Zeilen von Frau Marquardt war es ihr eingefallen. Ihre Mutter hatte es Tante Grete am Telefon erzählt. Benjamin war nicht einfach nur gestorben. Hatte Jakob wirklich etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun? Er war doch erst elf Jahre alt gewesen. Hatte man damals nicht sorgfältig genug ermittelt? Oder gab es die Möglichkeiten noch nicht, waren die Voraussetzungen für grundlegende
Ermittlungen noch nicht vorhanden? Wenn Benjamin Selbstmord begangen hätte, wären doch Schmauchspuren an seinen Händen nachzuweisen gewesen.
... oder an Jakobs Händen?
Bevor sie das Band um das Buch schlang und verknotete, faltete sie die losen Seiten ordentlich zusammen und legte sie hinein.
Es war 02,45 Uhr als sie das Licht ausschaltete.
© KaraList 10/2015