Mit einem brummenden Schädel kam Orlando allmählich zu Gesinnung. Irgendwo zwischen Wachzustand und Ohnmacht kamen die Bilder vor seinem inneren Auge hoch. Das letzte, woran er sich erinnerte, war der Sturz in der Arena, bevor er in die Taverne getragen wurde. Danach kam eine dunkle Leere in seinem Gedächtnis. Aber wer waren die beiden Frauen, die sich an ihn schmiegten? Das Öffnen der Augen war ein Kraftakt, das seines gleichen suchte. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand bündelweise Sand in seine Augen gekippt. Nachdem er sich dieses
ekelhafte Gefühl ausgerieben hatte, blickte er zu den nackten Schönheiten, die seine Brust als Kissen zweckentfremdet hatten. Da ist also doch was gelaufen. Oder nicht? Ich sollte aufhören so viel zu saufen. Orlando legte seine Hände um die schlafenden Schönheiten und gab jeder einen Kuss auf die Stirn. Er kannte die beiden. Sie waren Prostituierte im Hafenbordell von Kap Ardea. Wie hatte er in seinem Zustand eigentlich in die Stadt geschafft? Und vor allem, wie hatte er den Akt in seinem Suff durchziehen können? Es erfreute ihn dennoch das geschafft zu haben. Weniger erfreulich war die
Erinnerungslücke für diesen Zeitraum. Dafür genoss er das Gefühl ihrer weichen Leiber zu spüren. Genüsslich zog er ihre Düfte die Nase hoch. Ein leises, kaum hörbares Geräusch drang in sein Ohr. Vermutlich eine Dirne, die ihren Kunden in ein Zimmer brachte. Er lies es bei dem Gedanken, als er sich wieder in den Dämmerzustand fallen lies. Das kalte Stahl eines Dolches an seinem Hals lies ihn wieder wach werden. Die beiden Frauen kreischten vor Entsetzten und ergriffen eilig die Flucht. Beinahe drang die Klinge in seine Kehle. »Das wirst du mir büssen«, vernahm er die wütende Stimme eines
Mannes. Orlandos müde Augen musterten den langhaarigen Mann mit dem Ziegenbart. Hatte dieser nicht in der Arena bestanden gegen ihn zu kämpfen und dann haushoch verloren? »Mach dich nicht unglücklich«, sagte Orlando ruhig und mit heisser Stimme. Scipio holte mit seiner Dolchhand aus. Orlandos flinke Reaktion, trotz des durch Alkohol benebeltem Verstand, folgte sogleich. Der eiserne Griff des Schädelpsalters drückte fest die Kehle des Angreifers zu, bis er röchelnd die Waffe fallen lies. Aus dieser Position konnte Orlando keine vernünftige Aktion durchführen, weshalb er ihn
wegstiess. Donnernd krachte Scipio gegen die Wand. Orlando sprang auf und fand noch die Zeit seine Hose überzustreifen. Flachatmend und mit einem feurigen Blick sprang Scipio auf ihn. Torkelnd wich Orlando aus, lies ihn gegen die Wand hinter ihm krachen und zog seinen Gegner am Haarschopf hoch. Zu spät erkannte er den Dolch in dessen Händen. Die Klinge schwingend konnte sich Scipio aus dem Griff befreien. Beinahe hätte die Klinge den Weg in die Lende gefunden, wäre Orlando nicht im letzten Moment weggesprungen. Seine Fäuste hob der Schädelpsalter schützend vors Gesicht. Der Restalkohol in seinem Verstand drohte ihn wieder in die
Bewusstlosigkeit zu reissen. Taumeln versuchte er sich bei einem halbwegs klarem Verstand zu bleiben um den nächsten Angriff seines Gegners vorhersagen zu können. Er wollte nicht solange warten um zu parieren. Er musste ihn mit einem richtig platzierten Schlag ausser Gefecht setzten. Der darauffolgende Tritt in den Bauch stoppte Scipio bei seinem Angriff und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Orlandos Magen fing an zu rebellieren. Er holte tief Luft, um den Inhalt nicht durch seinen Mund hinauszukatapultieren. Das musste vorerst warten. Um seinen Gegner so schnell wie möglich loszuwerden, packte
Orlando ihn am Hals und schleuderte ihn gegen die Tür. Laut polternd schrie Scipio vor Schmerzen auf. Orlando gab ihm keine Zeit um nach Luft zu ringen. Mit all seinem Gewicht rammte er seine Schulter in die Brust seines Gegners. Durch die Wucht des Aufpralls brachen die beide Männer durch die Holztür. Die Brüstung des Innenbalkons bestand ebenfalls aus Holz, weshalb sie den beiden, schnell ankommenden Männern nicht standhalten konnte. Sie fielen zwei Stockwerke tief und zerbrachen dabei die Stühle und Tische des Bordells. Brechende Knochen und zermalmende Innereien waren nicht zu überhören. Die meisten trug Scipio davon. Der
unerträgliche Schmerz nahm ihm das Bewusstsein. Dies hinderte Orlando nicht im geringsten daran wie ein Berserker auf ihn einzuschlagen, bis sein Kopf zu drehen begann und der Mageninhalt sich nicht mehr bändigen liess. Ein unappetitlicher Strahl aus Alkohol und Essensresten regnete auf den komatösen Scipio. »Aufstehen!«, schrie eine befehlsgewohnte Stimme ihn an. »Und keine Bewegung!« Mit trüben Augen, aber inzwischen klarem Verstand, blickte Orlando zu einem Mann in einem Waffenrock der Miliz mit mehreren Orden an der Brust. Er erkannte ihn wieder. Doch sein Name
wollte ihm nicht einfallen. Um ihn herum standen ein duzend weitere Milizionäre des niederen Ränge, die ihre geladene Armbrüste auf ihn richteten. Orlando war ein leidenschaftlicher Kämpfer und ein wahnsinniger Schlächter, denn kaum einer bezwingen konnte. Aber zwölf Bolzen, die zeitgleich aus verschiedenen Richtungen und aus nächster Nähe auf ihn gezielt wurden, konnte selbst er nicht überleben. Es recht nicht in seinem momentanen Zustand. Kapitulierend hob er die Hände in die Luft und lies sich Handschellen anlegen. »Du wirst verhaftet, wegen Ruhestörung und Sachbeschädigung«, sagte der
kommandierende Milizionär in einem ruhigen, aber dennoch auffordernd Ton. »Hätte dieser Mistkerl mich nicht im Schlaf erdolchen wollen, wäre das nicht passiert«, verteidigte sich Orlando. »Welcher Kerl?« »Na der hier?«, deutete Orlando mit einem Nicken auf die vor ihm liegende Kleidung. Erst nach und nach begriff er, dass niemand in der Kleidung steckte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den Bündel. »Gerade noch war er hier. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist.« »Es ist allgemein bekannt, dass dir nichts und niemand heilig ist«, entgegnete der Milizionär und gab zwei
von seinen Anhängern das Zeichen, ihn abzuführen. Licht. Weiches, einladendes Licht war es, das Scipio umhüllte. Er wusste nicht, wo er war, geschweige, wie er her kommen konnte. Aber es fühlte sich zu gut an, um sich über so was Gedanken zu machen. Es war beinahe so, als ob es egal wäre, was er zuvor in seinem Leben war. In der sorgenauflösenden Decke aus Licht fühlte er sich glücklicher, als in seinem Leben zuvor. Von einem Moment in den anderen änderte sich alles. Aus dem Glücksgefühl wurde ein erbarmungsloser Schmerz, das jede Faser seines Sein erfüllte. Scipio schrie
so laut er konnte. Doch kein Ton kam heraus. Jede Sekunde fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Was zum Teufel geschah mit ihm? War er nun in der Hölle gelandet? So schnell die Schmerzen auch kamen, so schnell hörten sie auf. Es dauerte eine Weile, bis seine Sinne wieder ihre Funktionen aufnahmen. Unter sich spürte er eine harte, unebene Fläche. Stein vielleicht? Hier und da flackerte ein schwacher Lichtkegel auf und unterbrach somit die pure Finsternis. Seine Augen sahen noch verschwommen. Aber er konnte die Silhouette vor sich sehen, die auf ihn zu
steuerte. »Willkommen in deiner persönlichen Hölle, Scipio«, sagte die tiefe Stimme des Mannes, den er von seinem Steckbrief kannte. Instinktiv griff er nach seiner Waffe. Seine Hand ging ins Leere. Panisch suchte er nach seinem Schwert. Vergebens. Es war nicht mehr da. Genauso wie seine Kleidung, wie er erschrocken feststellen musste. Sagat verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, bevor er ihn auf die Schulter packte und ihn forttrug. Benommen nahm Scipio wahr, wie er in einem Raum gebracht und auf eine Pritsche gelegt wurde.
»Was denkst du dir eigentlich dabei?«, fuhr Sagat ihn böse an. »Dein Job war es das Drachenauge auszukundschaften. Aber was machst du stattdessen? Du lässt dich von einem gnadenlosen Schlächter in der Arena demütigen und vergeudest deine Zeit mit einem zwecklosen Versuch dich an ihm zu rächen. Bist du ein verdammter Schwachkopf?« »Wer bist du?«, krächzte Scipio, der sich noch von Sagat's Schlag erholte. »Wer ich bin, ist nicht von belang. Wichtig ist nur, dass Meister Lucor dir die Illusion gegeben hat, mich zu jagen, damit du dich von den Gardisten
rekrutieren lässt. Und das sollte den Zeck haben, dass du dich in der verdammten Festung umsiehst. Hattest du denn nicht das Verlangen danach?« Es dauerte eine Weile, bis Scipio denn Sinn der Worte verstand. Und noch eine weitere Weile, um über die Antwort nachzudenken. Das Verlangen hatte er tatsächlich gehabt. Aber er hatte sich von dem Schädelpsalter hinreissen lassen in der Arena zu kämpfen, was sich im Nachhinein als ein Fehler entpuppte. »Wonach hätte ich suchen sollen?«, fragte Scipio wie in Trance. »Nach einem Weg in die Katakomben«, antwortete Sagat. »Und du wirst solange
in der Zelle bleiben, bis der Meister wieder zurück ist um zu entscheiden, wie es mit dir weiter geht.«
Ohne ein weiteren Wort zu verlieren, ging Sagat aus der Zelle und verriegelte diese.