Roter Samt
9. Kapitel
Juni 1943
Heute Morgen war ein Luftangriff. Natürlich kann ich nicht in den Luftschutzkeller. Mich gibt es nicht mehr. Frau Knecht erzählte mir, dass schon einen Tag später, nachdem man mich aus dem Haus gebracht hatte, SA-Leute in meine Wohnung eingedrungen sind und blindlings gewütet hätten. Danach haben sie die Wohnungen der anderen Mieter des Hauses durchsucht. Und wieder frage ich mich, wohin ich zuerst gebracht wurde, nachdem man mich gefunden hatte? Vielleicht zu jemandem aus dem Haus. In
Gedanken gehe ich die Mieter durch. Mir fällt keiner ein, der sich dieser Gefahr aussetzen würde. Ich werde es wohl nie erfahren.
Von Hans hatte ich bis zu diesem schrecklichen Tag noch keine Nachricht bekommen. Jetzt ist es aussichtslos. Wohin sollte die Post gehen? Frau Knecht kann den Postboten ja nicht nach einem Brief für Frau Marquardt fragen. Aber ich habe Nachricht, dass Benjamin bei meinen Eltern ist auch wenn das Datum auf dem Formular schon einige Jahre zurückliegt. Ich male mir aus, dass Benjamin mit ihnen im Cottage meines Onkels lebt, dass er im Garten spielt, dass er behütet wird. Onkel Eduard war damals so froh, dass mein Vater endlich Deutschland verlassen hatte. Wie lange hatte er versucht,
seinen Bruder zu diesem Schritt zu bewegen. Er bot ihm sofort die Teilhaberschaft in der Tuchmanufaktur an. Onkel Eduard und Tante Mary sind kinderlos. Immer wieder schaue ich mir das so unscheinbare Formular an. Wende es hin und her, halte es gegen das Licht um die Schrift besser erkennen zu können. Ich muss damit aufhören, sonst werde ich es gar nicht mehr lesen können, weil es so abgegriffen ist.
Wie ist Frau Knecht zu diesem Schreiben gekommen? Seit Februar existiert die jüdische Gemeinde in Berlin nicht mehr. Außerdem ist der Postverkehr von und nach England eingestellt. Sie schweigt.
Annegret dachte an Frau Knecht. Tante
Hedwig, wie sie sie später nannte. Die Hannelore mehr eine Mutter war, als ihre eigene es je gewesen ist. Wie ist das Tagebuch in ihren Besitz gekommen? Annegret blätterte weiter. Doch dann schlug sie einige Seiten zurück und blickte wieder nachdenklich auf die Zeichnung. Sie fuhr mit dem Finger über die Linien des Kreuzes, zeichnete den Kreis nach, der es umrundete. Himmel und Hölle! Dieser Gedanke durchzuckte sie. Und dann war sie da die Erinnerung. Sie waren Kinder, wollten Hopse spielen und entdeckten eine neue Hopse. Dieses Sühnekreuz! Welches Kind zeichnete mit Kreide ein Sühnekreuz auf die Fahrbahn? Oder war es kein Kind? Annegret ahnte, dass es eine Verbindung zu dem gab, was
Frau Marquardt erlebt hatte. Und noch ein Gedanke keimte in ihr. Doch den schob sie erst einmal beiseite. Sie konzentrierte sich auf die nächste Eintragung.
Juni 1943
Ich werde den Dachboden verlassen. Heute am frühen Abend. Wenn die Familie, so sie noch eine ist, beim Abendessen sitzt.
„Sie müssen weg, Frau Marquardt.“
Die Worte von Frau Knecht drangen nicht sofort in mein Bewusstsein.
„Seit Tagen durchsuchen SA und Gestapo die Häuser rund um den Treptower Park. Wohnungen, Keller, Dachböden. Sie sind hier nicht mehr sicher. Sie werden in eine Laubenkolonie gebracht.“
Ich zitterte am ganzen Körper. Was sollte ich in einer Laubenkolonie? Wie sollte ich dorthin kommen? Ich war noch sehr schwach. Wer würde mich aufnehmen, mich verstecken? Doch würde ich hier gefunden werden ... was dann? Meine kaum verheilten Narben, die Fragen, wer mir geholfen hatte - und wo würde ich enden?
... und wo würde Hans nach mir suchen, wenn er denn käme?
Hier würde er wahrscheinlich Frau Knecht aufsuchen.
Natürlich weiß ich, dass ich nicht für immer hierbleiben kann. Doch dass ich so plötzlich diesen Ort verlassen muss, diesen Platz hinter dem Bretterverschlag, der meine Qualen, meine Verzweiflung mit mir geteilt
hatte - und doch meine Zuflucht war. Ich habe Angst. Wann hatte ich die nicht in den vergangenen Monaten, Jahren.
Ich bin jetzt Edith Klamm, wohnhaft in der Heidelberger Straße. Das heißt, ich wohnte dort. Das Haus wurde von Bomben zerstört. Ich war gerade bei meinem Onkel in der Gürtelstraße als Fliegeralarm gegeben wurde. Als ich nachhause kam, gab es nur noch Trümmer. Ich habe nur noch meinen Postausweis - nichts weiter. Jetzt wohne ich bei meinem Onkel. Diese Legende flüstere ich seit heute Morgen vor mich hin. Sollte ich in eine Kontrolle kommen, weiß ich nicht, ob ich die Nerven haben werde, glaubhaft zu antworten. Das Bild auf dem Postausweis ist
sehr schlecht. Der Ausweis muss einmal nass geworden sein.
Gut so. Doch ich habe einen Verband um meinen Kopf. Er verändert mein Gesicht etwas. Sogar Blut ist am Verband. Mein eigenes. Frau Knecht weiß, was zu tun ist. Ich habe mich an den Trümmern verletzt, weil ich glaubte, in ihnen etwas gesehen zu haben, das mir gehört.
Mir wird übel. Ich gehe in die Nähe der Bodenluke und atme tief durch.
Das Haus muss ich allein verlassen und zur Straßenbahnhaltestelle gehen. Dort wartet Wilhelm auf mich. Ich kenne ihn nicht. Er wird mich erkennen, sagt Frau Knecht.
Nachts werden oft Kontrollen durchgeführt, deshalb muss ich am Tage zur
Laubenkolonie. Der Weg bis zur Haltestelle wird der gefährlichste. Das ist mir bewusst. Es ist meine Wohngegend. Ich könnte erkannt werden.
Etwas anderes Schweres steht mir noch bevor. Ich habe lange überlegt, ob ich Frau Knecht das Schreckliche sagen soll. Doch ich muss. Gerade jetzt da namenlose Helfer ihr Leben aufs Spiel setzen. Die Gefahr wird immer größer. Für mich und die Menschen, die so selbstlos handeln. Seit einer Woche bin ich sicher. Ich erwarte ein Kind. Von Meinke.
Ich habe die Decken zusammengelegt, die Kanne mit dem Rest Wasser neben die Tür gestellt, meinen Teller und zwei Trinkbecher
hat Frau Knecht schon mitgenommen, wie auch den Schmuck. Sie soll ihn verkaufen, wenn es nötig ist. Ich habe ihn von meiner Großmutter geerbt. Anders kann ich Frau Knecht nicht danken. Ihre Lebensmittelkarte hat sie schon mit mir geteilt. Vielleicht haben auch andere etwas hinzugesteuert. Ich weiß es nicht. Ich weiß so vieles nicht. Das Geld, das ich ihr geben wollte, lehnte sie ab.
„Das werden Sie brauchen, Frau Marquardt“, sagte sie.
Trotzdem lasse ich den größten Teil bei ihr. Hans hatte bevor er Prokura erteilen musste vorgesorgt. Er hatte wohl eine Ahnung.
Als ich sie in den Arm nahm konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Worte fand ich nicht. Würde ich sie wiedersehen?
Ich werfe noch einen prüfenden Blick hinter den Verschlag, bewege mich fast lautlos wie immer. Nichts darf darauf hindeuten, dass sich hier jemand aufgehalten hat.
Das ist meine letzte Eintragung in dieses Buch. Ich gebe es nachher Frau Knecht. Langsam blättere ich noch einmal die Seiten zurück. Suche nach den schönen Momenten, die ich festhalten wollte. Ich finde keine.
Annegret holte tief Luft. Natürlich. Warum war ihr das nicht eingefallen? Die Liebe zu Benjamin, die aus den Eintragungen von Frau Marquardt sprach, hatte ihr Augenmerk nur auf ihn gerichtet. Doch sie hatte zwei Söhne. Jakob! Sie erinnerte sich sofort an seinen Namen. Er ging in ihre Klasse.
Ein stiller, blonder Junge. Nie spielte er mit anderen Kindern. Und dann fiel ihr noch etwas ein. Benjamin war gestorben. Wie war das nur damals? Annegret blätterte weiter. Es folgten nur leere Seiten. Sie war enttäuscht. Aber Frau Marquardt hatte es erwähnt. Doch dann stieß sie erneut auf Eintragungen. Wenige. Jahre später datiert.
Sie griff nach den losen Seiten. Vielleicht gaben sie Aufschluss. Nachdem sie die ersten Seiten überflogen hatte, war ihr alles klar. Sie beinhalteten die Zeit, die Frau Marquardt in der Laubenkolonie verbrachte. Annegret versuchte die Seiten zu ordnen, die Chronologie herzustellen. Teilweise fehlte die Monatsangabe. Eine Datumsangabe wurde von Frau Marquardt ja nie gegeben.
Eine Eintragung, die Annegret für die erste hielt, war auf weißem Briefpapier geschrieben - mit Bleistift. Die Schrift war schon verblasst, aber lesbar.
Seit vier Wochen bin ich in einer Laubenkolonie in Lichtenberg. Wilhelm kommt jeden zweiten Tag und bringt mir ein Essgeschirr mit warmem Essen, etwas Brot, Schmalz, manchmal zwei gekochte Eier, auch ´mal einen Klecks Butter. Immer bringt er eine kleine Flasche Milch mit. Wie macht er das? Lebensmittel sind rationiert. Er muss auch leben. Ich bot ihm Geld an. Für den Schwarzmarkt. Er hat es nicht genommen.
„Vielleicht später“, sagte er.
Er ist wortkarg. Ich habe ihn gefragt, warum er
mir hilft - sich so großer Gefahr aussetzt?
„Scheiß Nazis“, war seine Antwort.
Mehr sagte er nicht.
Wenn er im Garten ist, bleibt er meistens zwei oder drei Stunden. Ich kann die Laube verlassen und helfe ihm bei seiner Arbeit. Blumen gießen, Unkraut jäten, seine Kartoffeln anhäufeln. Es sind die schönsten Stunden des Tages. Für die Hilfe ist er sehr dankbar. Offenbar hat er ein Rückenleiden. Ich schätze ihn auf Mitte Fünfzig. Er spricht nicht über sich. Wenn wirklich einmal jemand den Kolonieweg entlang kommt und ein Gespräch am Zaun sucht, hält die Legende von der Nichte her, die ihn in den Garten begleitet. Meinen Verband habe ich entfernt, ihn sorgfältig aufgerollt und aufgehoben.
Verlässt er den Garten, ist es für mich Zeit, wieder in die Laube zu gehen. Ich ziehe die Vorhänge zu und verhalte mich still. Ich habe Übung darin. Ich darf kein Licht anmachen, noch nicht einmal eine Kerze anzünden. Ihr flackernder Schein könnte durch die geschlossenen Vorhänge dringen. Aber die Tage sind lang. Es ist gut, dass Sommer ist. Manchmal koche ich mir am Abend Pfefferminztee. Wilhelm hat ihn getrocknet. Eigene Ernte sagt er. Vom Vorjahr. Ich darf die elektrische Kochplatte nicht zu häufig benutzen. Die Heizspiralen liegen offen und sind nicht mehr hundertprozentig sicher. Doch zum Wasser kochen reicht es, sagt Wilhelm. Gestern hat er mir Briefpapier und zwei Bücher mitgebracht. Grillparzer und
Feuchtwanger. Ich war entsetzt. Wusste er, was er mit sich herumtrug?
Die weiteren Seiten beinhalteten den gleichbleibenden Tagesablauf von Frau Marquardt. Annegret las diesen Teil nur flüchtig. Oft erwähnte sie ihre Sehnsucht nach Benjamin und gab ihrer Sorge um Hans Ausdruck. Nie schrieb sie etwas über das Kind, das sie erwartete. Doch dann folgte eine Eintragung, die Annegret deutlich machte, mit welchem Schaudern Frau Marquardt der Geburt des Kindes entgegen sah.
Heute hat Wilhelm mir einen Karton mitgebracht.
„Von Frau Knecht“, sagte er geheimnisvoll.
Als ich ihn öffnete, blickte ich auf Babysachen. Gebraucht, aber gut erhalten und frisch gewaschen. Ich roch noch das Waschpulver. Ekel erfasste mich. Natürlich brauche ich diese Sachen. Für ein Kind, das ich nicht will. Wo werde ich es zur Welt bringen? Hier kann ich nicht bleiben. Im Winter ist die Laube nicht bewohnbar. Keine Heizung, kein Wasser. Ich kann es auch nicht in einem Heim abgeben, geschweige zur Adoption freigeben, wie es in normalen Zeiten möglich gewesen wäre.
Vergangene Nacht war Fliegeralarm. Ich bin in den Garten gegangen. Die Menschen waren ja alle im Luftschutzkeller.
In der Nacht habe ich Geräusche im Garten gehört. Ich bin zum Fenster geschlichen, bemüht nicht irgendwo anzustoßen und damit Lärm zu verursachen. Vorsichtig habe ich einen Zipfel des Vorhanges zur Seite genommen. Meine Augen brauchten Zeit um sich an die Dunkelheit im Garten zu gewöhnen. Schemenhaft sah ich zwei Gestalten in der Erde buddeln. Wilhelms Kartoffeln wurden ausgegraben ... und ich konnte nichts dagegen tun.
Wahrscheinlich schlichen nachts Hungrige durch die Laubenkolonie in der Hoffnung Essbares zu finden ... und wenn es nur ein paar Äpfel waren.
Ich muss noch vorsichtiger sein.
Es folgen wieder Beschreibungen der Tagesabläufe, die Annegret überspringt und dann auf die erste datierte Eintragung stößt. Sie ist auf hellgrünem Briefpapier geschrieben.
Januar 1944
Seit Oktober bin ich bei Pfarrer Gehrke. Ein siebzigjähriger Hüne mit widerspenstigem Haar. Eisengrau. Ich nenne ihn Onkel Frieder. In seinem Pfarrhaus habe ich Jakob zur Welt gebracht. Er ist gesund. Gesünder als ich. Wenn ich ihn stille, blicke ich in das Gesicht von Meinke. Die Kälte, die mich dann durchströmt, lässt meine Milch nicht mehr fließen. Ich muss mich zusammenreißen. Wo soll ich Muttermilch herbekommen? ...und
wenn er stürbe?
Ich schäme mich für meine Gedanken.
Pfarrer Gehrke bemüht sich sehr um Jakob. Er hat sogar einen Kinderwagen aufgetrieben. Oft blickt er mich forschend an. Dann möchte ich hinausschreien, dass ich diesem Kind keine Liebe schenken kann.
Ich habe ein warmes Zimmer und blicke vom Fenster auf den Tegeler See.
Eines Tages im Oktober kam Wilhelm mit Pfarrer Gehrke in den Garten.
„Pack´ alles zusammen, Lea“, sagte er kurz - wie es eben seine Art ist.
„Pfarrer Gehrke nimmt dich mit. Du wohnst jetzt bei ihm.“
„Keine Angst, Lea, - wir müssen ´Du`
zueinander sagen wie sich das für Onkel und Nichte gehört. Diese Legende behalten wir bei.“
Er zeigte auf meinen Bauch und sagte:
„Wir werden das Kind schon schaukeln.“
Er wusste nicht, dass ich es gar nicht schaukeln wollte.
April 1944
Ich habe einen neuen Postausweis mit einem Foto von mir. Edith Klamm, wohnhaft in Alt-Tegel. Werde ich jemals diesen Menschen danken können, die mir ein Weiterleben ermöglichen und mit ihm die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Benjamin, Hans und meinen Eltern?
Dezember 1944
Es ist der zweite Winter, den ich im Pfarrhaus verbringe. Jakob hatte seinen ersten Geburtstag. Pfarrer Gehrke schenkte ihm einen bunten Ball.
Luftangriff folgt auf Luftangriff. Doch jetzt gehe ich mit Pfarrer Gehrke in den Luftschutzkeller.
„Wer vermutet schon eine Jüdin mit einem Kleinkind im Bunker“, sagt er.
Wenn ich mit ihm und Jakob spazieren gehe sagt er:
„Zeig´ Selbstbewusstsein, Edith“
Er nennt mich selten Lea. Für ihn bin ich Edith. Ob er wohl Frau Knecht kennt? Ich wage nicht ihn zu fragen.
Mai 1945
Der Krieg ist vorbei. Ich kann es nicht fassen. Benjamin, meine Eltern - kann ich jetzt Kontakt aufnehmen? Und natürlich Hans. Er wird zurückkommen. In die Rethelstraße. Frau Knecht - hat sie den Krieg überlebt? Am liebsten würde ich mich auf den Weg in meine Wohnung machen. Pfarrer Gehrke hält mich zurück.
„Du bleibst noch hier, Edith“, sagt er bestimmt.
Er sagt immer noch Edith zu mir.
„Du hast das doch nicht alles durchgestanden um jetzt noch irgendwelchen Fanatikern in die Arme zu laufen. Wir warten erst einmal ab, wie sich alles entwickelt.“
Er hat ja recht.
Annegret legte die letzte Seite auf den Tisch. Sie griff wieder zum Buch, überblätterte die leeren Seiten und las die erste der noch folgenden Eintragungen.
"Weißt du eigentlich wie spät es ist?"
Konstantin stand in der Tür und schüttelte den Kopf.
"Ich komme gleich ins Bett", antwortete sie und warf ihm eine Kusshand zu.
© KaraList 10/2015