Roter Samt
8. Kapitel
Dezember 1941
Mehr als ein Jahr ist vergangen. Ein Jahr, in dem sich die Tage endlos dehnten, wenn meine Gedanken sich um Benjamin drehten. Bald wird er vier Jahre alt. Frau Knecht, die mir immer Halt und Stütze war, kommt nur noch selten. Der enge oder gar freundschaftliche Kontakt mit Juden ist für Nichtjuden gefährlich. Sie können in Schutzhaft genommen werden. Als ich ihr einmal anbot, dass wir doch ´Du` zueinander sagen könnten, sagte sie:
„Frau Marquardt, zu Ihrer und zu meiner
Sicherheit“, wir belassen es beim „Sie“. Außerdem ändert diese Formsache doch nichts an der Achtung, die man dem anderen entgegenbringt.“
Sie hat wohl recht.
Ich brauche den Judenstern nicht zu tragen. Ein „Privileg“, das ich meiner Ehe mit einem „deutschblütigen“ Mann verdanke. Doch meine Lebensmittelkarte ist mit einem „J“ gekennzeichnet. Vielen ist bekannt, dass ich Jüdin bin. Es sind kleine Straßen rund um die Rethelstraße. Man kennt sich ... und grüßt sich nicht mehr.
Frau Klinger aus dem Laden gegenüber steckt mir manchmal heimlich ein Stückchen Butter zu. Dann ist der Butterblock, den sie geliefert bekommen hat, wohl etwas größer
ausgefallen. Dabei könnte sie die Butter sicher selbst gebrauchen. Sie ist mit dem Säugling und der vierjährigen Tochter allein. Ihr Mann wurde vor zwei Wochen eingezogen. Ohne seine Hilfe kann sie den Laden nicht halten.
Januar 1942
SS-Sturmbannführer Meinke begegnete mir heute im Treppenhaus. Er würdigte mich keines Blickes. Ich war froh darüber. Wen er wohl besucht hat? Keine Post aus England. Es wird auch keine mehr kommen.
Frau Knecht habe ich gestern auf der Straße getroffen. Ich hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Doch das durfte ich nicht. Wir hätten gesehen werden können.
März 1942
Der Tag an dem ich eine Nachricht erhalte, dass es Benjamin gut geht, wird der glücklichste in meinem Leben sein.
April 1942
Die Leitung der Schneiderei wird Hans spürbar aus der Hand genommen. Er musste einen Zuschneider einstellen.
„Er ist sogar gut“, sagte Hans.
„Da werde ich bald überflüssig sein.“
September 1942
Frau Klinger hat ihren Laden geschlossen. Ich habe schon lange nicht mehr bei ihr
eingekauft. Ich gehe nur noch in Geschäfte für Juden. Wenn Hans Zeit hatte, kaufte er bei ihr Eier mit seiner Lebensmittelkarte. Ich habe keine Bezugsmarken für Eier.
Warum schreibe ich in dieses Buch? Mir haben sich die letzten Jahre ins Gehirn gebrannt. Ich brauche dieses Buch nicht.
Vorige Woche habe ich Frau Knecht getroffen. Wir sind in einen Hausflur gegangen und haben uns unterhalten.
„Schreiben Sie, Frau Marquardt“, sagte sie zu mir.
„Schreiben Sie!“
September 1942
Heute Nacht war ein schwerer Luftangriff. In der Stuckstraße hat eine Luftmine zwei
Häuser dem Erdboden gleich gemacht. Die Druckwelle reichte bis zu unserem Haus. Im Nebenhaus splitterten Fensterscheiben.
November 1942
Hans ist verzweifelt. Er musste diesem SA-Mann Bollerbeck Prokura erteilen. Die Schneiderei sei kriegswichtig. Offiziere müssten selbstverständlich vorbildlich gekleidet sein. Diese Verantwortung könne man ihn nicht tragen lassen ... mit einer jüdischen Frau.
Auf dem Papier gehörte ihm die Schneiderei noch, Rechte hatte er nicht.
Dezember 1942
Gestern hat Hans den Einberufungsbefehl
bekommen. Gestellungstag 20. Januar 1943.
„Ich habe das geahnt“, sagte Hans, „seit dem Tag, an dem ich die Prokura erteilen musste.“
Mai 1943
Fast drei Monate meines Lebens fehlen mir. Monate, in denen ich teilweise nur vor mich hindämmerte, von Schmerzen gepeinigt wurde, verschwommene Erinnerungen aus meinem Gedächtnis löschen wollte. In den wenigen klaren Momenten wünschte ich mir zu sterben. Aktiv unterstützen konnte ich diesen Wunsch nicht. Ich war zu schwach. Bis vor einer Woche.
Aber der Reihe nach.
Hans hatte am 20. Januar schon sehr früh die
Wohnung verlassen. Wir verabschiedeten uns zuhause. Er wollte nicht, dass ich ihn zur Kaserne begleite. Von dort sollten die Soldaten geschlossen zum Zug gebracht werden. Richtung Ostfront.
„Pass auf dich auf!“, sagte er unzählige Male.
„Versteck dich, wenn du kannst - unsere Ehe schützt dich nicht mehr.“
Dabei war es an mir, ihm zu sagen, dass er auf sich aufpassen solle. Wir weinten beide.
An den folgenden Tagen verließ ich nicht die Wohnung. Erst am dritten Tag nach Hans´ Abreise raffte ich mich auf. Ich musste einkaufen gehen. Ich öffnete die Wohnungstür Frau Knecht stand vor mir. Sie hatte mich schon seit Monaten nicht mehr
besucht - ich sie auch nicht. Es war zu gefährlich. Schnell zog ich sie hinein und schloss die Tür. In der Diele nahm sie mich in den Arm. Das hatte sie noch nie getan. Ich weinte hemmungslos. Der Grund ihres Besuches waren die Ratschläge, die sie mir geben wollte. Sie befürchtete, dass ich in ein Judenhaus ziehen würde müssen.
Als ich ihr sagte, dass Ehepartner von Deutschen arischer Abstimmung davon ausgenommen seien, sagte sie:
„Ich weiß, Frau Marquardt, aber die Nazis handeln und schaffen hinterher die Gesetze. Haben sie keine Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken?“
Ich sagte ihr, dass ich niemanden hätte. Der Vater von Hans starb zwei Jahre nach unserer
Hochzeit. Hans´ Mutter hatte ich kennengelernt als sie schon krank war. Kurz danach starb sie.
Ich hatte es ihr schon einmal erzählt und sie erinnerte sich, hatte jedoch gehofft, dass es noch andere Verwandte von Hans geben würde. Sie war sehr besorgt. Als sie ging benutzte sie die gleichen Worte wie Hans.
„Passen Sie auf sich auf!“
Und dann kam der schwärzeste Tag meines Lebens. Wie viele schwarze Tage hatte ich schon? Der Tag als ich mich von Benjamin getrennt hatte, der Tag als Hans einberufen wurde oder als er ging? Die Tage, an denen man mir deutlich zeigte, dass ich Abschaum bin?
Gegen 20,30 Uhr klingelte es an der
Wohnungstür. Ich geriet in Panik. Wer wollte zu mir? Ich bekam keine freundschaftlichen Besuche. Mein Blick durch den Spion ließ mich erstarren. SS-Sturmbannführer Meinke.
„Machen Sie auf, Frau Marquardt“, sagte er ganz ruhig.
„Ich weiß, dass Sie zuhause sind.“
Ich öffnete die Tür. Er schob mich zur Seite und schloss hinter sich die Tür. In der Diele blickte er sich kurz um, griff meinen Arm und zog mich ins Wohnzimmer. Ich wollte schreien.
„Wenn du schreist, wäre es das Letzte, was du tun würdest.“
Im Wohnzimmer nahm er die Mütze ab und legte sie ordentlich auf einen Stuhl. Seine Waffe legte er auf den Tisch.
„Zieh´ dich aus!“
Mein Entsetzen schien ihn zu amüsieren. Er lächelte.
„Alles!“, sagte er dann kalt.
Ich begann meine Bluse aufzuknöpfen, ließ den Rock auf den Boden gleiten.
„Weiter!“
Mit einem Arm versuchte ich meine Brüste, mit der freien Hand meine Scham zu bedecken und wusste doch, dass das nicht das Ende war.
Er zog seine Jacke aus, knöpfte langsam sein Hemd auf und beobachtete mich dabei. Als er mit nacktem Oberkörper dastand, wandte ich den Blick weg.
„Schau her“, zischte er, „und küss´ das Sühnekreuz“. Dabei griff er brutal nach meinem Arm.
„Hier“.
Er zeigte auf eine Stelle oberhalb des Herzens. Obwohl meine Augen blind vor Tränen waren, konnte ich die Tätowierung, die mich wie ein höhnisches Auge angrinste, erkennen. Das weiße Kreuz auf dunklem Untergrund.
Zu meinem Entsetzen kam der Ekel als ich die Tätowierung mit dem Mund berührte. Ich merkte wie er seine Hose aufknöpfte. Er stieß mich von sich und zwang mich auf den Boden. Als er mich vergewaltigte versuchte ich meinen Verstand auszuschalten. Es gelang mir nicht. Er war brutal ich hätte vor Schmerzen schreien können, doch ich biss mir auf die Lippen. Endlich ließ er von mir ab. ... und dann spürte ich einen anderen
Schmerz ... schneidend. Er schlug mich mit seinem Gürtel. Unablässig. Trat mit seinen Stiefeln auf meine Brust, meinen Bauch, spuckte mir ins Gesicht und brüllte:
„Du Judenschlampe, du Judenschlampe“.
Schreien konnte ich nicht mehr. Mein Wimmern dröhnte in meinen Ohren. Er zog sich an und nahm die Waffe vom Tisch. Dann zielte er auf mich. Ob ich den Schuss hörte weiß ich nicht. Mir wurde schwarz vor Augen.
Annegrets Hände waren eiskalt. Sie nahm die Decke, die über der Couchlehne lag und kuschelte sich hinein. Nachdenklich blätterte sie eine Seite zurück und betrachtete die etwas krakelige Zeichnung. Ein von einem Kreis umrundetes weißes Kreuz auf dunklem
Untergrund. Sie hatte dieses Zeichen schon einmal gesehen ... größer, viel größer. Angestrengt dachte sie nach. Doch das gerade Gelesene drängte sich in den Vordergrund. Das schöne Gesicht Lea Marquardts erschien vor ihrem inneren Auge, verzweifelt, gepeinigt, schmerzverzerrt. Und plötzlich konnte sie sich auch an Benjamin erinnern. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich. Annegret blätterte beklommen zur nächsten Seite.
Ich werde nicht mehr lange schreiben können. Es wird Abend und das letzte Tageslicht, das durch die Bodenluken fällt, lässt mich kaum noch meine Schrift erkennen.
Hier auf dem Dachboden bin ich aufgewacht,
habe einen schwarzen Schlund verlassen, der mir in irgendeiner Form Schutz bot. Ich öffnete die Augen. Erneute Dunkelheit umgab mich. Das Erste, das ich bewusst wahrnahm, war ein muffiger Geruch. Es waren die Decken, auf denen ich lag, und die mich umhüllten. ... und dann kamen die Schmerzen. Ich schrie. Eine Hand legte sich auf meinen Mund.
„Keine Angst, Frau Marquardt. Ich bin es, Frau Knecht.“
Ich war wieder ohnmächtig geworden. Die nächsten Wochen dämmerte ich vor mich hin. Frau Knecht wusch mich, flößte mir Suppe ein, wechselte meine Verbände, half mir, mich auf einen Eimer zu setzen, damit ich meine Notdurft verrichten konnte. Ich ließ
alles mit mir geschehen und hoffte doch, sterben zu können. Manchmal schien es mir, als flüsterten Stimmen. Es war mir egal. Mein Körper war ein einziger Schmerz. Zweimal war ein Mann da, der mir eine Spritze gab. Dann öffnete sich der schwarze Schlund, in den ich mich zurückziehen konnte.
„Frau Marquardt, lesen Sie!“
Die Stimme von Frau Knecht drang eindringlich.
„Frau Marquardt ...“
Sie stützte meinen Rücken und zog mich in eine halb sitzende Position.
„Lesen Sie!“
Widerstrebend blickte ich auf das Blatt Papier, das sie mir vor Augen hielt. Ein Formular, sehr schlecht lesbar - einer von
vielen Durchschlägen - und doch konnte ich erkennen, was dort stand.
Benjamin, Felix Marquardt - es folgte sein Geburtsdatum, sein Geburtsort - wurde am 14. Mai 1940 an
Felix, Max Rosenfeld und Ruth, Johanna Rosenfeld in Liverpool übergeben.
Weiterhin waren die Geburtsdaten und die Adresse meiner Eltern vermerkt. Was in den anderen Spalten stand las ich nicht mehr.
Das Formular war von der Jüdischen Gemeinde in London.
Immer wieder las ich die Zeilen und ... wollte leben für Benjamin und für Hans.
Langsam ging es mir besser. Schmerzen hatte ich immer noch. Doch ich ertrug sie. Sie würden abklingen. Es werden Narben bleiben.
Im Schlüsselbeinbereich. Ein Durchschuss. Die Raserei, in der sich Meinke befand, hatte seine Treffsicherheit beeinflusst. Auch die Schläge mit dem Gürtel werden bleibende Spuren hinterlassen. Die Haut war aufgeplatzt. Die gebrochenen Rippen würden heilen ... die Narben auf der Seele nicht.
Ich fragte Frau Knecht, wer mich gefunden hat und wie ich auf den Dachboden gekommen bin. Das konnte sie unmöglich allein bewerkstelligt haben. Es hätte ihr jemand Bescheid gesagt, antwortete sie mir.
„Wer“, fragte ich.
„Und wer hat meine Schusswunde versorgt? Sie wurde genäht.“
„Sie hatten viel Blut verloren und Sie mussten schnell aus der Wohnung. Ja, es
gab Helfer. Gut, dass ich noch den Wohnungsschlüssel hatte. Doch je weniger Sie wissen, desto weniger können Sie verraten, Frau Marquardt.
Ich habe alles Geld, das ich finden konnte, den Schmuck, ihren Pass und noch einige Papiere, die mir wichtig schienen mitgenommen ... und das Tagebuch."
Sie lächelte und klopfte auf das Buch, das neben mir auf der Decke lag. Ich griff nach ihrer Hand. Menschen, die mir geholfen hatten - namenlos ich konnte ihnen nicht ´Danke` sagen. Wie gefährlich muss es gewesen sein, eine Schwerverletzte ungesehen und lautlos in die nächste Seitenstraße zu transportieren.
... und Frau Knecht, meine Frau Knecht. Was wusste ich von ihr? Nicht viel.
© KaraList 09/2015