Der Parkplatz ist voll. Feierabendgebummel im Laden. Gestresste Menschen huschen zwischen die Einkaufsregale und erfüllen die Prophezeiungen ihrer zettelgestützen Pläne vom Vortag. Eine ältere Frau steht erwartungsvoll an der automatischen Brötchenausgabe und penetriert die abgenutzte Bestelltaste. „Das gewünschte Produkt ist heute leider nicht mehr verfügbar.“ Kontrolliertes Entsetzen in ihrem Gesicht. Wenn sie schreien könnte – sie würde es tun. Aber beherrscht greift sie nach dem Brot etwas weiter links und zieht weiter in die Tiefe des Ladens.
An der Gefriertruhe parkt ein Einkaufswagen
mit einem Jungen von vielleicht vier Jahren darin. Von den Eltern keine Spur. Der Alleingelassene vertreibt sich die Zeit, indem er die Gefriertruhe öffnet und mit dem Oberkörper tief hineintaucht. Nur sein linker Fuß hält ihn geschickt davon ab, gänzlich in der Truhe zu verschwinden. Und was wäre, wenn er rein plumpst und wenn ein vorbei eilender Mitarbeiter die offene Tür bemerken würde und sie pflichtbewusst zuschöbe, ohne den Jungen zu sehen? Sind die Truhen schalldicht? Würden die Eltern überhaupt merken, dass da einer fehlt im Einkaufswagen zwischen Pommes Packungen und Bierdosen?
Aber der Junge taucht wieder auf. Mit leisem Stolz hält er seine Beute in der Hand: 500 g
Hackfleisch, 30% reduziert. Da muss man einfach zuschlagen! Klatsch. Die Packung landet in dem Einkaufswagen vor ihm und wieder geht er auf die Reise nach unten, den Schnäppchen entgegen.
Ich gehe an die Frischetheke und suche mir etwas aus, womit ich meine Fertiggerichtmenüs etwas vitaminisieren könnte. Die Trauben sehen echt schäbig aus. Eigentlich sollten sie grün sein, aber ein braun vergoldeter Farbton verleiht ihnen den Eindruck von edler Faulheit. Ich weiß nicht, ob das vielleicht nicht sogar besser für den Geschmack ist. Aber so sehen nun mal keine Trauben aus, wie ich sie aus der Werbung kenne. So was kommt mir nicht in die Tüte. Ich bin doch nicht blöd. Neben mir
sucht eine Frau mittleren Alters Äpfel aus. Sie betastet die halbtransparente Folienverpackung ausgiebig und versucht jeden einzelnen Apfel auf seine Qualität zu prüfen. Dann reißt sie die Packung entnervt oben auf und fischt die faulen Exemplare raus. Kurzerhand werden sie durch die teureren Äpfel von nebenan ersetzt. Der Kunde ist König. Das ist die Philosophie jedes Geschäftes, und weil der Kunde sich dessen zweifelsohne bewusst ist, benimmt er sich auch so, ohne zu fragen. Wieso sollte man die schwer beschäftigten Mitarbeiter auch unnötig nerven? Auch eine neue Verpackung braucht die Dame nicht. Mit einem geschickten Griff in die Tasche zaubert sie einen Tacker hervor mit dem sie die
notwendigen kosmetischen Operationen am Produkt vornimmt, damit an der Kasse keine lästigen Fragen aufkommen.
Ich entscheide mich für eine Melone. Mein Opa hat früher immer beim Wassermelonenkauf das Objekt der Begierde abgeklopft, um die Qualität zu prüfen. Ich frage mich, ob das auch bei Melonen klappt – klopfe zwei an, merke aber keinen Unterschied. Vom Gefühl her gefällt mir die etwas hellere besser. Sie hat den Farbton der Trauben von vorhin, wirkt aber deutlich appetitlicher. Ich nehme sie mit.
Da ich nichts mehr brauche, schlendere ich weiter durch die Gänge und beobachte das geschäftige Treiben. Es liegt eine gewisse Romantik darin, sich dem eigentlichen Zweck
einer Einrichtung zu entziehen und den anderen dabei zuzusehen, wie sie sie ohne darüber nachzudenken nutzen. Manche merken gar nicht, was um sie herum passiert. Sie sehen nur das Regal, das Produkt und den Preis. Die Anderen erscheinen ihnen wie abstrakte Schatten und Hindernisse, denen sie ausweichen müssen. Ist der Schinken anderswo teurer? Oder war die Verpackung dort größer? Ich esse zu viel Fleisch. Das ist ungesund. Ich sollte weniger essen. Ich hol mir heute keinen Schinken. Mal sehen, was in der Vegetarierabteilung liegt.
Dass die Veggisachen doppelt so viel kosten und halb so gut schmecken … Wenigstens sind sie eine Erlösung fürs Gewissen. Man verzichtet und tut etwas Gutes. Ja, man rettet
ein bisschen die Welt. Mit nur ein paar Euro mehr in diesem Eldorado aus Sonder- und Gewissensangeboten. Es ist unglaublich, wie viel das Image ausmacht. Werbung. Verpackung. Es zählt kaum noch, was drin ist. Hauptsache man fühlt sich gut. Beim Kaufen. Beim Kauen. Beim Verdauen.
Ich merke wieder, dass ich in eine andere Welt abgetaucht war. Es muss auch reichlich komisch aussehen, wenn da jemand einfach steht und die Leute beobachtet. Also nehme ich noch ein Glas Würstchen (die für 1,59) und gehe zur Kasse.
Die Kassiererin ist jung. Höchstens 20. Vermutlich arbeitet sie noch nicht lange hier. Das Eintippen einer Sondernummer bereitet ihr sichtlich Mühe, was mit Entsetzen seitens
der wartenden Kundschaft honoriert wird. „Was denken sie sich dabei, so eine unfähige Tusse an die Kasse zu setzen?“ steht es vielen förmlich auf der Stirn geschrieben. Eine stark geschminkte Businesslady schnauft laut, um ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen. Erinnert mich an ein Pferd. Ich stelle mir ein geschminktes Pferd vor und muss grinsen. Sie bemerkt mein Lachen und schaut mich böse an. Es passt wohl nicht so recht hier rein, dass jemand lacht, hier, auf der Zielgeraden des Einkaufsmarathons.
Die Kassiererin tippt immer noch nervös rum und zieht ungeschickt Waren über den Scanner.
In ihr vereinigt sich wohl die ganze Banalität und Brutalität der Farce, in der wir leben. Wir
müssen Dinge tun, die wir nicht wollen, um Geld zu verdienen für ein Leben, dessen Sinn wir nicht kennen und folglich aus Mangel an Alternativen mit Geld ausstopfen, um uns davon abzulenken, dass wir Dinge tun müssen, die wir nicht tun wollen, um Geld zu verdienen für ein Leben, dessen Sinn wir nicht kenne …
Plötzlich – oder vielleicht auch lang gewollt – erkenne ich eine unendliche Sehnsucht in den Augen der Kassiererin. Sie wirkt so verloren, so auf sich allein gestellt und hilflos in der Pflicht ihrer Aufgaben, in der Erfüllung von falschen Erwartungen, die die Kunden an sie stellen, weil sie sich an sich selbst auch stellen. Sie sind auf Effizienz programmiert, auf Leistung gepolt und
können ihre Umwelt nur noch so wahrnehmen. Auf den Knopfdruck muss das Brötchen aus dem Fach fallen. Die Produkte müssen perfekt aussehen, wie auf dem Plakat, das am Computer animiert wurde. Die Melonen müssen süß, die Trauben reif, die Äpfel saftig sein. Und das möglichst billig, weil wir nicht genug verdienen, um uns was leisten zu können, weil wir dauernd auf der Hut sind, ob uns nicht jemand über den Tisch ziehen will. Argwohn, Verdacht, Überlebenskampf in einer Wohlstands-, in einer Leistungsgesellschaft.
„2,79, bitte.“
Ich wache wieder auf. Die Kassiererin schaut mich erwartungsvoll an. Ich bemerke wieder die tiefe Sehnsucht in ihren Augen. Aber sie
ist nicht mehr so deutlich zu sehen. Sie hat sich wieder gefangen. Vielleicht war da auch nie eine Sehnsucht zu sehen, vielleicht habe ich nur meinen eigenen Weltschmerz in ihr wie in einem Spiegel sehen wollen? Vielleicht ist all das, was ich in den anderen gesehen habe nur eine Abbildung meiner Selbst? Was soll es auch anderes sein? Ich gehöre dazu, bin ein Teil dieses Wahnsinns, der gerade dieser Wahnsinn ist, weil ich ihn als Wahnsinn sehe.