Roter Samt
5. Kapitel
Er saß in dem von Sonne durchfluteten Büro und fuhr mit einer Hand über das glatte Holz des antiken Schreibtisches. Ein gediegen eingerichteter Raum. Für besondere Kunden. Doch er empfing selten Kunden hier. Er suchte sie auf. Bald würde er das Büro kündigen. Selbstverständlich auch die Wohnung. Er würde diese Stadt, dieses Land verlassen. Für immer. Wieder und wieder hatte es ihn hierher gezogen. Wie auch nach Kopenhagen. Obwohl die Aufenthalte einer Selbstgeißelung nahekamen, hatte er sich sogar Wohnungen in den Städten gemietet.
Seine geschäftlichen Verbindungen in diesen Städten waren ein guter Grund sie immer wieder aufzusuchen. Dabei hätte der persönliche Kontakt zu den Kunden auch von einem seiner Mitarbeiter gepflegt werden können. Wer künftig aus der Firma in Deutschland oder Dänemark wirksam werden würde, müsste mit einem Hotel vorlieb nehmen. Auch dort konnte man Kunden empfangen. Das hatte er auch früher getan. Zumindest hier in Berlin. Bis die Mauer fiel, die diese Stadt trennte. Dieses zweigeteilte Land hatte seine Geschäfte nicht beeinflusst.
Zuhause würde er zur Ruhe kommen. In seinem richtigen Zuhause. Ein harter Zug bildete sich um seinen Mund. Hatte er das jemals gehabt? Sein Leben bewegte sich
zwischen Internaten, später der Universität und den doch mitunter recht langen Besuchen bei seinen Großeltern.
Bei ihnen zuhause wurde nur deutsch gesprochen. Ihnen verdankte er seine deutschen Sprachkenntnisse. Sie waren die einzigen, von denen er Zuneigung bekam. Später erkannte er, dass es wohl eher Mitleid mit dem Jungen war, der sich so sehr von anderen seines Alters unterschied. Er war ein Außenseiter. Doch die Ursache kannten sie nicht. Da war er sich sicher. Sie waren lange tot. Er veränderte sich, wurde mit der Übernahme der Firma ein erfolgreicher Geschäftsmann, brillierte im Kreis vermeintlicher Freunde, heiratete, nahm den Namen seiner Frau an und hatte damit den
ersten Identitätswechsel vollzogen. Namensänderungen waren in seinem Land unproblematisch. Er hatte diesen Wechsel mit einer Eheschließung erwirkt. Der seriöseste Weg, wie er meinte. Nach einem Jahr ließ er sich scheiden. Den Namen behielt er. Nach und nach wurde sein Haar dunkler. Die ihn kannten schrieben diese Marotte seiner Eitelkeit zu. Sollten sie.
Mit dem Daumen fuhr er über das Relief der Gemme. Sie hatte diesen Anhänger oft getragen. Nach ihrem Tod, hatte er danach gesucht und ... nach dem Tagebuch. Er hatte beides nicht gefunden. Die Kette mit dem Anhänger hätte verloren gegangen sein können, das Tagebuch hatte sie wahrscheinlich selbst vernichtet.
Das dachte er. Bis vor kurzem.
Die Sache war aus dem Ruder gelaufen. Seine Fragen hatten Hannelore misstrauisch gemacht. Hannelore mit den roten Haaren. Die hatten sich nicht verändert. Sie bat ihn die Wohnung zu verlassen. Er wollte sie in den Sessel pressen, doch sie riss sich los. Er konnte sie sofort wieder greifen und schlug ihr ins Gesicht.
„Wo ist das Tagebuch?“, hatte er gezischt.
Sie wusste gar nicht, was er meinte, hatte ihn nur entsetzt angesehen. Ihre Reaktion machte ihn sicher, dass sie es nicht gelesen hatte.
„Das rote Tagebuch ... wo ist es?“
Er schlug sie wieder. Ihre Lippe platzte auf. Ein dünner Blutfaden lief ihr aus dem Mundwinkel.
„Weggeben“, krächzte sie.
„Wem?“
Er schüttelte sie.
„Annegret ...“
Wieder riss sie sich los. Sie stolperte und fiel auf den Messingtürstopper. Die spitzen Ohren der Katze bohrten sich in ihren Kopf. Sofort bildete sich eine Blutlache auf dem Teppich. Sie war tot. Er sah es sofort. Ich brauche sie nicht einmal mehr umbringen, dachte er zynisch. Das Kissen auf der Couch wäre geeignet gewesen. Dass er sie nicht hätte am Leben lassen können, war ihm von Anfang an bewusst. Sie hatte ihn gesehen. Er
hätte nicht gut mit einer Maske vor der Tür stehen können. Ein Blick durch den Spion und sie hätte niemals die Tür geöffnet. Lachhaft. Er hatte kurz überlegt, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. War das Tagebuch wirklich nicht in der Wohnung? Wie war es überhaupt hierhergekommen. Darüber zerbrach er sich schon seit gestern den Kopf. Hektisch hatte er in Schränken und Schubladen gesucht. Er musste sich beeilen. Wer weiß, wann die Töchter zurückkamen. Schon seit dem frühen Morgen hatte er aus dem Auto das Haus beobachtet. Erst als er sicher war, dass sie allein zuhause ist, hatte er das Haus betreten.
... und dann hatte er die Muschelgemme gefunden. Fassungslos hatte er darauf
gestarrt. Vorsichtig hatte er sie in die Hand genommen und die Wohnung verlassen.
Erneut strich er mit dem Daumen über das Schmuckstück. Wo war die Verbindung? Wie war Hannelore in seinen Besitz gekommen? Neue Fragen. Doch waren die Antworten von Bedeutung? Wichtig war nur, dass er das Tagebuch bekam. Er steckte die Kette in die Tasche seines Jacketts. Seitdem er sie hatte, trug er sie ständig bei sich. Er wusste, dass das gefährlich war. Doch er konnte nicht anders.
Er stand auf. In einer Stunde hatte er einen Termin mit einem Kunden. Der normale Tagesablauf musste beibehalten werden. Um das, was noch zu tun war, würde er sich später kümmern. Er wusste wo das Tagebuch
war. Bei Annegret, ihrer Freundin. Wo sie wohnte, wusste er auch.
Auf einem Friedhof wurden nun einmal Gräber besucht. Er hatte das auch getan. Er wusste nicht einmal ob er am Grab eines Mannes oder einer Frau gestanden hatte. Niemand hatte ihm Beachtung geschenkt. Er war Annegret und ihrem Mann zumindest nahm er an, dass es ihr Mann war mit dem Auto gefolgt. Sie waren erst in die Rethelstraße gefahren. Doch er war geduldig. Nach zwei Stunden kamen sie aus dem Haus. Wieder war er ihnen gefolgt. Inzwischen war er einige Male vor ihrem Haus gewesen. Das Grundstück konnte man problemlos von der Wasserseite betreten. Nachts. Er brauchte nur ein Boot. Dieses Mal
würde er es richtig machen, sorgfältiger vorbereiten.
© KaraList 09/2015