Roter Samt
7. Kapitel
Annegret nahm die Gummistiefel aus dem Kofferraum. Knallig gelb. Eine andere Farbe hatte sie nicht bekommen. Doch sie brauchte neue. Ihre alten sahen doch schon recht mitgenommen aus. Es konnte nicht schaden wasserfestes Schuhwerk an die Ostsee mitzunehmen. Konstantins Auto war noch nicht da. Das unwillige Knattern eines Rasenmähers war zu hören. Sie ging um das Haus und stellte die Stiefel auf die Terrasse. Einige Stufen der breiten Freittreppe, die von der Terrasse auf den Rasen führte, waren ausgebröckelt. Auch an der niedrigen Mauer,
die sich rechts und links der Freitreppe befand, war Putz abgefallen. Sie musste mit der Vermieterin sprechen. Max, eigentlich Maximilian, der junge Mieter aus dem Souterrain, mähte den Rasen. Er war schon in Ufernähe und fast fertig. Von weitem winkte er. Annegret bedeutete ihm, den Rasenmäher auszuschalten.
„Wir sind am Wochenende nicht da“, rief sie.
„Du bist also Chef im Hause.“
„Prima“, antwortete er lachend, „dann kann ich ja ´ne Party feiern.“
Er schaltete den Rasenmäher wieder ein.
Annegret schmunzelte. Sie blieb noch auf der Terrasse stehen. Der Dampfer der stündlich den Kanal durchfuhr hatte gerade Signal
gegeben. Größere Boote durften dann den Kanal nicht mehr befahren, kleinere mussten ans Ufer steuern. Es war schon vorgekommen, dass die Unvernunft der Besitzer größerer Boote, sie zum Zurücksetzen ihres Bootes zwang. Langsam fuhr der Dampfer vorbei. Es waren kaum Fahrgäste an Bord. Ein Paddel- und ein Schlauchboot, die dicht ans Ufer gefahren waren, setzten ihre Fahrt fort. Als Annegret das Haus betrat klingelte das Telefon. Es war Konstantin, der ihr mitteilte, dass er noch im Büro zu tun hätte. Sie solle mit dem Abendbrot nicht warten. Irgendwie kam ihr das sogar gelegen. Sie würde die Reisetasche schon packen, viel brauchten sie ja nicht für ein Wochenende, dann würde
sie sich ein Baguettebrötchen lecker belegen, ein paar Gürkchen dazu legen, vielleicht trank sie sogar ein Glas Wein und dann würde sie das Tagebuch weiterlesen. Je länger sie gestern gelesen hatte, desto deutlicher erschien das Gesicht von Frau Marquardt in ihrer Erinnerung. Sie war eine schöne Frau gewesen. Ob sie wohl noch lebte? Sie war jünger als Hannelores Tante. An Benjamin hatte sie keine Erinnerung. Aber sie erinnerte sich, dass sie damals ihre erste Tasse mit heißer Schokolade getrunken hatte. Bei Frau Marquardt - in der Küche - vor vierzig Jahren.
Annegret nahm ihren Teller, ihr Glas mit Mineralwasser - auf Wein hatte sie mit einem Mal keinen Appetit mehr - und ging ins
Gästezimmer. Das Buch lag auf dem Tisch vor der Couch, daneben die losen Seiten. Sie nahm einige der Seiten und faltete sie auseinander. Einige waren mit Bleistift, andere mit Kopierstift beschrieben. Fast alle Seiten waren angeschmuddelt. Doch sie stapelte die Seiten wieder zu einem ordentlichen Packen und griff zum Buch.
Juni 1939
Ich habe das alte Ehepaar Reimann lange nicht gesehen. Bei schönem Wetter saßen sie oft Hand in Hand auf einer Bank im Treptower Park. Wenn ich mit Benjamin an ihnen vorbeiging, stand Frau Reimann immer auf und strich ihm über das Haar. Sie lächelte dann, doch ihre Augen waren traurig. In der
Nachbarschaft munkelt man, dass sie in ein Judenhaus ziehen mussten. Ich habe Hans davon erzählt. Er hat kaum zugehört. Die Schneiderei bereitet ihm Sorgen. Er bekommt kaum noch Stoffe, um Anzüge zu schneidern. Die prominenten Kunden kommen nicht mehr. Dafür gehört jetzt SS-Sturmbannführer Meinke zu seinen Kunden. Wenn ich in der Schneiderei bin, grüßt er höflich. Begegnet er mir auf der Straße, sieht er mich abschätzend an, zieht mich mit den Augen aus. Er wohnt Am Treptower Park. Manchmal sehe ich seine Frau mit dem Sohn spazieren gehen. Er ist vielleicht ein Jahr älter als Benjamin. Sie grüßt nicht.
August 1939
Ich bekomme nur selten Post von meinen Eltern. Der letzte Brief ist vom Juni. Ich bin so froh, dass es ihnen gut geht.
Heute habe ich gesehen, wie ein Mann mit seinem Sohn in ein Auto gezerrt wurde. Er ist Jude. Ich kenne ihn vom sehen. Es gibt nicht viele Juden in unserer Wohngegend. ... und es werden immer weniger.
September 1939
Wir haben Krieg. Auf der Straße brüllen Kinder in HJ-Uniform:
„Sieg, Sieg, Sieg!“
Ich habe Angst. Im Park hat man zwei erschlagene Männer und ein totes Kind
gefunden. Frau Knecht hat es mir erzählt. Sie hat es beim Kaufmann erfahren. Ich habe sie gefragt, ob es Juden waren. Sie wusste es nicht.
Sie fragte, ob ich schon einmal daran gedacht hätte, Benjamin in Sicherheit zu bringen. Wie und wo soll ich Benjamin in Sicherheit bringen?
September 1939
Heute war ich in der Schneiderei. Ich gehe nicht mehr gern dorthin. Auf dem Weg bin ich an einem Lastwagen vorbeigekommen, auf dem Männer, Frauen und Kinder zusammengepfercht wurden. Die kleineren Kinder weinten. Ich dachte an Benjamin. Er
war bei Frau Knecht gut aufgehoben.
In der Schneiderei half ich dem Bügler die SS-Ausgehanzüge abzubürsten. Sie hingen auf einer Stange. Dieser feiste SA-Mann, der seit einiger Zeit Kunde bei Hans ist - ich vergesse den Namen immer - betrat die Schneiderei. Er sah mich hinter den Anzügen nicht.
„Na, Herr Marquardt, haben Sie über unser letztes Gespräch nachgedacht?“, fragte er.
„Sie wissen doch ... es gibt auch die Zwangsscheidung.“
Der Bügler hat beschwörend den Finger auf den Mund gelegt.
Ich sollte mich nicht bemerkbar machen.
Hans hat den SA-Mann in den Zuschneideraum geführt.
Oktober 1939
Wieder keine Post von meinen Eltern.
Januar 1940
Ich fahre nur noch selten in die Schneiderei. Dabei braucht Hans so dringend Hilfe. Er hat eine Bürohilfe bekommen. Vorgeschlagen wurde ihre Einstellung von SS-Sturmbannführer Meinke. Eine hübsche Blondine. Hans traut ihrer Buchführung nicht. Deswegen bin ich heute in die Schneiderei gefahren.
Hans hatte recht. Entweder ist sie zu dumm die Buchführung zu machen oder es steckt etwas anderes dahinter. Aber auf ihrer Bluse prangte das Abzeichen der NS-Frauenschaft.
Mich behandelte sie sehr kühl.
Ich bekomme keine Post mehr von meinen Eltern.
Frau Knecht sagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Auch aus anderen Ländern würde die Post nur noch unregelmäßig nach Deutschland gelangen.
September 1940
Ich habe lange nicht mehr in dieses Buch geschrieben. Ich möchte es auch nicht mehr. Worüber soll ich schreiben? Über die Angst, Beleidigungen, Demütigungen und die schmerzende Sehnsucht nach Benjamin, die Ungewissheit seines jetzigen Aufenthaltes, die Sorge, ob es ihm gut geht. Frau Knecht sagt, dass ich mir den Kummer von der Seele schreiben soll. Das Buch soll ich gut
verstecken meint sie. Wer weiß, wem es einmal in die Hände fällt.
Benjamin ist bei meinen Eltern. Das hoffe ich. Frau Knecht hat mich immer wieder angesprochen, Benjamin in Sicherheit zu bringen. Dabei wusste sie doch, dass ich Deutschland nicht verlassen durfte. Ich habe das rote „J“ in meinem Pass. Eines Tages sprach sie von Kindertransporten. Jüdische Kinder, die ohne ihre Eltern nach England gebracht wurden, wenn sichergestellt war, dass sie dort in einer Pflegefamilie aufgenommen würden. Meine Eltern lebten dort, sagte sie, also bestünde eine Chance, Benjamin dort hinzuschicken. Ein Problem könnte allerdings sein, dass Benjamin nicht zwei jüdische Elternteile hat und dass er noch
so klein ist. Ihres Wissens war das jüngste Kind vier Jahre alt, das mit einem Kindertransport verschickt wurde. Ich war entsetzt. Benjamin ins Ungewisse schicken, ohne dass ich ihn begleiten konnte. Zu meinen Eltern hatte ich seit Monaten keinen Kontakt. Sie erklärte mir geduldig, dass die Organisation bei den Engländern liegt. Erst wenn dort alles geregelt ist, wird die Zustimmung zur Einreise erteilt. Ausgewählt werden die Kinder in Deutschland. Es gibt Menschen, die sich darum kümmern. Ich fragte sie, woher sie das alles wisse. Sie antwortete nur, dass ich ihr vertrauen soll. Als ich Hans davon erzählte, nickte er immer wieder mit dem Kopf und sagte schließlich:
„Wir sollten darüber nachdenken. Schnell!“
Diese Antwort sagte alles. Es war ernst, nein, es war schlimm, schlimmer noch, als von mir gedacht. Er sprach mir immer Mut zu, tröstete mich mit Worten wie „uns kann das nicht passieren“ oder „wir sind als privilegierte Mischehe“ eingestuft. Ich habe die ganze Nacht geweint. Am nächsten Morgen hatte ich beschlossen, mich nicht von Benjamin zu trennen. Doch dann änderte ich meinen Entschluss.
Ich war mit Benjamin auf dem Weg zur Schneiderei. SS-Sturmbannführer Meinke kam mir entgegen. Vor der Eingangstür trafen wir zusammen. Kalt sagte er zu mir:
„Sie sind eine schöne Frau, leider Jüdin ... und deshalb werden sie mit diesem Judenbalg nicht mit mir gemeinsam die
Schneiderei betreten. Wenn ich drinnen fertig bin, dürfen sie gern hinein und den Schmutz von den Uniformen bürsten.“
Seit Mai ist Benjamin in England. Frau Kern brachte ihn zum Zug und übergab ihn dort einer netten Frau - das sagte sie zumindest. Und ich wollte ihr glauben. Die Kinder wurden nach Holland gebracht. Von dort fuhren sie mit dem Schiff nach England. Benjamin war zwei Jahre alt.
Ich habe seitdem nichts von ihm gehört.
Frau Knecht versichert mir immer wieder, dass das Schiff mit den Kindern gut in England angekommen sei. Alle Kinder wurden von den Pflegefamilien abgeholt. Waren meine Eltern auch da?
Oktober 1940
Berlin wird bombardiert. Auf London fielen Bomben. Schon im September. Ich sorge mich ... um Benjamin, meine Eltern, habe Angst um Hans. Er erzählt nichts mehr von der Schneiderei.
In die Schneiderei gehe ich nicht mehr
Annegret blätterte weiter. Fehlten hier Seiten? Hatte Frau Marquardt über einen so langen Zeitraum keine Eintragungen gemacht? Doch alle Seiten schienen vorhanden. Sie hörte die Haustür zuschlagen. Kurz darauf kam Konstantin ins Gästezimmer.
„Du bist ja schon wieder mit dem Buch
beschäftigt“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie kaute gerade an der letzten Gurke, die noch auf dem Teller gelegen hatte.
„Es ist unglaublich, was Menschen erleiden mussten“, antwortete sie.
„Kannst du dir vorstellen, dass wir Oliver als er klein war, hätten weggeben müssen ihn auf einen gefährlichen Weg, ins Ungewisse schicken?“
Konstantin schaute sie verständnislos an. Annegret winkte ab. Natürlich wusste Konstantin nicht, was sie meinte.
„Du musst das Buch lesen“, sagte sie, „dann weißt du worum es geht.“
„Du kannst es mir ja am Wochenende beim Strandspaziergang erzählen“, erwiderte er.
„... und du kannst mich am Wochenende zum Muschelessen einladen.“
Dann griff sie wieder nach dem Buch, das sie kurzzeitig aus der Hand gelegt hatte.
© KaraList 09/2015