Bahnskizzen
Gestern war ich wieder zum Stammtisch unterwegs.
Immer mal ändert die S-Bahn ihre Gewohnheiten. Bahnsteige werden gewechselt und der Rhythmus von 10 Minuten wurde auch mal wieder gekippt, was einen ungewollten Personenstau am Bahnhof Wannsee ergab. Ich betrachte die Fahrgäste und mache mir meine Gedanken über die Wechselbeziehung zwischen fantasielosen Socken und der Wesensart der Trägerin. Eigentlich existieren fast 80 % der Passagiere in
ihrer Eigenwelt, denn sie sind eins mit dem Smartphone. Die neue Form der Abhängigkeit. Dazwischen sind kleine Gruppen (meist Ausländer im Inland), welche miteinander reden.
Am Bahnhof Steglitz steigt ein schlanker Mann ein. Er trägt eine Gitarre im Futteral bei sich und flirtet augenblicklich mit einer jungen Frau in meiner Blickrichtung. Dann schält er sein Instrument aus der Tasche, stimmt kurz durch und lockt die Mitreisenden in eine Parallelwelt aus konzertanter Musik. Zart und eindringlich schwingen seine Melodien durch den Wagen und beim nächsten Halt bekommt er von der jungen Frau auch eine Spende. Er bedankt sich
artig mit einer Verneigung und ist schon davon, um die Nächsten zu beglücken.
Die Rückfahrt beschert einen seltsamen Fahrgast. Zwischen den Bänken ist am Ende des Waggons ein etwas erhöhter Schrank. Darauf schwingt sich der Mann und beginnt sich und seinen Kurzhaarschnitt in den Fensterscheiben zu spiegeln. Dann richtet er die Haare penibel aus und ich erwarte, dass er etwas vorträgt. Es kam aber nichts, nur ein weiteres Ausrichten von glatt liegendem Kopfschmuck. Als ein paar Fahrgäste aussteigen, springt er federnd von seinem Platz und setzt sich auf eine Bank. Wieder beginnt sein bereits
gezeigtes Ritual – Haare richten.
Als nächsten Schritt klappt er das Fenster an, weil er meinte, es stinkt. Sicher ist der Mischduft in einem Waggon kein edler, aber nun gab es kostenfrei und ungewollt Zugluft. Rücksichtslos – war das Erste, was ich dachte.
Wenig später verließ der Schmucke die Bahn und es gelang mir das Oberlicht wieder zu schließen.
Die Frau neben mir schenkte mir einen dankbaren Blick!
JFW 16.09.2015