Nachdem er seine letzte Marlboro geraucht hatte, legte Ringo seine Füße auf den abgestoßenen Couchtisch, lehnte sich in dem uralten Ledersofa zurück und schloss die Augen, um sich besser auf die Geräusche in dieser miesen Einzimmerwohnung beim Praterstern konzentrieren zu können.
Er konnte das Quietschen der Autoreifen hören, wenn sich irgendwelche dummen Teenager ein Hatzerl um den Kreisverkehr lieferten, er konnte die Straßenbahn hören zumindest bis Mitternacht, dann war Betriebsschluss das Summen des Kühlschranks hinter ihm, das lüsterne Geschrei der umtriebigen Nachbarin, das Klicken des Minutenlichts im Stiegenhaus und dann und wann, die Spülung der Gangtoilette. Wenn Ringo genau aufpasste, konnte er sogar den Lärm des knapp dreihundert Meter entfernt gelegenen Wiener Wurstelpraters hören, mitsamt seinen Hochschaubahnen, Schießbuden und Spielhallen.
Sein heutiger Kunde arbeitete in einer dieser Spielhallen. Er machte gewöhnlich gegen ein Uhr Schluss, ging dann noch auf ein Krügerl Budweiser ins Gasthaus „Himmelreich“ und pflegte meist in Begleitung einer Dame aus dem Rotlichtmillieu gegen zwei Uhr heim zu kommen.
Soweit reichten Ringos Recherchen und noch weiter:
Sein Klient, mit Namen Rudolf Visloczil auch der „Blaue Rudl“ genannt war als Geldwechsler im „Café Fortuna“ im Prater tätig und stand seit einiger Zeit im Verdacht, dort in die eigene Tasche zu arbeiten. Summa summarum 50.000 hatte er in den letzten drei bis vier Monaten eingesteckt so die Gerüchteküche aber Ringo glaubte an wesentlich mehr. Er hatte erfahren, dass der Blaue Rudl angeblich über 200.000 auf der Seite hatte, zum Teil im „Fortuna“ unterschlagen, andernteils von Geschäftsleuten mit originellen sexuellen Vorlieben erpresst.
Diese 200.000 Gründe hatte Ringo also, in diesem mit Kakerlaken verseuchten Wohnschlafzimmer vom Blauen Rudl, auf eben diesen zu warten und ihm eine Umverteilung der Besitzverhältnisse vorzuschlagen und dies gegebenenfalls mit Gewalt durchzusetzen.
Wesentlich lockerer würde sich Ringo allerdings fühlen, hätte er noch eine Zigarette zu rauchen bevor der Rudl heim kam. Also durchsuchte er seine Hemd- und Hosentaschen nach einem Glimmstängel. Vielleicht war ihm ja eine Zigarette aus der Packung gefallen, dachte sich Ringo und suchte im spärlichen Lichtschein seines Feuerzeugs zuerst den schäbigen Couchtisch und danach den Boden rundherum ab und stellte fest, dass der vergammelte Teppichboden schon seit Ewigkeiten keinen Staubsauger mehr gesehen haben musste.
Er stand auf und klopfte sich mit einem Ausdruck des Ekels die Kleidung ab und wollte resignierend wieder auf dem staubigen Sofa Platz nehmen um auf sein Opfer zu warten.
Ohne Zigaretten eben.
Ringo zuckte zusammen. Da waren deutlich Schritte im Stiegenhaus zu hören gewesen, die anscheinend näher kamen.
Ringo ging hinter dem Sofa in Deckung und fingerte umständlich eine Glock 17 aus seiner Jackentasche. Die Waffe hatte er einem korrupten Kriminalbeamten beim Stoß spielen abgenommen und sie hatte ihm schon mehrfach gute Dienste erwiesen. Und das, obwohl er noch nie einen Schuss daraus abgegeben hatte. Die Leute hatten einfach schon genug Respekt vor einem, wenn man einen Wunsch nur mit einer Pistole in der Hand äußerte. Die meisten Menschen, mit denen Ringo bisher zu tun gehabt hatte, waren entweder unbescholtene Staatsbürger gewesen, oder kleine Ganoven, wie er selbst. Da wurde man sich schnell einig, auch ohne Schusswaffengebrauch.
Ein paar Watschen waren vielleicht schnell ausgetauscht aber einig wurde man sich eigentlich immer.
Nur heute war die Situation ein bisschen eine andere.
Es ging nämlich nicht um drei Bier, ein Mädchen oder, meinetwegen, um ein paar Hunderter, die den Besitzer wechseln sollten, sondern eben um 200.000 Euro das würde möglicherweise nicht so schnell besprochen sein, wie Ringos übliche Geschäfte.
Die Schritte am Gang kamen näher.
Ringo umklammerte die Glock mit beiden Händen und malte sich die folgende Bewegung aus: Er würde den Blauen Rudl, sobald dieser Licht gemacht hatte, anherrschen, sich auf den Bauch zu legen und alle Viere von sich zu strecken. Dann würde er ein paar große Sprüche klopfen, ihn zur Herausgabe des Schließfachschlüssels bewegen er wusste, dass der Rudl das ganze Geld in einem Schließfach am Bahnhof Praterstern deponiert hatte und nicht zu Hause und ihn mit dem Klebeband, das er extra mitführte, fesseln. Anschließend würde Ringo noch eine von Rudls Zigaretten rauchen und ihn ein bisserl am Schmäh halten und dann, ja dann würde er einfach wieder aus der Wohnung spazieren.
Den Schlüssel zu 200 Riesen in der Tasche.
Die Schritte verstummten vor der Türe und Ringo konnte einen Schlüsselbund klimpern hören. Ihm stand jetzt beinahe der Atem still, denn es hieß allgemein, der Blaue Rudl wäre nicht gerade der Zimperlichsten einer. Angeblich hatte er schon wegen einem Packerl Smart jemanden krankenhausreif geschlagen mit bleibenden Schäden.
Angeblich.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss und Ringo wünschte sich plötzlich ganz weit weg.
So eine bescheuerte Idee! Einem Praterstrizzi sein mühsam Zusammengespartes fladern zu wollen …
Aber jetzt gab es kein zurück mehr Ringo konnte ja schwer sagen, er hätte sich in der Tür geirrt und einfach hinaus spazieren.
Des größeren Überraschungseffektes wegen versteckte sich Ringo nun doch schnell noch hinter der Küchentüre ehe der Rudl seine Wohnung betrat und war versucht, sich in die Hose zu pinkeln, als er den riesengroßen Schatten im Eingang sah.
So groß hatte er den Geldwechsler auch nicht mehr in Erinnerung gehabt, füllte der Blaue Rudl den Türstock doch beinahe zur Gänze aus.
„Sodalla, do wär ma!“ brummte der Rudl der Dame, die er mitgebracht hatte, quasi als förmliche Einladung zum Beischlaf zu.
Obwohl die Prostituierte ein bisschen zu kräftige Schenkel hatte für Ringos Geschmack, war sie doch recht ansehnlich, fand er. Deshalb beschloss er, noch ein paar Minuten mit seinem Überfall zu warten, bis die beiden so richtig bei der Sache wären. Erstens, um den Effekt seines Auftrittes zu verstärken, und zweitens, um noch ein paar Mal tief durch zu atmen, denn er fühlte sich zunehmend unwohler bei der Sache.
Der Rudl kämpfte die Dame nach allen Regeln vorstädtischen Brunftverhaltens auf das Sofa nieder, um ihr dort die Kleider vom Leib zu reißen. Als sie einen lustvollen Schrei ausstieß und aus der Nebenwohnung die Aufforderung kam, gefälligst den Schlapfen zu halten um diese Uhrzeit, begannen Rudls Augen gefährlich zu funkeln.
Allerdings nicht in der Art, wie einem vielleicht vor sexueller Erregung die Augen funkelten sie leuchteten plötzlich feuerrot aus Rudls Kopf, sodass Ringo offenen Mundes beschloss, vorläufig abzuwarten und einen gepflegten Schweißausbruch zu bekommen.
Was war das denn, bitte?!
Der Rudl hob den Kopf mit einem Ruck in die Höhe, so dass Ringo einen Augenblick lang genau in sein Gesicht sehen konnte. Seine Augen leuchteten jetzt so rot, wie glühende Kohlen, unter seiner Stirn bewegten sich Rudls Schädelknochen hin und her und aus seinem schnurrbärtig umrahmten Mund staken vier ziemlich lange Eckzähne hervor. Der Rudl tat einen Schrei und ließ hernach seinen Kopf in Richtung Hals seiner Beischlafpartnerin schnellen, worauf sich ihr anfänglich lustvolles Stöhnen in ein hilfloses Gurgeln verwandelte.
Zwar gebannt vor Entsetzen, konnte Ringo allerdings seine Neugier auf diese perverse Szenerie doch nicht zügeln, wagte sich einen winzigen Schritt aus seinem Versteck und konnte im schwachen Schein der von draußen einfallenden Straßenbeleuchtung sehen, wie der Blaue Rudl der Prostituierten den Kopf abriss und anschließend das aus ihrer Halsschlagader pulsierende Blut trank. Ringo bemühte sich nach Kräften, seine Körperfunktionen unter Kontrolle zu behalten und sich nicht in die Hose zu machen oder sich zu übergeben.
Oder beides.
Würde er diese Bruchbude jemals lebend verlassen dürfen, so schwor er sich, würde er von nun an für immer ein ehrliches Leben führen.
In anderer Leute Wohnung einbrechen so eine Schnapsidee…
Im Zimmer waren noch eine Weile einige Schmatz- und Grunzgeräusche zu vernehmen, dann kehrte langsam Ruhe ein. Rudl, der nun offensichtlich satt war, fegte die Körperteile der Liebesdienerin mit einer schnellen Handbewegung vom Sofa, ließ an ihrer statt sich selbst dorthin fallen, rülpste laut - und schlief einfach ein.
Ringo hatte seine Sinne, die ihm kurzfristig abhanden gekommen waren, wieder zusammen gesammelt und überlegte, ob sich eine Flucht aus der Höhle dieses Vampirs oder Werwolfs oder, was auch immer der Rudl darstellen sollte, rentieren könnte.
Für ein ehrliches Leben, schwor er sich wieder.
Auf dem Sofa zwischen der Eingangstüre der Wohnung und der Küche, wo sich Ringo versteckt hielt, lag der Rudl-Vampir und genoss sein Verdauungsschläfchen. Ringo schätzte die Distanz zur hoffentlich rettenden Türe auf ungefähr fünf Meter und besagtes Sofa stand mit dem Rücken zu ihm. Sechs oder sieben große Schritte, möglichst lautlos zurück zu legen, war für ihn als geübter Einbrecher kein Problem. Er musste nur darauf achten, nicht auf den Blutlacken auf dem Parkett oder auf irgendeinem Körperteil der Prostituierten auszurutschen und im letzten Moment alles kaputt zu machen.
Ringo holte tief und geräuscharm Luft und machte sich auf den Weg in die Freiheit. Als er nach acht unendlich langsamen Schritten endlich erfolgreich vor der Türe stand, drückte er die Klinke hinunter und es passierte genau nichts. Es war abgeschlossen.
Vampir oder nicht - der Rudl hatte anscheinend tatsächlich Angst, dass ihm jemand irgendwelche Wertgegenstände in die Wohnung bringen könnte und hatte zugesperrt und den Schlüssel abgezogen.
Paralysiert starrte Ringo die versperrte Türe an und vergaß gänzlich darauf, sich einen Plan B zu schmieden vielleicht aus dem Fenster zu springen, um Hilfe zu rufen oder sich in der Küche die Pulsadern aufzuschneiden. Als er allerdings bemerkte, wie sich plötzlich des Rudls Riesenpranken von hinten langsam und eisern um seinen Hals schlossen und zudrückten, verschwendete er seine letzten zehn Lebenssekunden unnützerweise auf eine Panikattacke.
Der Rudl hatte offenbar noch Lust auf ein Dessert bekommen.
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