Beschreibung
Er war der bestaussehende Selbstmörder, den ich je kennen lernte.
Heute habe ich wieder an F. gedacht, F wie Freitod. Ich muss noch oft an ihn denken, dabei ist er schon dreißig Jahre tot.
Er war einer der bestaussehenden Männer, an die ich mich erinnere. Groß, kräftig, breitschultrig und hübsch. Von leichter Melancholie umflort. Ich sah ihn jahrelang in den Straßen, in den Bars von West-Berlin, ohne mit ihm in Berührung zu kommen.
Dann begegneten wir uns zufällig an einem Sommersonntagnachmittag im Grunewald. Es war auf einem breiten Waldweg, nicht weit vom Stadtrand. Wir blieben beide stehen und sahen uns an. Er stellte eine Frage, ich nenne sie mal die F-Frage. Ich sagte nein. Da lächelte er schwermütig und sagte entschuldigend: "Ich brauch das halt." Dann wandte er sich ab und ging in eine andere Richtung. Ich habe danach nie mehr mit ihm gesprochen.
Er verschwand für ein, zwei Jahre aus meinem Gesichtskreis. Dann war er wieder da und ich hörte, er sei in Westdeutschland gewesen. Es hatte weder beruflich noch privat geklappt. Nun versuchte er es erneut in Berlin. Er ließ sich auf riskante Praktiken ein, ich nenne sie hier mal die FF-Praktiken. Dabei gab es einen Zwischenfall, er wäre beinahe verblutet. Er kam durch, wurde lange behandelt und sorgte überall durch sein bloßes Erscheinen für Gesprächsstoff. Es war ihm sichtlich unangenehm. Er bekam viel Taktloses zu hören.
Ich zog fort aus der Stadt. Noch im selben Jahr las ich, dass er sich umgebracht hatte. Sonntagssspaziergänger hatten ihn gefunden. Er hatte sich gerade am Ort unserer früheren Begegnung an einem Baum aufgeknüpft. Ich las es in einem Nachruf. Der Verfasser stellte dort Vermutungen über ihn an. Er sei wohl unter seiner gefassten männlich-kameradschaftlichen Oberfläche ein anderer gewesen: verletzlich, einsam und enttäuscht.
Seitdem ist kaum ein Monat vergangen, in dem ich nicht an ihn gedacht hätte. Die meisten Selbstmörder ziehen sich zum Sterben zurück. Sie wenden sich von uns ab, endgültig. Er dagegen hatte es öffentlich vollzogen, ein Schrecken für harmlose Spaziergänger, ein Vorwurf an die, die ihn gekannt hatten. Sein Tod ein Skandal. Oder wollte er insgeheim, dass man ihn rechtzeitig fände und ins Leben zurückholte? In diesem Fall wäre ihm auch das misslungen.