DIe Narbe des Alters
Zurückblickend auf mein Leben habe ich viel geschafft. Mich alt und kaputt gearbeitet. Kinder geboren und großgezogen. Mit fünf Kindern gab es keine Chance auf Ruhe. Auch nach ihren Auszug, wurde es schnell wieder voll im Hause. Enkelkinder wurden geboren und wuchsen gerne bei Oma auf.
Nun sitze ich hier, mit 10 weiteren Damen und Herren in meinem Alter in einem großen hellen Raum. Wir verweilen an einem langen Tisch, der mit weißen Kaffeeservice bedeckt ist. Neben den großen Fenstern isteine kleine
Einbauküche und mehrere Sessel, die sehr bequem aussehen, wahrscheinlich bequemer als der ungemütliche Holzstuhl auf dem ich mich seit geraumer Zeit befinde.
Aber Frechheit, warum zur Hölle bin ich hier? Ich bin Fit wie ein Turnschuh, mit meinem Rollator verwechselt man mich schnell mit Michael Schumacher, blitzschnell lauf ich herum.
Das einzige was mich an mein Alter erinnert sind meine grauen Haare, die trotzdem super in Form einer Dauerwelle
liegen.
Wie ein kleiner Floh springe ich förmlich umher, also weiß ich nicht, was zwei der jungen Leute mich festhalten.
An meinem für den Tag festen Platz angekommen, nehme ich eine der Zeitschriften, die ich mir von Zuhause mitgenommen habe.
Schrecklich schon wieder ist jemand in das World Trade Center geflogen. Ich kann mich erinnern als ich noch ein junger Wurm war, dass die gesamte Welt davon
berichtete.
Ich kann aber jetzt nicht lange still sitzen, denn ich muss nach Hause, mein Mann wird gleich aus der Bank kommen und hat sicher einen Bären Hunger.
Aus die Maus. Bereits als ich aufstehe, berührt mich eine Hand an meiner Hüfte und eine junge Person hinter mir befehlt freundlich mich wieder hinzusetzen. Mit der Ausrede mein Mann würde heute später kommen, doch ich weiß es stimmt nicht. Trotzdem höre ich und nehme wieder Platz. Augenblicklich tönt ein lauter Knall, ich springe schnell unter den Tisch und verschanze mich vor den
Bombenangriffen. Doch niemand sitzt mit mir dort, also stehle ich einen kleinen Blick raus und ein junger Mann sieht mich erstaunt an.
Er nimmt meine Hand und tut vor der anderen jungen Person so, als würde er mir hoch helfen. Er erzählt mir, es sei der Topf in der Mikrowelle gewesen, der sich beim erwärmen ein wenig ausgedehnt hat.
Papperlapapp, alles Hirngeschwänze.
Wenn die Mauer erstmal fallen würde, erkläre ich, wäre mehr Frieden auf der Welt. Das sagt mein wundervoller Mann
Werner auch immer, Frieden braucht die Welt, sowie ich dich, sagt er immer und küsst mich zärtlich. Den Krieg und vieles mehr haben wir gemeinsam überstanden und wir lieben uns unsterblich wie am ersten Tag,seit wir uns kennen lernten. Der junge braunhaarige, etwas pummelige Mann setzt sich neben mir und nimmt meine Hand und streicht mit den warmen Fingern vorsichtig über meine. Dazu will er mir allen ernstes klar machen, dass der einzige Grund ist warum ich zwei Eheringe trage, das mein Mann vor langer Zeit starb.
Er hatte einen wichtigen Termin in Ney York am 11 September 2001 gehabt, aus
dem er nie wieder kam. Den Ring brachte man mir, als seine Leiche unter den Trümmern gefunden wurde.
Dieses Geschehen ist bereits mehrere Jahre her, wir schreiben heute den 21 September 2014.
In der Zeit gab es den ersten Schwarzen Amerikanischen Präsidenten, Michaels Jacksons Tod und eine neues Baby im Hause der Queen.
Weiter bericht er mir, dass auch meine Geschwister nicht mehr leben und er mir diese Geschichte seit fünf Jahren jeden Tag erzähle, ohne auch je sich darüber
aufzuregen, da er Respekt vor meinem Alter und meinen Erfahrungen des Lebens hat.
Mir wird in dem Moment klar, dass ich nicht mehr der Fitte Turnschuh bin, sondern leicht gebeugt an meinem Rollator laufe, und mein Gedächtnis Informationen nicht mehr länger als 10 Stunden speichert.
Mein Leben rauscht wie ein Formel Eins Wagen an mir vorbei. Seither lebe ich in meiner eigenen Welt, und glaube jeden Tag daran, nach Hause zu kommen, und mich würde jemand erwarten. Doch der Schein der Alterdemenz täuscht und
doch sitze ich jeden Tag in einer Senioren Tagespflege, vor mich her träumend, und denke ich sei noch ein junger Hüpfer.
Ich würde wohl jeden Tag weinend im Bett liegen, und fröhlich und nichts wissend losmarschieren, bis mir die Geschichte erneut erzählt werden würde. Dabei tut mir der junge Mann Leid, der mir seit mehreren Jahren jeden Tag dieselbe Geschichte erzählen durfte, dabei meine kalte Hand wärmt und mich tröstend in den Arm nimmt.
Die Altersdemenz ist eine Narbe des Alters und der Erlebnisse des Lebens. Es
ist einer der Nachteile des Alt werden, jeden Tag aufs Neue die Welt erleben. Es kann zum Vorteil, aber auch zum schrecklichen Nachteil werden, jeden Tag unsterblich zu Lieben und zu erfahren, dass der Liebste seit mehreren Jahren nicht mehr lebt und du selbst unheilbar Krank bist, eine Krankheit die nicht den direkten Tod zur Folge hat. Ich muss solange warten bis Gott einen Platz im Himmel für mich frei hat und ich den einen Auftrag den jeder Mensch im Leben bekommt bevor er stirbt, erledigt hat.
Werners Auftrag auf der Erde war, mich vom ganzen Herzen zu lieben und mir
jeden Tag mit seiner Person zu verschönern.
Also werde ich hier noch ein Weilchen bleiben, bis ich zu meinen Ehemann herauf darf.