Kapitel 1 - Angst
Meine Hände zitterten, als ich den Kleiderschrank öffnete. Ein Rucksack lag auf meinem Bett, in ihn würde ich alles, was ich hineinbrachte, einpacken.
Es waren schon Wochen vergangen – inzwischen war März geworden – und in dieser Zeit hatte sich einiges verändert. Als ob es das Schicksal so gewollt hätte, verwickelte es ihn noch in derselben Nacht damals in einen Verkehrsunfall. Es ließ ihn am Leben, jedoch verbrachte er die darauffolgenden Monate im Krankenhaus. Kein einziges Mal hatte ich mich dazu überwinden können, ihn zu besuchen.
Meiner Mutter wegen hatte ich mich nicht umgebracht, obwohl ich einige Male wirklich kurz davor gewesen war. Doch ihr schien es gut zu tun, etwas Abstand von ihm zu haben, und ich wollte ihr keinen Grund geben, dieses Glück aufgrund eines anderen Schicksalsschlags einbüßen zu müssen. Dieses Glück fand nun auch alleine sein Ende, denn er würde morgen entlassen werden.
Ein hektischer Schluchzer verließ meine Kehle, als ich daran dachte. Verzweifelt griff ich nach allen möglichen Kleidungsstücken. T-Shirts, Jeans, Westen, Unterwäsche – alles, was ich in
meine Hände bekam, wanderte in meinen Rucksack. Dabei warf ich ständig einen Blick zu meiner Zimmertür. Mein Herz pochte wie verrückt. Obwohl ich genau wusste, dass er noch nicht hier sein konnte, fürchtete ich ihn.
Wäre es wenige Monate früher gewesen, hätte ich mich nicht sorgen müssen. Er hätte tief geschlafen, da er am nächsten Morgen fit für die Arbeit sein müsste. Doch dann hatte alles begonnen. Mit dem Verlust seines Jobs.
Damals war er noch der gute, liebevolle Vater gewesen. Doch damals war vorbei.
Wieder warf ich einen hastigen Blick zur Tür. Niemand zu sehen. Ich beschloss, dass ich genug Kleidung gepackt hatte
und lief ins Badezimmer, um meine Zahnbürste, ein kleines Handtuch, Duschgel und solche Dinge zu suchen. Was mir nicht sofort ins Auge stach, ließ ich da. Ich konnte es mir nicht leisten, unnötig Zeit mit der Suche von unwichtigen Sachen zu vergeuden.
Nachdem ich das Wichtigste beisammen hatte und sich dieses im Rucksack befand, schloss ich jenen und ergriff ihn.
Würden sie es verstehen? Würden sie sich den Grund zusammenreimen können, warum ich sie genau jetzt verließ? Weder meine Mutter, noch mein kleiner Bruder schienen damals etwas bemerkt zu haben. Sogar mir selbst war aufgefallen, wie
sehr ich mich verändert hatte. Warum sahen sie es nicht? Sahen sie nicht den Schmerz, jedes Mal, wenn sie in meine Augen blickten? Sahen sie nicht die Verzweiflung, die mir ins Gesicht geschrieben stand? Sahen sie nicht, wie ich mich tagtäglich quälte? Sahen sie nicht, wie ich litt?
Doch nie würde es jemand erfahren. Niemand durfte es erfahren. Daher musste ich fliehen. Musste weg von hier. Sonst würde es wieder geschehen, irgendwann. Das spürte ich instinktiv.
Mit einer kurzen Handbewegung wischte ich mir alle Tränen, die sich unter meinen Lidern gesammelt hatten und herunter gelaufen waren, aus meinem
Gesicht. Als ich mich gehetzt umsah, fiel mein Blick auf den Schreibtisch rechts neben der Tür. Einsam und verlassen, ich hatte ihn schon länger nicht mehr benutzt. Das würde ich jetzt ändern, meiner Mutter zuliebe. So leise wie nur möglich erhob ich mich und taumelte unter dem Schleier von Tränen, der mir erneut die Sicht raubte, auf den Tisch zu. Meine zitternden Hände fanden Zettel und Stift und begannen, zu schreiben.
Ich bin weg. Halte es nicht mehr aus. Sucht mich nicht, bitte.
Du kannst nichts dafür, Mama. Tut mir
leid.
A.
Schnell hatte ich einige verwackelte Buchstaben zu Papier gebracht. Dass einige Tränen auf die sowieso schon kaum leserlichen Zeilen tropften, beachtete ich nicht. Nachdem ich meinen kurzen Abschiedsbrief beendet hatte, ließ ich den Stift lautlos auf das Papier fallen. Dann packte ich noch eine leichte Decke, die ich mir unter den Arm klemmte. Leise schlich ich in Richtung Tür, in der Hoffnung, niemanden aufzuwecken. Meinen kleinen Bruder, der im Nebenzimmer ruhig schlief, oder meine Mutter, die sich vielleicht wieder
einmal in den Schlaf geweint hatte, wohl ahnend, was wieder auf sie zukommen würde.
Mit einem Schlag in einer warmen Herbstnacht hatte es begonnen. Einem einzigen. Und es waren so viele daraus geworden.
Nervlich fast am Ende stellte ich fest, dass wieder sämtliche Gefühle in mir hoch kamen, die ich schon so oft zurückgedrängt hatte.
Angst. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich vor etwas so sehr gefürchtet, als alleine vor dem Gedanken, dass es wieder geschehen könnte.
Abscheu. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Mein Körper begann zu
frösteln. Es war schlimm, zu wissen, dass er seine Hände tagtäglich an mich gelegt hatte.
Aber noch schlimmer war die Tatsache, dass er in mir gewesen war.
Ekel. Ich war immer schon ein Teil von ihm gewesen. Das war nicht so schlimm, auch, wenn ich mich nun dafür schämte. Doch nun war auch er ein Teil von mir. Ein Teil von ihm war in mir. Innerlich schüttelte ich mich bei dem Gedanken.
Scham. Ich würde das kein zweites Mal durchhalten, nie. Die Scham war so groß, dass ich mich fühlte, als würde ich jeden Moment erneut im Erdboden versinken wollen. Wenn mich jemand Eingeweihter nur ansehen würde, konnte
ich förmlich sehen, wie er nach den Flecken suchte. Flecken, die er hinterlassen hatte. Die mich kennzeichneten. Daher behielt ich es für mich.
Doch dann schlich sich noch ein Gefühl ein, das ich bei den letzten Malen immer sofort verdrängt hatte. Das nun umso stärker hervor kam. Zuerst war es nur ein Loch. Es fühlte sich leer an. Ich fühlte mich leer an. Als hätte meine Brust ein Loch, genau dort, wo mein Herz sein müsste. Hätte ich die Vorgeschichte ausblenden können, würde ich sagen, es war der Schmerz über eine nicht erwiderte Liebe. Aber das konnte doch nicht sein. Wie konnte eine Liebe
nicht erwidert sein, wenn ich sie nicht einmal spürte? Was sollte bitte erwidert werden, wenn es nicht da war? Oder … war sie doch da, die Liebe? Liebe zu meinem … Vater? Nein, das konnte nicht sein! Wieder war es, als würde etwas Gallenartiges in mir aufkommen. Als würde der Ekel mich überwältigen wollen. Gezwungen schluckte ich sie hinunter, während ich langsam ein Bein vor das andere setzte.
Doch plötzlich stockte ich, denn dann kam die Wut. Wut auf alles und jeden. Meine Hände verkrampften sich, Es war der Zorn, die in mir pulsierte wie flüssige Lava. Wie das Magma eines Vulkans, der gleich ausbrechen wollte.
Meine Augen waren frei von Tränen, diese hatten sich verzogen. Die Lider waren zu Schlitzen verengt und meine Stirn legte sich in Zornesfalten.
Wie konnte er es wagen, mich einfach so zu benutzen?! Als wäre ich ein Spielzeug, ein Ding. Nicht ein lebender Mensch, seine Tochter!! Und wie konnte meine Mutter es zulassen, dass er es tat?! Wie konnte sie so tun, als würde sie ihn lieben?! Warum ließ sie sich nicht von ihm scheiden, warum trennte sie dieses … Problem nicht einfach von uns? Es wäre so einfach, man müsste nur ein Wort sagen… Und mit diesem Gedanken verpuffte die ganze Wut und wurde von einer gehörigen Portion Hilflosigkeit
abgelöst. Meine Finger begannen zu zittern, hilfesuchend griff ich nach der Wand und stütze mich ab. Langsam tastete ich mich hinaus auf den Gang und von dort zur Treppe. Nur ein Wort sagen… Wenn das denn so leicht wäre. Gedanklich hatte ich es längst getan.
Doch… Ich schaffte es nicht. Keine Ahnung, warum das so war, aber es ging einfach nicht. Vielleicht war es die Angst, dass er es erfahren könnte. Dass mir niemand glauben würde, und er wütend würde. Oder es war einfach die Scham, die mich davon abhielt. Oder etwas ganz Anderes. Ich wusste es nicht.
Mir war momentan nur eins klar: Ich musste weg. Auch, wenn ich jedes Mal
einen Kloß im Hals bekam bei dem Gedanken vielleicht für immer weg zu gehen, war mir dennoch klar, dass ich es tun musste. Weit weg, wo mich niemand finden würde. Das sollte nicht zu schwer werden, denn suchen würde mich ohnehin niemand. Meine sozialen Kontakte konnte ich auf einer Hand abzählen – meine Mutter, mein Bruder, und meine Freundin Mona. Kurz hatte ich überlegt, mich ihr anzuvertrauen. Aber dazu hatte ich mich in den letzten Wochen zu sehr abgeschottet, wir waren nicht mehr das, was wir früher einmal waren.
Endlich war ich im Erdgeschoss.
Während ich meinen Weg nach draußen fortsetzte, versuchte ich, so gut es eben in dieser Finsternis ging, mir alles einzuprägen: den dunklen Esstisch aus Nussholz, die passenden Stühle dazu. Den weißen Perserteppich, der dem kleinen Zimmer selbst in der Nacht den letzten Schliff gab. Das rote Sofa, welches den Großteil des Wohnzimmers einnahm. Meter davor den großen Flachbildfernseher. Dazwischen ein kleiner Teetisch, wieder aus Nuss. Alles passte wunderbar zusammen. Rot, weiß, braun. Im ganzen Haus.
Wir waren nie arm gewesen, dafür hatte der letzte Job meines Vaters gesorgt. Bankdirektor der angesehensten Filiale
der Stadt war er gewesen. Bis jemand mitbekommen hatte, dass er heimlich trank. Dann war er gefeuert worden. Und das Unheil hatte erst richtig begonnen. Mit der Zeit wurde das Geld weniger, da er jeden Abend viel versoff. Meine Mutter arbeitete halbtags, doch das war zu wenig. Früher oder später hätten wir das alles verkaufen müssen, alle Erinnerungen, all das Schöne.
Ich versuchte, mir einzureden, dass es also sowieso besser war, wenn ich jetzt verschwand. Dann würde ich das Alles nicht mehr mitbekommen.
Mit dieser Überzeugung atmete ich noch ein letztes Mal in diesem Haus meiner Kindheit aus und zog die braune Jacke
sowie meine Converse an.
Mit einem Quietschen, das jedoch nicht laut genug war, jemanden zu wecken, öffnete ich die Haustür, blickte noch einmal sehnsüchtig zurück und verließ das Gebäude.
Die Beleuchtung draußen war spärlich, doch es reichte, dass die Häuser unheimliche Schatten auf die frisch asphaltierte Straße werfen konnten. Nur vereinzelt fand das Licht einer der wenigen Laternen den Weg auf den Asphalt und bestrahlte meine hastigen Schritte. Seltsam beobachtet kam ich mir dabei vor. Die schummrige Beleuchtung bewirkte, dass ich mich noch unsicherer fühlte. Gehetzt blickte ich mich um.
Nichts. Aber da war doch ein Geräusch gewesen. Oder doch nicht? Meine Schritte wurden immer schneller und schneller, während ich mich alle fünf Sekunden umblickte.
Folgte er mir etwa? War er doch schon entlassen? Nein, bitte nicht!
Wieder begannen die Tränen zu fließen, ich konnte sie nicht unterdrücken. Wie ein Schleier legten sie sich über meine Wangen, meine Augen, mein ganzes Gesicht. Er vernebelten meine Sinne. Plötzlich vernahm ich ein leises hohes Geräusch, woraufhin ich erschrocken die Luft anhielt. Es verstummte. Hastig befahl ich meinen Beinen, sich noch schneller zu bewegen, als es wieder
anfing. Ich ignorierte es, bis es immer weiter anschwoll. Als es sich schließlich in ein Schluchzen verwandelte, erkannte ich, dass das Geräusch von mir selbst kam und versuchte, es einzustellen. Mein Herzschlag beruhigte sich ein wenig und ich wurde kaum merklich langsamer, während meine Beine jedoch leicht versetzt auftraten. Der Rucksack, den ich vorhin noch eng umschlungen gehalten hatte, schlenkerte nun in Höhe meiner Beine herum und brachte mich fast zum Stolpern. Mein Weinen wurde immer lauter, während ich in die nächste Straße einbog, immer noch keine Ahnung, wo ich eigentlich hin wollte. Ich ließ mich von meinem Gefühl leiten, quasi immer
der Nase nach. Ging dorthin, wo es mir gerade in den Sinn kam. Und versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Ich wollte nicht, dass mein Selbstmitleid mich wieder übermannte, dass die Schluchzer mich zum Stehen bleiben veranlassten und mich schüttelten oder dass Tränen meine Sicht verschleierten. Nein, das konnte ich gerade nicht brauchen, aber es würde geschehen, wenn ich weiterhin meine Gedanken denken ließ, was sie wollten. Also konzentrierte ich mich auf die düstere Straße.
Ich kam an einer alten Trafik vorbei, in der er vermutlich die Zigaretten bezogen hatte. Wieder tauchte sein Gesicht vor
mir auf. Seine verzerrte Mimik, die hasserfüllten Augen, die … Stopp! Das war keine gute Ablenkung, stellte ich fest, und suchte die Straßenecken nach anderen Plätzen ab. Ich entdeckte einen Supermarkt, in dem ich mich einmal für einen Ferialjob beworben hatte. Allerdings war ich nicht genommen worden. Ich lief an der Bäckerei vorbei, die ich als Kind oft aufgesucht hatte. Die Besitzerin war stets so etwas wie eine zweite Mutter für mich gewesen, bis sie vor ein paar Jahren einem Autounfall zum Opfer gefallen war. Seit diesem Tag hatte ich die Backstube nicht mehr betreten.
Auch an meiner Volksschule lief ich
vorbei, immer weiter aus der Stadt heraus. Ach, wie lange war das schon aus, dass ich hier das letzte Mal einen Vormittag verbracht hatte? Sechs Jahre, wie ich schnell im Kopf überschlug. Da war alles noch in Ordnung gewesen. Heile Welt. Keine Jungs, die einem das Leben schwer machten, keine oberflächlichen Freunde, kein trinkender Vater. Gerade war ich noch so etwas wie ein bisschen abgelenkt gewesen, doch der Gedanke an meinen Vater machte wieder alles kaputt. Die Schluchzer, die sich vorhin nahezu eingestellt hatten, krochen erneut meine Kehle hoch. Mein Körper wurde geschüttelt, meine Beine überkreuzten sich, wieder brachten sie
mich fast zu Fall.