Ich betrachte das Urlaubsfoto in meiner Hand. Drei Menschen stehen im Meer und lächeln mir entgegen, einer davon mein jüngeres Ich, im schwarzen Badeanzug mit grünem Cappy. Du hast immer darauf bestanden, dass ich diese Werbemütze aufsetze- damit ich keinen Sonnenbrand bekomme. Wie oft haben wir darüber diskutiert. Bevor dieses Bild gemacht wurde, hatte ich die Debatte wohl wieder einmal verloren. Aber noch etwas ist auffällig. Du bist mit uns im Wasser.
Das hast du eigentlich eher selten gemacht. „Ach nein, das ist zu kalt.“, hast du oft gesagt.“Geh doch mit Omi schwimmen.“
Manchmal glaube ich, dass dir der Urlaub in den Bergen mehr Spaß gemacht hat, als am Meer. Aber ich war das geliebte Enkelkind. Das Erste. Und ein bisschen verwöhnt wurde ich deshalb schon. Darum durfte ich das Reiseziel wählen.
Ich lasse meinen Blick über die anderen Fotos schweifen. Auch im Allgäu waren wir oft. Was haben wir gelacht! Du hast dir im Auto meine sternförmige Mütze aufgesetzt und dabei laut Rosenstolz mit gesungen, als wir zum einkaufen gefahren sind. Da war ich acht. Und wenn ich etwas gefragt habe, wusstest du immer eine Antwort. Du konntest auch immer alle Kreuzworträtsel alleine
lösen. Nur die englischen Wörter, die sollte ich dir sagen. Dafür kanntest du jeden Pilz beim Namen- deutsch und lateinisch. Ich weiß noch, wie wir uns gemeinsam gefreut haben, als ich eine große Marone gefunden habe. Ich hätte die besten Augen, hast du immer gesagt. Eine Brille bräuchte ich gar nicht.
Einmal, das muss auch im Allgäu gewesen sein, sind wir abends spazieren gegangen. Es war schon dunkel und wie immer wollte ich nicht noch mal raus. Letzten Endes bin ich doch mitgegangen. Plötzlich hast du ein selbst erfundenes Lied gesungen und bist unter der Straßenlaterne entlang
getanzt. An das Lied kann ich mich nicht erinnern. Schade eigentlich. Aber den Lachanfall werde ich nie vergessen. Oma hatte Tränen in den Augen. „Opa, hör auf.“, höre ich mich noch kichern. „Wenn dich jemand sieht....“
Ich muss kurz überlegen. An was erinnert mich das? Eine weit entfernte Erinnerung bahnt sich den Weg in meine Gedanken...
„Opa, das ist doch peinlich! Hier sind Leute.“- „ Das macht doch nichts. Die kennen uns doch nicht. Du siehst die nie wieder.“
Ah, richtig. Wir standen auf einem belebten Platz, eine Sehenswürdigkeit.
Ich sollte mit dir um irgendeine Säule tanzen, weil der Platz „Tanzplatz“ hieß. Oder war es einfach eine Tanzsäule? Keine Ahnung.
Einen Walzer, vor allen Leuten. Dazu hatte ich absolut keine Lust. Während ich noch dabei war mich umzusehen, ob uns auch keiner beobachtet, hast du schonmal die Melodie gesummt und allein getanzt. Dich hat nie geschert, was andere von dir halten.
Ich hab mich so geschämt.
„Komm, nur einmal. So eine Gelegenheit kommt nicht wieder. Irgendwann geht’s nicht mehr.“ Das waren deine Worte.
Natürlich sind wir wieder heim gefahren,
ohne dass wir getanzt hatten.
Meine Gedanken ändern ihre Richtung abrupt. Ich denke an das letzte Mal, als wir uns gesehen haben. Vor 2, nein 3 Monaten. Heute gehst du nur noch langsam, immer mit Stock. Du lachst seltener- es ist ein anderes Lachen als damals.
Jetzt ist „irgendwann“ also gekommen. Das „Irgendwann“, dass für mich nie real war. Warum auch? Es war so weit weg, wir hatten noch so viel Zeit.
Was gäbe ich heute dafür, einmal mit dir zu tanzen?
„Wir haben uns so lange nicht gehört und gesehen!“, sagst du oft. „Melde ich doch mal!“
Langsam nehme ich mein Handy in die Hand und suche den Kontakt mit deiner Nummer. Irgendwie sehe ich verschwommen. Mein Herz pocht schmerzhaft. Ist das Angst?
Eiskalt umarmt mich das schlechte Gewissen. „Irgendwann geht’s nicht mehr.“, flüstert es in mein Ohr als ich auf die Taste mit dem grünen Hörer drücke.
Eine Geschichte über einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Einer dieser Menschen, für den mir keine Worte einfallen , um "Danke" zu sagen.
Ich weiß, dass du noch nicht gehen willst und ich will dich nicht gehen lassen. Bitte lass "irgendwann" diesmal genau so weit weg sein, wie es sich damals angefühlt hat.