Der Bann des Schattentanzes
Kapitel 1
Von Cooki
ProloG
Jonasen:
Überall war sie zu hören. Diese Melodie. Das Trauerlied. So wird es genannt. Niemand kann sich dem entziehen, denn es wird von einem zum anderen getragen. Es erreicht sicher jeden von uns und verkündet uns, wenn jemand von unseren Leuten gefallen ist. Das letzte Mal, als es so schlimm war, waren es zehn. Es wird nicht mehr lange dauern. Bald werden wir uns alle versammeln. Dann endlich wissen wir, wen es getroffen hat - wer nicht rechtzeitig drauf geachtet hat, sich rechtzeitig zu Regenerieren. So nennen es die Meisten! Ich für meinen Teil finde das Wort „Auftanken“ ist die einzig richtige Bezeichnung für diesen überlebenswichtigen Vorgang, den wir machen müssen, um am Leben zu bleiben. Dennoch ist es immer noch besser, als der anderen Gruppe anzugehören. Jene, die zu weit gehen und sich
mehr holen, als sie eigentlich benötigen. Das jedenfalls rede ich mir Tag für Tag ein. Es gehen auch grausame Gerüchte um, dass sie das Herz und das Blut gebrauchen können. Aber für was, weiß niemand und ob das stimmt bin ich mir auch nicht sicher.
Ein Kribbeln macht sich in meinen Bauch bemerkbar. Mir wird klar, dass ich mich heute noch „auftanken“ muss. Am Morgen konnte ich noch nicht ahnen, dass es heute so weit sein würde. Sonst hätte ich dies schon vorher gemacht, bevor wir uns auf den Weg gemacht hatten. Ich merke, wie meine Kraft allmählich schwindet. Dies ist ein Zeichen, dass ich endgültig aufbrechen muss. Ich möchte schließlich nicht zu den Gefallenen gehören. Für die dieses Lied gespielt wird.
Kapitel 1:
Mandy:
Die letzte Schulstunde geht quälend langsam vorbei. Am Anfang habe ich mich noch sehr gefreut mit der gesamten Klasse ein letztes Mal zusammen zu sitzen, aber jetzt möchte ich nur zu gerne, dass auch das bisschen Rest dieses Schuljahres verstreicht und endlich die Sommerferien beginnen. So zählen wir alle gemeinsam die letzten Sekunden des Unterrichts: Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins.
„Ding, Dong“, hallt es durch die ganze Schule.
Die Schüler stürmen wie auf ein Zeichen aus den Klassenzimmern. Mitten unter ihnen bemerke ich plötzlich einen Jungen. Ich habe ihn noch nie zuvor hier gesehen. Er steht mit abwesendem Blick mitten im Gang. Es scheint fast so, als wüsste er nicht, wie ihm geschieht. Alle weichen ihm aus, um sich an ihm vorbeizudrängeln. Einige beschweren sich sogar
bei ihm, was ihm einfiele, einfach stehen zu bleiben. Natürlich merke ich zu spät, dass er keinen Zentimeter von der Stelle gerückt ist und lauf in ihn hinein. Er weicht mit einem gleichgültigen Blick von mir zurück. Ich entschuldige mich bei ihm, doch er geht nicht drauf ein und verlässt das Schulgebäude. Voller Verwunderung schaue ich ihm nach. Ein Schmerz in meinem Arm lässt mich zusammenzucken. Es ist meine beste Freundin, Annelie. Sie hat Alles mitbekommen und wollte durch einen Knuff in meinen Oberarm meine Aufmerksamkeit gewinnen.
„Au, was soll das?“, stelle ich sie zur Rede.
Annelie fängt an zu kichern, und schiebt mich hinaus. Währenddessen beginnt sie aufgeregt zu reden: „Was ist da gerade abgelaufen mit dir und diesem sehr gut aussehenden Jungen?“. Ein verschmitztes Lächeln überzieht ihr Gesicht.
Bevor wir den Schulhof verlassen, verabschiede
ich mich von meinen Freunden, da ich die meisten von ihnen erst wieder im nächsten Schuljahr sehen werde. Meine Freundin wartet schon auf mich vor der Schule. Gemeinsam schlendern wir noch zur Eisdiele. Annelie hört nicht auf über die Begegnung mit mir und dem unbekannten Jungen zu fantasieren. Zum Glück kann ich das Thema wechseln. Zwar schwärmt sie nun über meinen Zwillings Bruder, jedoch ist mir dies viel lieber als das Gerede über diesen fremden Jungen und mich.
Endlich an der Eisdiele angelangt bestelle ich mir ein Zartbitterschokoeis. Genießerisch schlecke ich an meinen Eis, während Annelie angewidert auf meine Kugel Eis starrt.
„Wie kannst du das nur freiwillig essen? “, fragt sie, während sie ihr Erdbeereis verschlang.
„Siehst du doch.“, entgegne ich und schlecke demonstrativ weiter.
Wir kommen auf das vergangene Schuljahr zu sprechen. Außerdem spekulieren wir wie das
nächste Jahr für uns verlaufen wird und wer neu dazukommen könnte. Meine Freundin erzählt mir, dass sie hofft, den Herrn Fiedle als Lehrer zu bekommen. Der für sie anscheinend einzig wichtige Aspekt: Seine besonders sportliche Figur und laut ihr auch sein knackiger Hintern.
Draußen sind es mittlerweile etwa 35°C und der Weg von der Eisdiele nach Hause war in der Hitze sehr anstrengend gewesen.
Ich gehe erst Mal duschen, denke ich mir, während ich das Haus betrete und die kühle Luft von drinnen meinen verschwitzten Körper abkühlt. Mit dem Kochen muss ich mich halt umso mehr beeilen. Meiner Mutter habe ich nämlich versprochen, dass ich uns was zu Mittag kochen werde. Sie arbeitet heute bis spät abends und kann deshalb nicht für uns kochen. Da mein Bruder auch nicht kochen wird, muss ich das machen. Im Flur ziehe ich mir meine Schuhe aus. Neben meinem Platz sehe ich mit
Erstaunen die Schuhe meiner Mutter. Ich schaue zur Garderobe und die hängende Jacke bestätigt mir - sie ist zu Hause. Was macht sie hier schon so früh? Um das herauszufinden, rufe ich nach ihr.
Die Antwort kommt aus der Küche: „Hier bin ich. Kommst du mal bitte, Schatz!“
„Geht es dir gut, Mam?“, frage ich verwundert, während ich meine Tasche ablege. Auf dem Weg zur Küche kommt die Antwort meiner Mutter mit Verzögerung. Sie versichert mir, dass es ihr gut geht. Irgendwas beunruhigt mich. Der Weg zur Küche kommt mir dieses Mal länger vor als sonst. Eigentlich kann man von der Haustür zur Küche hereinschauen und doch kann ich meine Mutter noch nirgends sehen. Ihre Stimme ist es, die mir heute anders vorkommt. Aber vielleicht täusche ich mich ja auch und es gibt Nichts worüber ich mir Gedanken machen müsste. Mehr Zeit zum Nachdenken bleibt mir nicht, denn ich stehe schon mitten in der Küche und
sehe meine Mutter. An ihrer Seite steht ein Mann.
Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Dennoch weiß ich, wer er ist. Mein Vater. Hätte ich ihn nicht schon zuvor auf einem Foto gesehen, würde ich ihn spätestens jetzt an seiner großen Nase erkennen. Sie ist unverwechselbar. So groß und voller Sommersprossen. Dieselbe, die auch ich in meinem Gesicht trage und an mir so hasse. Er ließ sich nicht mehr blicken, seit ich fünf war. In mir beginnt Wut und Enttäuschung zu wachsen.
„Mandy, alles okay?“, höre ich die Stimme meiner Mutter.
Ich möchte antworten, doch ist Alles zu viel für mich. Überforderung. Ich habe das Gefühl, als würden meine Beine gleich unter mir nachgeben. Ich versuche mein Gleichgewicht zu halten, doch schaffe ich es nicht. Verzweiflung. Krampfhaft suche ich nach einem Halt, lehne
mich gegen die Küchenzeile und blicke auf, sehe meinen Vater an. Doch der schweigt. Hat er überhaupt schon etwas gesagt oder war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt und habe deshalb nicht mitbekommen, dass er etwas von sich gegeben hat?
Aus ein paar Sekunden des Schweigens wird eine Ewigkeit. So kommt es mir jedenfalls vor. Stille. Blicke, die auf mir ruhen. Ich ertrage es nicht mehr, kann mich nicht mehr beherrschen. Wut. Es muss aus mir raus und deshalb schreie ich meine Eltern an: „Warum jetzt? Warum nicht schon viel früher?“. Immer wieder wiederholen sich die Sätze in meinem Kopf. Warum jetzt? Warum nicht schon viel früher...
Meine Mutter kommt auf mich zu. Sie will mich trösten. Sie will mich in die Arme nehmen. Ich jedoch trete einen Schritt zurück. Nein, so nicht. Verständnisvoll lässt sie mich gewähren und kehrt an ihren Platz zurück. Er schaut mich
nur still an. Seine Anwesenheit und sein gleichzeitiges Schweigen ist für mich nun unerträglich. Was ich schon die ganze Zeit versucht habe zu vermeiden geschieht nun. Meine Füße fühlen sich an wie Gummi und können jederzeit nachgeben. Am liebsten würde ich mich hier und jetzt zusammenrollen und die Welt um mich herum vergessen. So, wie ich es früher öfters getan habe. Wie gerne würde ich ihm zeigen, dass es mich verletzt hat. Wie sehr ich ihn in meiner Kindheit vermisst habe. Wie oft ich mir meinen Vater gewünscht habe und dennoch hatte ich ihn nie an meiner Seite.
Bevor ich ihm diese Wunden jedoch zeige, renne ich aus der Küche, hinauf in mein Zimmer. Die Tränen laufen mir schon übers Gesicht. Der Tränenstrom der aus meinen Augen quillt wird immer stärker. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Angelehnt an diese, versuche ich mich unter Kontrolle zu bringen. Es klopft. Ich aber möchte alleine sein. Mit zittrigen
Händen und verschleiertem Blick drehe ich den Schlüssel herum. Um meine Kontrolle ist es nun ganz geschehen. Bevor meine Knie nachgeben, lasse ich mich an der Tür hinabgleiten und rolle mich, am Boden sitzend, zusammen. Ich muss schluchzen. Meine Mutter hört es, denn das Klopfen wird lauter.
„Mach doch auf.“, bittet sie.
Ich jedoch drehe mir meine Musik laut auf und setzte mir die Kopfhörer auf. Die Stimme meiner Mutter und ihr Klopfen verhallen in weiter Ferne.