Kurzgeschichte
Abrechnung

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"Abrechnung "
Veröffentlicht am 01. Dezember 2008, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Abrechnung

Abrechnung

Kein Licht am Ende des Tunnels. Kein Engelschor, begleitet von himmlischen Fanfaren. Nicht einmal ein Film, in dem er sein ganzes Leben wie im Zeitraffer noch einmal erlebte. Der Tod, so stellte Armin fest, fühlte sich an als würde man in nasse Laken gehüllt, in ein finsteres, kaltes Loch geworfen. Warum er gestorben war, war nun nicht mehr von Bedeutung. Das Gefühl des Sterbens war so allumfassend, so einnehmend, dass es alle Gefühle die Armin jemals verspürt hatte verdrängte. 
 Er hatte keine Schmerzen. Sein Bewusstsein versank einfach in einer gefühllosen Dunkelheit, wie ein in die Erde herabgelassener Sarg. Alles war schwarz. Armin wusste nun, dass er tot war. Es war ihm unvorstellbar, dass sich eine Bewusstlosigkeit, oder ein Koma so anfühlen könnte. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass er gestorben war und doch war er noch immer in der Lage zu denken. Noch immer schien er seine eigenen Gedanken hören zu können, mit dieser seltsam tonlosen Stimme. Er fühlte sich, als würde er irgendwo im Weltraum schweben. Schwerelos, befreit von jeglicher Gravitation. Im luftleeren, schallfreien Raum. Es gab nichts, was ihn in eine fremde Bahn hätte ziehen können. Er war sein eigenes Gravitationsfeld. Sein eigener Planet. Dieses Gefühl frei zu sein, endlich frei zu sein, löste in Armin eine Welle unglaublichen Glückes aus. Niemals hatte er sich den Tod so vorgestellt. Alles schien ihm viel zu... 

Armins Glücksgefühl verebbte. Er spürte etwas näherkommen. Er spürte, dass sein Bewusstsein plötzlich von etwas anderem angezogen wurde, von etwas Großem. Vergeblich versuchte er dieser Kraft etwas entgegenzusetzen, gab dann aber auf. Willenlos ließ er sich treiben. Auf den Punkt der Anziehung hin. Freudlos und ohne Erwartungen. Von einer Sekunde auf die andere wurde es hell in Armins Verstand. Er konnte plötzlich seinen tot geglaubten Körper wieder spüren. Ebenso den Raum um ihn herum und die Anziehungskräfte, die von allen Seiten an ihm zerrten und um seine Atome kämpften. 

Es dauerte einige Sekunden bis seine Augen, denen er sich langsam wieder bewusst wurde, etwas anderes als helle Flecken wahrnahmen. Bald konnte er Konturen erkennen, Umrisse. Sie schienen ihm unbekannt. Gerade als er sich nach dem Zustand konturloser, körperloser Stille zurücksehnte, machte er seinen ersten, noch unbewussten Atemzug. Es fühlte sich an als würde er Feuer atmen.Sein Körper verkrampfte, sein Geist ebenfalls. Beide schienen sich liebend gerne wieder voneinander trennen zu wollen, doch ihre Wiedervereinigung war bereits vollendet.  
 Sein Körper entspannte sich etwas. Er konnte weitere unförmige Konturen vor sich sehen. Sogar einige Farben stachen blass aus ihnen heraus. Sie kamen Armin fremd und seltsam vor. Er konnte nicht erklären warum, aber sie machten ihm Angst. Ein dunkler Ton erfüllte plötzlich sein Denken. Unerträglich, fast obszön. Wie brechende Gelenkknochen. Der Ton schwoll an, wurde immer lauter. Immer unerträglicher. Armin wollte aufspringen, einfach weglaufen, doch er hatte keine Kontrolle über seinen wieder gewonnenen Körper. Etwas schien ihm an diesem Ton vertraut. Er war sich sicher das er ihn von irgendwoher kannte. War es vielleicht seine eigene Stimme? 
 Bald schon war er sich sicher, dass es nicht seine, aber eindeutig eine Stimme war, die er hörte. Woher, oder von wem, konnte er nicht sagen. Die hellen Konturen um ihn herum nahmen langsam konkretere Formen an. So abstrus, dass sich Armins Verstand fast überschlug bei dem Versuch sie zu interpretieren. Sie wirkten auf ihn wie das planlose Gekritzel eines Kleinkindes. Eines Schwachsinnigen vielleicht. Hätte er seine Beine in diesem Moment gespürt, er wäre ziellos davongerannt. In diese verrückte Welt hinein, die so absurd und bösartig schien wie der Fiebertraum eines Wahnsinnigen. Doch dies war kein Traum. So schlimm waren nicht einmal Armins schlimmsten Alpträume gewesen. 
 Der Ton wurde lauter. Er brachte alles in Armins Innerem zum Beben. Eine Stimme. Armin war sich nicht sicher, ob sie seine Sprache sprach. Er war sich nicht einmal sicher ob es überhaupt eine Sprache war. Für ihn klang es wie das Geschrei eines Gefolterten. Ein Licht durchzuckte ihn, als wäre ein Blitz direkt neben ihm eingeschlagen. Vielleicht sogar direkt in seinen Kopf. Alles wurde noch heller und greller als zuvor. Armin zuckte und verkrampfte erneut. Dann setzte seine Atmung aus. Das Licht verblasste und Armins Atmung normalisierte sich wieder. Die Formen und Konturen kehrten zurück. Immer noch undeutlich, jedoch deutlicher als zuvor. Die blassen Farben wirkten weniger erschreckend. Die Stimme dröhnte immer noch in seinem Kopf, war seit dem Lichtblitz allerdings leiser geworden. Armin versuchte zu sprechen, bekam aber keinen einzigen Ton heraus. Er brach den Versuch ab. Unmittelbar vor sich konnte er eine Figur sehen, die er vorher nicht hatte erkennen können. Viereckig allem Anschein nach. Etwa so groß wie er selbst.  Von hochkommender Panik gepackt versuchte er noch einmal sich zu bewegen. Es funktionierte nicht, da Armins Körpergefühl ihm nicht einmal mitteilen konnte, ob er gerade stand, lag oder saß. Er schloss seine Augen. Seine Lider schienen das einzige Körperteil zu sein, über das er noch Kontrolle hatte. 
 Die Stimme drang wieder zu ihm durch, noch etwas leiser als zuvor. Diesmal erschien sie ihm fast beruhigend. Er merkte, dass die Töne einem bestimmten Rhythmus zu folgen schienen, den er zu verstehen glaubte, ohne ihn erklären zu können. Diese rhythmische Folge von Tönen schien ihm Trost zu sein in dieser chaotischen, undurchschaubaren Welt, in die er gelangt war. Dieses grelle, laute Jenseits.  Er konzentrierte sich auf das Geräusch, das nun nicht mehr so unnatürlich und planlos klang wie noch kurz zuvor. Irgendwie erschien es ihm seltsam vertraut. Rief da jemand seinen Namen? Armin hielt seine Augen weiter geschlossen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Stimme. Empfand er sie vor ein paar Minuten noch als kalt, schrill und furchteinflößend, so kam sie ihm nun vor wie eine warme, helle Stube. Wie ein sicherer Hafen hinter stürmischen, unbekannten Gewässern. Er hatte ihren Ryhtmus erkannt. Er hatte ihn sogar wiedererkannt. Er war sich nun fast sicher, dass dieser Ton sein Name war. Er war dieser Ton. Er war dieser Hafen. 
 
 "Armin ! Armin Zweig ! Herr Armin Zweig !!" Er wollte antworten, doch er wusste nicht was. Sein Körper und sein Verstand konnten es höchstens ahnen. 
 "Verstehen Sie mich!?" - "Ja", sagte Armin, mit immer noch zugekniffenen Augen. Seine Stimme klang wie die eines Kleinkindes, das gerade sein erstes Wort gesprochen hatte. 
 "Sie können ihre Augen jetzt öffnen." Es fühlte sich seltsam an diesen Satz zu hören, dessen Wortlaut Armin zwar nicht verstand, von dem er aber trotzdem wusste, was er bedeutete. Er kam sich vor wie ein Tourist in einem fremden Land, der sich ohne Kenntnisse der Landessprache mit den Einheimischen verständigt. Wie befohlen öffnete er die Augen. 
 Die Welt um ihn herum sah nun nicht mehr ganz so seltsam aus. Die Farben wirkten ungewohnt, aber er konnte jetzt alles erkennen, auch wenn seine Augen tränten und brannten. Die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte kam von einem glatzköpfigen Mann im Anzug, der vor ihm an einem zweckmäßigen, grauen Schreibtisch saß. Er sah ungeduldig aus. 
 "Also, Herr Zweig", begann der Mann zu sprechen. Für Armin klang es immer noch wie Kauderwelsch, obwohl er die Bedeutung verstehen konnte. "Herzlich Willkommen zurück, erst einmal. Ich hoffe sie hatten ein angenehmes Leben. Damit wir diesen ganzen Papierkram schnell hinter uns bringen, müssten Sie diese Aufstellung der Leistungen, die Sie von uns erhalten haben, schnell unterschreiben. Ich les Ihnen die Hauptkostenpunkte mal vor. Da hätten wir also: Die schönen Kindheitserinnerungen, eine zum Preis von 29,99; den ersten Kuss und ähh… exakt 6.525 weitere Küsse á 1,49; der Sex macht insgesamt… kleinen Moment, bitte… 18.325; drei beste Freunde á 249,99; das Kind veranschlagt 2.499,95; diverse Urlaube, da fehlt mir jetzt leider das Formular, aber es müsste sich so im Bereich von zwei- bis dreitausend bewegen; die erfolgreiche Karriere macht genau 2.500, da hatten Sie ja das Sonderangebot. Dazu kommen die Einweisungsgebühren, das Ein- und Ausgliederungsverfahren und etliche weitere Leistungen, die wir Ihnen auf Wunsch gerne schriftlich auflisten. Wie vereinbart gewähren wir ihnen einen Frühbucher-Rabatt von 5%. Das macht also inklusive Mehrwertsteuer...94.271,78 Euro. Bezahlen Sie mit Karte, oder mit Scheck?“ 


ENDE
 
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zellhaufen

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Nera200 hi - gerne wieder gelesen zellhaufen
Vor langer Zeit - Antworten
Nera200 zellhaufen - wirklich solide arbeit die du da geleistet hast ^^
Vor langer Zeit - Antworten
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