Roter Samt
4. Kapitel
Annegrets Hände waren schweißfeucht. Die Abdrücke ihrer Finger zeichneten sich auf dem Hörer ab, als sie ihn auf die Gabel legte. Es war ein vorsintflutliches Gerät. Sie starrte auf die Wählscheibe, nicht fähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Was hatte Lothar gesagt? Die Verbindung war abrupt abgebrochen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie bemerkte es nicht. Sie saß noch einige Zeit regungslos auf dem Stuhl. Dann wählte sie erneut Hannelores Nummer. Niemand hob ab. Sie rief Konstantin an und erzählte ihm
was eben passiert war.
Nach einem kurzen Schweigen sagte er:
„Du machst den Laden heute nicht mehr auf. Fahr´ nach Hause. Ich komme auch ... und fahr´ vorsichtig.“
Annegret stand auf und stellte automatisch den Stuhl ordentlich an den Tisch. Das Schild ´Heute geschlossen` stand neben dem Regal. Sie hatte es nur einmal gebraucht als sie im letzten Herbst diese schlimme Erkältung hatte.
Sie steuerte den Wagen durch die belebte Hauptstraße. Das erforderte ihre ganze Konzentration. In ihrem Kopf herrschte Gedankenchaos. Hannelore ist tot. Sie wurde umgebracht. Wie eine Leuchtreklame erschienen diese Worte vor ihren Augen.
Endlich hatte sie die Stadt verlassen und fuhr auf der weniger befahrenen Landstraße. Zehn Minuten später war sie zuhause.
Sofort versuchte sie erneut Lothar zu erreichen. Erfolglos. Niemand hob ab.
Konstantin brauchte länger für den Heimweg. Er kam aus Berlin.
Bevor er aufbrechen konnte, musste er noch einige Termine absagen. Er arbeitete in einem Architekturbüro.
Als er Annegret in die Arme nahm, begann sie sofort wieder zu weinen.
„Wir fahren jetzt zu Lothar“, sagte er.
„Was auch immer passiert ist, er wird unsere Hilfe brauchen.“
Anderthalb Stunden später waren sie in der Rethelstraße. Der Berufsverkehr kostete sie
Zeit ... und wie immer kein Parkplatz. Annegret hätte vor Ungeduld aus dem Auto springen können. Konstantin fuhr zweimal im Kreis. Dann hatten sie Glück. Ein Auto fuhr aus einem Parkstand. Den Weg zum Haus legten sie in zügigem Tempo zurück. Etwas außer Atem standen sie vor der Wohnungstür. Sie brauchten nicht klingeln. Die Wohnung war polizeilich versiegelt.
„Lothar und die Mädchen können nur bei seinem Bruder sein.
Ich habe keine Telefonnummer von ihm. Aber wir wissen ja, wo er wohnt. Wir fahren hin“, sagte Annegret.
Zwanzig Minuter später waren sie vor dem Haus, in dem Gerhard, Lothars Bruder, wohnte. Hier fanden sie sofort einen
Parkplatz. Gerhard öffnete die Tür. Wortlos bat er sie in die Wohnung. Margot, seine Frau, kam in den Flur. Sie hatte rotgeweinte Augen. Annegret wurde plötzlich schlecht. Sie bat Margot um ein Glas Wasser. Weitere Worte wurden nicht gewechselt. Konstantin und Gerhard waren schon ins Wohnzimmer gegangen. Kurze Zeit später folgten ihnen die Frauen.
Lothar saß im Sessel, Mia und Tabea saßen auf der Couch.
„Tante Annegret ...
Die beiden Mädchen umarmten Annegret weinend. Annegret löste sich sanft von ihnen und ging zu Lothar.
„Lothar ...
Lothar stand auf und umarmte sie kurz. Dann
setzte er sich wieder in den Sessel.
„Wir haben Mama gefunden“, sagte Mia.
„Wir kamen vom Reisebüro ...“, schluchzte sie.
„Wir haben den Gutschein für eine Reise, die wir Mama und Papa schenken wollten, abgeholt.“
„Ich habe gleich gesehen, dass Mama tot war ... das Blut auf dem Teppich“, sagte Tabea leise.
„... und die Wohnung war durchwühlt, Schubladen herausgezogen, Schranktüren standen offen, Mamas Tasche lag auf dem Boden.“
„Mia hat den Notarzt und die Polizei gerufen. Die waren auch schnell da. Ich habe Papa angerufen.“
Lothar sagte nichts.. Er starrte vor sich hin.
„Lothar“, versuchte Annegret erneut zu ihm durchzudringen.
Er stand auf und ging ans Fenster. Einen Moment schaute er hinaus. Dann drehte er sich zu den anderen um.
„Der Kommissar geht von einem Raubüberfall aus. Dabei gab es ein Handgemenge bei dem Hannelore starb“, sagte er mit monotoner Stimme.
„Genaues wird erst die gerichtsmedizinische Untersuchung ergeben“, setzte er hinzu.
„Er fragte, ob ich schon sagen könne, was aus der Wohnung fehlt. Natürlich konnte ich das nicht. Die Spurensicherung muss morgen noch einmal in die Wohnung. Danach
können wir auch wieder hinein.“
"Wie ist denn der Täter in die Wohnung gekommen?," fragte Annegret stockend. Das Wort Täter wollte ihr nicht über die Lippen gehen.
"Hannelore hat ihm wahrscheinlich die Tür geöffnet. Wie oft habe ich zu ihr gesagt, dass sie durch den Türspion gucken soll. Erst recht, wenn sie allein zuhause ist. Einbruchspuren konnte die Polizei nicht feststellen. Genaueres wird sie erst sagen können, wenn die Spurensicherung morgen ihre Arbeit beendet hat."
„Wo bleibt ihr heute Nacht?“, fragte Konstantin.
„Ihr könnt bei uns schlafen.“
„Sie bleiben hier“, sagte Margot.
„Wir haben das schon abgesprochen.“
Annegret versuchte die beiden Mädchen zu trösten. Dabei bedurfte sie selbst des Trostes.
Zwei Tage nach Hannelores Tod rief Lothar bei Annegret an. Es war noch früh. Sie war gerade dabei ihr Frühstücksgeschirr wegzuräumen. In zwanzig Minuten würde sie zum Laden fahren. Konstantin war schon lange weg.
Lothar erzählte ihr, dass er mit Tabea und Mia wieder in der Wohnung sei. Die Mädchen würden noch bis Sonntag bleiben. Dann mussten sie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Annegret hatte sich bewusst nicht bei ihm gemeldet. Er hatte genug, mit dem er sich
beschäftigen musste. Morgen wäre der Tag der Silberhochzeit gewesen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.
„Es gibt nichts Neues, Annegret. Die Polizei geht weiterhin von einem Raubüberfall aus. Sie ermitteln weiter. Das Ergebnis der Gerichtsmedizin liegt vor. Es ging schnell, da keine Zweifel bestehen. Hannelore starb durch einen Sturz. Ausgelöst durch körperliche Gewalteinwirkung.“
Seine Stimme kippte. Er schwieg. Annegret unterbrach das Schweigen nicht.
„Sie wird am Montag zur Beerdigung freigegeben.“
„Wenn du Hilfe brauchst, melde dich sofort, Lothar. Wir tun, was wir können“, erwiderte Annegret.
"... und es wurde tatsächlich nicht eingebrochen. Ach, und noch etwas ...“, sagte Lothar.
„Es wurde nichts gestohlen, noch nicht einmal Hannelores Portemonnaie wurde angerührt. Geldkarte, Ausweise, es ist alles da. Ihr Schmuck, sie hatte ja nicht viel - du weißt, sie war keine Schmuckträgerin - nichts fehlt.
"Nun ja, etwas fehlt doch. Die goldene Kette mit dem großen Anhänger. Die Muschelgemme. Aber deswegen bringt man doch keinen Menschen um.“
Seine Stimme wurde immer leiser bei den letzten Worten. Annegret verstand ihn kaum noch.
„Lothar sollen wir heute Abend
vorbeikommen?“, fragte Annegret.
„Nein, Annegret, das braucht ihr nicht. Aber wenn die Mädchen abgereist sind, wäre es schön, wenn wir uns sehen könnten.“
Annegret legte nachdenklich den Hörer in die Ladestation. Sie kannte die Kette von der Lothar gesprochen hatte. Ein schönes Schmuckstück. Das einzige, das Hannelore öfter trug. Ihre Tante schenkte sie ihr, als Hannelore ihr sagte, dass sie und Lothar heiraten würden. Auch ihr wurde die Kette einmal geschenkt, hatte sie Hannelore erzählt. Als Hannelore wissen wollte von wem sie sie bekommen habe, hatte die Tante nur abgewinkt und gesagt, dass das alte Geschichten wären.
Hannelores Beerdigung war drei Wochen später. Sie wurde eingeäschert. Mia und Tabea, besonders aber Lothar wollten eine stille Beisetzung. Er wollte nicht, dass ein Fremder mit stereotypen Worten an Hannelore erinnerte. Jeder sollte auf seine Weise ihrer gedenken. Er selbst und niemand, der ihm nahe stand, fühlte sich einer Trauerrede gewachsen. Er wünschte sich auch eine kleine Beerdigung. Doch es kamen mehr Leute als gedacht. Nachbarn, Chormitglieder und natürlich Klaus. Niemand achtete auf den Mann, der etwas entfernt, halb verdeckt von einer Thuja, an einem Grab stand. Er hatte Blumen in der Hand. Aufmerksam beobachtete er die Trauergesellschaft. Als sie aufbrach und sich
langsam zerstreute, legte er die Blumen auf das Grab vor dem er stand und folgte unauffällig einer kleinen Gruppe der Trauergäste.
© KaraList 08/2015