Roter Samt
6. Kapitel
Annegret parkte das Auto direkt vor dem Haus. Konstantin war schon zuhause. Sein Auto hatte er weit genug zurückgesetzt, um ihr genug Platz zum Einparken zu lassen. Der Besitzer des Wagens hinter ihm würde nicht begeistert sein. Annegret musste lächeln. Sie stieg aus und sah sich aufmerksam um. Seit ein paar Tagen fühlte sie sich verfolgt. Auch heute in der Mittagsschließzeit hatte sie dieses merkwürdige Gefühl. Sie saß in dem kleinen Café auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber von ihrem Laden. Die Minipizza, die vor ihr auf dem Tisch stand,
duftete appetitlich. Das obligatorische belegte Brötchen, das sie sich sonst vom Bäcker holte und die Tasse Kaffee - beides nahm sie in ihrem Lager ein - entsprach heute nicht ihrem Geschmack. Um diese Zeit war die Friedrichstraße nicht sehr belebt. Erst ab 14,00 Uhr bevölkerten Passanten und Autos die Hauptstraße wieder. Sie blickte hinüber zum Laden. Ein Mann stand vor dem Schaufenster und blickte interessiert auf die Auslagen. Dann ging er mit dem Gesicht näher an die Schaufensterscheibe. Dabei schirmte er die Augen mit der Hand ab. Die Scheibe blendete ein wenig. Sein Basecap verschob sich etwas, als er mit dem Schirm an die Scheibe geriet. Wonach schaute er? Sie hatte selten männliche Kunden, konnte
sie an einer Hand abzählen. Wenn wirklich einmal ein Mann ihren Laden betrat, dann war es der Ehemann einer Kundin, der sie begleitete. Doch nach kurzer Zeit verließen die Männer den Laden und warteten draußen. Vielleicht doch der Mann einer Kundin, der seine Frau suchte. Aber er musste doch sehen, dass der Laden geschlossen war. Dann war er gemächlich weitergegangen. Sie konnte ihn nur von hinten sehen. Seit Hannelores Tod war sie vorsichtig geworden und ... schreckhaft. Wenn jemand den Laden betrat und sie gerade mit dem Rücken zur Tür stand, zuckte sie jedes Mal zusammen. Auch Geräusche im Haus, die ihr sonst vertraut waren, ließen sie aufhorchen. Es war eine alte Villa. Da
arbeiteten schon einmal die Holzdielen.
Konstantin hatte das ein bisschen besorgt beobachtet.
„Weißt du was“, hatte er gestern gesagt, „wir fahren am Wochenende nach Graal-Müritz. In die kleine Pension, in der wir schon zweimal waren. Von Freitagabend bis Sonntag. Ich kümmere mich darum.“
Sie lächelte vor sich hin als sie jetzt daran dachte. Erst hatte sie gezögert, weil sie am Sonnabend den Laden würde schließen müssen, doch dann hatte sie zugestimmt und sich über seinen Vorschlag gefreut.
Als sie das Haus betrat zog der Duft von Bratkartoffeln in ihre Nase. Konstantin hatte schon mit der Vorbereitung des Abendbrotes begonnen. Sie wusste auch warum. Er wollte
pünktlich zu Beginn des Fußballspieles vor dem Fernseher sitzen. Das war absolut in Ordnung. Sie würde sich im Gästezimmer auf die Couch legen und sich mit dem roten Buch, das Hannelore ihr gegeben hatte beschäftigen. Daran hatte sie keinen einzigen Gedanken verschwendet. Es war zu viel passiert. Unangetastet lag es immer noch in der Schublade in der Flurgarderobe, in der auch die Telefonbücher lagen. Warum sie es gerade dort hinein gelegt hatte, wusste sie auch nicht.
„Möchtest du Spiegeleier zu den Bratkartoffeln? Wir haben auch noch einen Rest Sülze.“
Konstantin schwang den Kochlöffel. Schmunzelnd küsste er sie ihn auf die Wange.
„Ich nehme die Sülze. Außerdem habe ich heute Appetit auf ein Glas Bier.“
„Das ist ein Wort“, sagte Konstantin
„In fünf Minuten können wir essen.“
Annegret trat auf die Terrasse und schaute auf die vorbeifahrenden Boote. An den Wochentagen hielt sich der Bootsverkehr in Grenzen. Doch an den Wochenenden war ganz schön Betrieb auf dem Kanal. Die Palette der Boote reichte vom Paddelboot bis zur Yacht, deren Wert, den ihres Autos, um ein Vielfaches überstieg. Doch ab 21,00 Uhr wurde es ruhig. Die Schleuse schloss um 22,00 Uhr. Im Sommer. Im Winter schloss sie früher. Aber da fuhren sowieso keine Boote. War die Schleuse im Winter überhaupt in Betrieb? Sie wusste es nicht.
„Fertig“, rief Konstantin.
„Hat sich Lothar bei dir noch einmal gemeldet?“, fragte er während er das Bier in die Gläser goss.
„Nur am Sonntagabend, um Bescheid zu sagen, dass er gut nach Hause gekommen ist. Aber das weißt du ja. Ich habe mich gefreut, dass er am Sonntag gekommen ist. Zuhause hätte er nur allein gesessen und gegrübelt. Hannelores Beerdigung ist noch nicht einmal zwei Wochen her. Ich werde ihn morgen anrufen und ihm sagen, dass wir übermorgen für zwei Tage an die Ostsee fahren.“
Sie spießte die letzten Kartoffelscheibchen auf ihre Gabel.
„Die Bratkartoffeln waren wunderbar
knusprig“, lobte Annegret.
„Vielleicht gibt es doch neue Erkenntnisse von der Polizei. Mal sehen, was er morgen sagt. Große Hoffnung hatte er am Sonntag nicht.“
„Spuren hat die Polizei ja gefunden, auch an Hannelore - es gab schließlich einen Kampf - doch wenn sie keinem zuzuordnen sind, ist die Polizei in einer Sackgasse“, sagte Konstantin.
„Warten wir ab“, erwiderte Annegret und räumte das Geschirr ab. Ihr fiel es schwer über das Geschehene zu sprechen.
„Auf jeden Fall werden wir Lothar beim Umzug helfen. Ich habe mir gedacht, dass er die Wohnung nicht behalten würde. Aber das wird noch ein bisschen dauern.“
Konstantin ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Noch zehn Minuten bis zum Beginn des Fußballspieles. Annegret schaute einen Augenblick zu wie er durch die Sender zappte. Sie nahm ihr Glas, in dem sich noch ein Rest Bier befand, holte das rote Buch aus der Schublade und ging ins Gästezimmer. Etwas beklommen löste sie das Band, das Hannelore um das Buch gebunden hatte, damit die innen liegenden losen Seiten nicht herausfallen konnten. Sofort klaffte das Buch auseinander. Annegret nahm die Seiten von der Größe eines A4-Formates, jedoch auf Postkartengröße zusammengefaltet waren und legte sie auf den Tisch. Dann schlug sie die erste Seite auf.
Lea Marquardt stand dort. Nichts weiter. Annegret starrte auf den Namen. Vor Jahren, nachdem Hannelore bei ihrer Tante eingezogen war, erwähnte sie ihn hin und wieder. Das hing aber damit zusammen, dass die Tante die ehemalige Wohnung von Lea Marquardt bezogen hatte. Annegret blätterte zur nächsten Seite. In dicht gedrängten Zeilen, akkurat geschrieben, präsentierte sich ihr ein Text, der sie immer mehr in ihren Bann zog, der sie aufstöhnen ließ, ihr die Tränen in die Augen trieb.
November 1938
Ich werde Tagebuch schreiben. Auf keinen Fall täglich. Doch was mich bewegt, mich beschäftigt, mir Sorgen bereitet werde ich
festhalten. Und natürlich die schönen Momente, die besonders schönen Momente. Nur für mich. Oder doch für Benjamin? Ich weiß es nicht. Vielleicht wird er es eines Tages lesen, vielleicht auch nicht. Er ist noch klein, sehr klein. Sechs Monate. Wie wird sein Leben sein? Kann ich ihn immer beschützen?
Gestern war ein furchtbarer Tag. SA-Männer marschierten durch die Straßen. Sie trugen Schilder, auf denen stand:
DEUTSCHE!
Wehrt Euch!
Kauft nicht bei Juden.
Ich bin Deutsche und ich bin Jüdin. Ich habe Angst! In erster Linie um Benjamin. Die christlich-jüdische Mischehe, wie die Nazis
meine Ehe mit Hans bezeichnen, schützt meinen Sohn nicht. Er ist ein jüdischer Mischling.
In der Nacht zogen Horden grölend, brandschatzend, zerstörend durch die Straßen. Menschen, nicht irgendwelche Menschen, es waren Juden, die geschlagen, getreten, erschlagen wurden. Geschäfte wurden zerstört, Wohnungstüren eingetreten.
Hans versuchte mich zu beruhigen.
„Uns passiert das nicht“, sagte er.
„Meine Schneiderei hat einen guten Ruf. Meine Kunden kommen aus den besten Kreisen der Stadt. Schauspieler, Geschäftsleute, seit einiger Zeit hochrangige SA-Leute. Sie alle wollen eben gut angezogen sein.“
Ich hätte ihm gerne geglaubt. Doch die letzten Jahre zeigten mir ein anderes Bild. Hätte ich meinen Eltern folgen sollen bis dieser Wahnsinn hier vorbei ist? Sie verließen 1934 Deutschland, vier Wochen nachdem Hans und ich geheiratet hatten. Vater war stellvertretender Direktor eines großen Kaufhauses. Er wurde von heute auf morgen entlassen. Er beschwor mich, ihn und Mutter zu begleiten. Bei Onkel Eduard in England wären wir sicher, versuchte er mich zu überzeugen. Die Juden würden in Deutschland noch Schlimmeres erfahren als nur Entlassungen. Hans sollte auch mitkommen. Er würde in der Tuchmanufaktur von Onkel Eduard arbeiten können. Hans hatte den Gedanken weit von sich
geschoben. Er hatte gerade die Herrenschneiderei seines Vaters übernommen. Wir waren frisch verheiratet, wollten uns etwas aufbauen. ... und jetzt ... nähte er Anzüge für SA-Leute. Wie lange noch?
Januar 1939
Heute war Frau Knecht hier. Sie wohnt nicht weit entfernt. In der Defreggerstraße. Keine fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt. Ich habe sie beim Kaufmann kennengelernt. Sie suchte Arbeit. Möglichst in einem Haushalt. Sie würde auch gern Kinder betreuen hatte sie angedeutet. Ich kann Hilfe gebrauchen. Dann brauche ich Benjamin nicht mehr mitnehmen, wenn ich in die
Schneiderei fahre, um Hans im Büro zu helfen.
Viel hat sie nicht von sich erzählt. Früher hat sie in einem Anwaltsbüro gearbeitet. Ihr Chef hat Deutschland verlassen. Eine ähnliche Büroarbeit hat sie nicht gefunden ... und in einer Fabrik möchte sie nicht arbeiten. Sie ist noch jung, 34 Jahre alt, nur fünf Jahre älter als ich. Sie ist nett. Während unseres Gespräches fiel ihr Blick auf den Brief von meinen Eltern, der auf dem Tisch lag. Der Absender war auf dem Umschlag deutlich zu erkennen. Ich überlegte, ob ich eine Erklärung geben sollte. Warum nicht? Ich sagte ihr, dass meine Eltern in London leben ... und, dass ich Jüdin sei. Es schien sie nicht zu stören.
Die folgenden Seiten überflog Annegret. Sie beinhalteten Erinnerungen an Lea Marquardt´s Kindheit und ihre Besuche bei ihrem Onkel, der ein Cottage außerhalb von London bewohnte. Auslöser für diese Erinnerungen war wohl der Brief ihrer Eltern. Sie wünschte sich so sehr, dass Benjamins Kindheit ebenso unbeschwert verlaufen würde.
Die nächsten Einträge, die Annegrets Interesse weckten, waren auch vom März 1939.
März 1939
Deutschland ist in der Tschechoslowakei einmarschiert.
„Das ist erst der Anfang“, hat Frau Knecht
gesagt. Sie arbeitet jetzt fast drei Monate bei uns. Ich habe ihr erlaubt, den Wohnungsschlüssel mitzunehmen, Sie braucht ihn nicht mehr abends an das Schlüsselbrett zu hängen. Mit Benjamin geht sie sehr liebevoll um. Das beruhigt mich sehr. Seit gestern ist sie krank. Eine Bekannte von ihr hat sie entschuldigt. Ich habe sie heute mit Benjamin besucht, das heißt ich wollte ... sie war nicht zuhause. Wahrscheinlich war sie beim Arzt. Also muss ich morgen Benjamin wieder in die Schneiderei mitnehmen.
März 1939
Heute war ich in der Freiligrathstraße. Frau Knecht hat mich begleitet. Sie schob den Kinderwagen. Das tat sie gern. Hans hatte
mich gebeten, zu erkunden, ob es die kleine Schneiderei dort noch gibt. Telefonisch hatte er niemanden erreicht. Er brauchte Hilfe. Obwohl er einen dritten Näher eingestellt hatte und einen zweiten Bügler stundenweise beschäftigte - das Zuschneiden übernahm er nach wie vor selbst - schaffte er kaum die Aufträge termingemäß zu bearbeiten. Offiziere der Wehrmacht gehörten jetzt zu seinen Kunden. Sie wollten maßgeschneiderte Uniformen. Er war doch kein Uniformschneider. Maßanzüge konnte er anfertigen, aber Uniformen. Und sie machten Druck. Er solle froh sein, dass er die Aufträge bekäme. Er sei schließlich mit einer Jüdin verheiratet.
Die Schneiderei gibt es nicht mehr.
Auf dem Rückweg sind wir durch die Fontanepromenade gelaufen.
„Zentrale Dienststelle für Juden“ stand auf dem Schild an einem großen Gebäude. Davor standen viele Frauen. Auch die kleine Parkanlage war von Frauen, jedoch wenigen Männern, bevölkert.
„Du wirst dort nie hingehen müssen“, hatte Hans gesagt, als ich ihm davon erzählte.
„Du bist mit einem deutschblütigen Mann verheiratet und wir haben ein Kind.“
Warum kann ich ihm nicht glauben?
Annegret schlug das Buch zu. Es war fast Mitternacht. Konstantin hatte kurz zu ihr reingeschaut und ihr einen
Gutenachtkuss gegeben.
Morgen würde sie weiterlesen. Sie fröstelte, trotz der milden Juninacht.
© KaraList 09/2015