Die nächsten Minuten flossen träge dahin. Ich konnte mich kaum auf die Tänzer und ihre Darbietungen konzentrieren. Die flippige Florence Cole bildete zusammen mit Orlando Melbourne, der das genaue Gegenteil zu ihr war, den Abschluss. Auch sie hatten sich Inspiration aus einem Film beziehungsweise einem Buch geholt. Florence war wirklich bezaubernd in ihrer Rolle als Dornröschen und als Orlando ihr den rettenden Kuss gab, war es um jeden in diesem Saal geschehen. Taschentücher wurden hervorgekramt, um Wimperntusche-Unfälle zu
vermeiden. Auch mir standen Tränen in den Augen, was mir neckische Blicke von Toby einbrachte. Als der Applaus endlich verstummte, erhob sich Ms Hillard und drehte sich zu uns um. „Vielen Dank für Ihre Vorführung. Wir bitten Sie nun, den Saal zu verlassen, damit wir uns beraten können.“ Ich erhob mich aus meinem bequemen Sessel und folgte den anderen nach draußen. In dem breiten Gang lehnten sich einige gegen die steinerne Wand, andere setzten sich auf die niedrigen Fensterbänke, hockten sich, wie ich und Toby, auf den Boden und streckten die Beine aus, oder blieben einfach stehen.
In jedes Gesicht, in das ich blickte, sah ich die gleiche Nervosität, die auch von meinem Körper Besitz ergriffen hatte. Doch eine kleine Gruppe von insgesamt fünf Frauen hob sich in ihrem Verhalten von uns anderen ab. Sie wirkten nicht aufgeregt und unruhig. Gelassen standen sie ein wenig Abseits und unterhielten sich in einer Lautstärke, die unmissverständlich klar machte, dass sie wollten, dass wir sie hörten. „Einige müssen sich eben besonders in den Vordergrund spielen“, höhnte gerade eine hübsche Blondine mit goldbraunen Augen. Cicely Warren, schoss es mir durch den Kopf. Die anderen nickten. „Also ich habe es nicht nötig, meine
berühmte Mutter vorzuschicken“, fügte eine der Blondinen hinzu, die ich als Helena Sinclair in Erinnerung hatte. Wut stieg in mir auf. Reden die etwa über mich!? Als ob ich gewollt hätte, dass Mr Kendrix mich auf meine tote Mum anspricht! Aber es schien immer und überall diese fiesen Mädchen zu geben, die sich einen Spaß daraus machten, auf anderen herum zu hacken. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht an der RDA angenommen wurden. Doch vermutlich hoffte ich in diesem Fall vergeblich. Ich überkreuzte meine Füße und lehnte mich an die kühle Wand. Es war nicht mein Stil, mich auf ein solches Niveau zu begeben, also blendete ich die Fünf
einfach aus und gab mich meinen eigenen Gedanken hin. Eine viertel Stunde später öffnete sich die große Flügeltür und Carrie Hillard steckte ihren Kopf hinaus in den Gang. Sie machte eine Handbewegung, die uns bedeutete, ihr zu folgen. Ihre Absätze klackerten über den Boden. Das Geräusch hallte von den hohen Wänden wider. Ihr braunes schulterlanges Haar wehte hinter ihr her und verströmte einen leichten Duft nach Flieder. Wir setzten uns wieder in die weichen Sessel und blickten gebannt auf die Bühne, auf der nun Mr Kendrix zusammen mit Ms Stewart stand. Ms Hillard stieg nun ebenfalls die Stufen
hinauf und positionierte sich auf Mr Kendrix´ freier Seite. Sie nahm das Klemmbrett entgegen, das er ihr reichte und sah in die Runde. Das Licht im Saal war eingeschaltet worden, aber leicht gedimmt. Ms Stewart warf einen kurzen Blick auf ihr Brett, dann sagte sie: „Nach reichlicher Überlegung haben wir uns entschieden, dass wir uns von sechzehn Bewerbern verabschieden werden.“ Um mich herum hörte ich erschrockenes Aufkeuchen. Sie reduzierten die Anzahl auf gerade einmal vierundzwanzig! Melanie ließ sich von der Unruhe nicht beeindrucken und fuhr fort als wäre nichts gewesen: „Diejenigen von Ihnen,
die für die Dauer der Aufnahmeprüfungen eines der Wohnheimzimmer bezogen haben, bitten wir, dieses so zu verlassen, wie Sie es bei Ihrer Ankunft vorgefunden haben. Ihren Schlüssel geben Sie bitte im Verwaltungsgebäude A ab. Wir verlesen nun die Liste derjenigen, die uns heute mit Ihrem Auftritt überzeugen konnten. Die dessen Namen wir nicht nennen, bitten wir, den Saal zu verlassen. Alle anderen bleiben hier, damit wir Ihnen die weitere Vorgehensweise erläutern können.“ Nun hob auch Ms Hillard ihr Klemmbrett und verlas laut und deutlich die Namen: „Grace Iola Aldridge. John Bosville.
Lewis Candel. Florence Cole. Juliana Crosthwaite.“ Schweiß bildete sich auf meinen Handinnenflächen. Ich wischte sie schnell an meiner kurzen Hose ab, doch das brachte überhaupt nichts. Ich war so aufgeregt! „Garrett Curtis. Portia Dalton. Ariana Dane. Avis Dane. Linus Carter Danford“, sagte Ms Stewart. Es waren bereits jetzt schon zehn Plätze vergeben! Was, wenn ich versagt habe!? Da fuhr Ms Hillard auch schon fort: „Carson Arden Davis. Laura Juliet Downing. Arthur Filbee. Toby Flynt. Duncan Jace Green.“ Meine Anspannung verwandelte sich für einen Moment in pure Freude. Sofort schlang ich meine Arme um Tobys Hals
und drückte ihn fest an mich. Er hatte es geschafft! Selbst wenn mein Name nun nicht mehr aufgerufen wurde, hatte ich wenigstens einen Grund, um mich zu freuen! Toby erwiderte meine stürmische Umarmung und strahlte mich über das ganze Gesicht weg an. „Herzlichen Glückwunsch!“, hauchte ich tonlos und schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln. Seine Augen weiteten sich. Sein Grinsen wurde immer breiter als er flüsterte: „Dir auch Glückwunsch!“ Ich verstand nicht was er meinte. Mein Name wurde doch gar nicht aufgerufen? Ein rascher Blick zurück auf die Bühne sagte mir, dass ich soeben einen überaus
wichtigen Moment verpasst hatte. Mist! Kylan Kendrix hielt nun eines der Klemmbretter in der Hand und sah mich direkt an. Seine kalten Augen musterten mich, doch ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, das jedoch sofort wieder verschwand als er die nächsten Namen vorlas: „Mulan Yana Madigan. Orlando Owen Melbourne. Elizabeth Julia O´Hare. Tristan Powell.” Auch während er die anderen vier Namen nannte, sah er ununterbrochen mich an. Er reichte das Klemmbrett an Melanie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Gesicht zeigte nun wieder die alt bekannte steinerne Maske. Ich hörte kaum noch zu als Ms Stewart
verkündete: „Helena Amie Sinclair. Penelope Symon. Cora Talwin. Und zu guter Letzt, Cicely Amber Warren.“ Begeistertes Flüstern aber auch trauriges Wimmern und Schluchzen drang aus den Reihen und erfüllten die Luft. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass Mr Kendrix wirklich meinen Namen genannte hatte. Vermutlich lag es daran, dass ich es nicht mit meinen eigenen Ohren gehört hatte, aber das sollte eigentlich keine Rolle spielen. Ich hatte es in die nächste Runde geschafft. Nur das zählte! Ich war schlichtweg überwältigt von meinen Gefühlen. Das Herz pochte mir bis zum Hals, meine Wangen glühten,
meine Hände zitterten. Zwar war ich noch gar nicht an der RDA angenommen, aber ich gehörte nun immerhin zu den besten vierundzwanzig und das obwohl sich hunderte um einen Platz beworben hatten. Das war doch was! Gebannt wie es weiter gehen würde, starrte ich auf die Bühne, doch die drei darauf standen einfach nur stumm da und warteten. Die Reihen leeren sich als die Kandidaten, die es nicht geschafft hatten, den Saal verließen. Wimperntusche lief an so mancher Wange herab. Wut, Enttäuschung und Traurigkeit spiegelten sich auf den Gesichtern wider. Eine zierliche junge Frau mit kurzer
platinblonder Lockenmähne fragte mit zittriger Stimme an Mr Kendrix gewandt: „Was habe ich falsch gemacht? Ich bin eine gute Tänzerin; ich habe es verdient hier zu sein!“ Ms Hillard räusperte sich und antwortete: „Ms Baker, es steht außer Frage, dass Sie Talent haben, sonst hätten Sie es unmöglich bis hier her geschafft. Aber leider hat es bei Ihnen und“, ihr Blick wanderte über alle anderen die im Gang standen „auch bei den anderen nicht für die ´Royal Dance Academy´ gereicht. Sie und auch die anderen können in den nächsten Tagen gern einen Termin bei mir oder Ms Stewart machen, um zu erfahren, warum wir uns gegen Sie entschieden haben.
Nun möchte ich Sie jedoch bitten, uns zu verlassen.“ Nachdem alle gegangen waren, legte sich wieder Stille über uns. Mein Atem ging schnell und unregelmäßig. Ein Blick neben mich verriet mir, dass auch Toby aufgeregt war. Unruhig rutschte er in seinem Sessel hin und her und knetete seine Hände im Schoß. Ich legte meine rechte Hand über seine, um ihm zu zeigen, dass ich mit ihm fühlte. Schon beruhigte er sich ein wenig. Dankbar lächelte er mich an. Was würde wohl als nächstes kommen? Wieder hörte ich, wie sich Ms Hillard räusperte. „Ich möchte nicht um den heißen Brei herum reden. Sie müssen
sich auf die nächste und letzte Runde vorbereiten und Mr Kendrix muss zu den Balletttänzern.“ Ein verhaltenes Lachen ging durch die Reihen. „In drei Tagen wird etwa die Hälfte von Ihnen den Traum an dieser Akademie unterrichtet zu werden, begraben müssen. Alle anderen werden in nur drei Wochen die Ausbildung an der RDA beginnen. Die Namen derjenigen, die zu den Auserwählten zählen, werden zwei Tage nach ihrem Vortanzen bekannt gegeben. Wir senden Ihnen eine entsprechende E-Mail zu.“ „Wir haben nun gesehen, wie Sie in einer Gruppe und auch zusammen mit einem ausgewählten Partner agieren. Nun
möchten wir wissen, wie Sie sich allein auf einer Bühne schlagen. Wählen Sie Stil, Musik und Outfit selbst aus. Beeindrucken Sie uns und beweisen Sie, warum wir ausgerechnet Sie bei uns aufnehmen sollen“, schloss Ms Stewart die Ausführungen ihrer Kollegin. Zu Hause angekommen, verzog ich mich sofort unters Dach und ging einige Tanzschritte durch. Ich wollte etwas atemberaubendes kreieren, etwas das zeigte, was in mir steckte. Und das in nur drei Tagen! Mein Kopf war wie leer gefegt, mir fiel einfach nichts ein, das einem Auftritt an der RDA gerecht werden könnte. Ob Toby wohl schon eine Idee hatte? Sollte ich es so machen, wie
er bei der letzten Runde? Ein Blick zum DVD-Regal sagte mir, dass ich hier nicht fündig werden würde. Also schlüpfte ich in ein gelbes Sommerkleid und Flip Flops und verließ das Haus. Cumnor war mit seinen knapp über fünftausend Einwohnern nicht gerade groß, dennoch mochte ich es sehr, die Straßen dieser kleinen Stadt entlang zu schlendern; vorbei am Postamt, dem kleinen Gemüseladen, der Tobys Mum gehörte, dem Zeitschriftenladen und dem Friseur, in dem immer etwas los war. Der Laden war stets gefüllt mit den älteren Einwohnern Cumnors, die hier den neusten Klatsch und Tratsch austauschten und sich über die heutige
Jugend beschwerten. Ich kam auch an einer der drei Kirchen vorbei – warum brauchte eine so winzige Stadt drei Kirchen!? Doch mein Weg führte mich zum Hurstcote Park, einen von Hecken gesäumten Weg, auf dem Pärchen Händchen haltend Spaziergänge machten, Kinderwägen hindurch geschoben oder Hunde ausgeführt wurden. Die Sonne schien und warf lange Schatten. Auf einer Bank sitzend, beobachtete ich die dunklen Figuren eine Weile, bis mir einer besonders ins Auge fiel. Er bewegte sich nicht wie die anderen an mir vorbei, sondern verharrte regungslos nur wenige Meter weit entfernt von mir. Seine Haltung kam mir
vage bekannt vor. Langsam hob ich meinen Blick und betrachtete den Mann, den dieser Schatten gehörte, genauer. Er hatte dunkelbraunes, beinahe schwarzes Haar. Es war kurz geschnitten, aber lang genug, das er ihm unordentlich vom Kopf abstehen konnte. Sein ebenmäßiges Gesicht verlief zu einem breiten Kinn, auf seinen Wangen deutete sich ein leichter Bart an. Seine Lippen waren voll und perfekt geschwungen und seine Augen leuchteten in einem wunderschönen Grün, das in der Sonne gelblich schimmerte und so an saftige Sommerwiesen erinnerte. Sein Körper war schlank aber muskulös, breite Schultern, die in starke durchtrainierte
Oberarme übergingen. Der schwarze Stoff spannte über seiner Brust, wodurch man seine Muskeln nur zu deutlich erahnen konnte. Die oberen Knöpfe seines Hemdes standen offen. Die dunkle Jeans saß eng an seinem Körper. Er musste sicher ganz schön schwitzen bei dieser Wärme! Der Sommer war dieses Jahr überdurchschnittlich heiß und sonnig. Dennoch lehnte er gelassen an einem Elektrohäuschen, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Blick gesenkt. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, dennoch kam er mir vertraut vor. Er hob seinen Blick und sah mich nun direkt mit schief gelegtem Kopf an. Ich atmete einmal
erschrocken tief ein und verschluckte mich dabei. Er hatte mich dabei ertappt, wie ich ihn regelrecht anstarrte. Aber es schien ihn nicht zu stören. Im Gegenteil, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, amüsierte es ihn. Er hob eine Augenbraue und verzog seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen. Dabei bildete sich ein kleines Grübchen auf der rechten Seite. Seine Augen funkelten und musterten mich nun von oben bis unten. Es war mir unangenehm so von ihm angesehen zu werden. Sofort spürte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und es leuchten ließ, wie einen Feuermelder. Ich schluckte einmal schwer gegen den Kloß in meinem Hals an und ballte die
Hände zu Fäusten. Diese ganze Situation war doch einfach nur verrückt! Also erhob ich mich mit zittrigen Knien von der Bank und drehte ihm den Rücken zu. Ich spürte seinen brennenden Blick auf mir, sodass ich meinen Gang beschleunigte und schnell um die nächste Hecke abbog. Schwer atmend, weil ich den ganzen Weg bis nach Hause gerannt war, lehnte ich mich gegen die Tür im Badezimmer. Nie zuvor hatte ich eine solch eigenartige Begegnung gehabt und noch nie hatte ich so auf jemanden reagiert. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und atmete einmal tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Ich durfte
mich von solchen Dingen nicht aus der Bahn werfen lassen. Ich musste mich auf meine Aufgabe konzentrieren. Schließlich wollte ich um jeden Preis an der RDA angenommen werden und dafür musste ich einen grandiosen Auftritt hinlegen. Die Schatten, die ich im Park beobachtet hatte, hatten mich auf eine Idee gebracht, über deren Umsetzung ich mir jedoch noch den Kopf zerbrechen musste. Gedanklich entwarf ich bereits einige Schrittfolgen während ich in dem großen Kostümfundus der `Royal Dance Academy´ nach etwas passendem zum Anziehen suchte. Es war der pure Wahnsinn, was sich hier so alles
versteckte und darauf wartete, getragen zu werden. Es gab wunderschöne elegante Kleider mit schlitzen an den Seiten, um die beim Tanzen benötigte Beinfreiheit zu gewährleisten, kurze beinahe durchsichtige Fummel, die glitzerten und mich schon beim bloßen Hinsehen erröten ließen. Ich sah kurze Hosen und hinreißende Oberteile mit tiefem Ausschnitt und Kleider, die in grellen Farben leuchteten, übersät mit Pailletten, Stickereien, Federn oder bunten Fransen. An einer Wand reihten sich unendlich viele Schuhe aneinander. An einer anderen hingen Masken wie die, die beim brasilianischen Karneval getragen
wurden, Hüte, Mützen und andere exotische und glamouröse Kopfbedeckungen. Vitrinen, in denen wunderschöner Schmuck in edlen Schatullen aufbewahrt wurde, standen zwischen den vielen Kleiderstangen. Ich hätte hier Tage verbringen können, aber die Zeit lief mir davon, also entschied ich mich für fünf Outfits, die ich anprobieren wollte und verschwand damit in eine kleine Nische, die mit einem Vorhang abgetrennt worden war. Nachdem ich alles einmal angehabt hatte, entschied ich mich für ein feuerrotes Kleid, das eng an meiner Brust lag und meine schlanke Figur betonte, abwärts der Taille ging es in einen luftig leichten
Rock über, der bei jedem Meiner Schritte wie sanfte Flügel, um meinen Körper schwebte. In einer der Glasvitrinen fand ich ein paar passende Ohrringe in der gleichen Farbe des Kleides, sowie einen dicken Armreif. Ich ging zu dem Tisch, hinter dem ein älterer dunkelhäutiger Mann mit einer Art Baskenmütze auf dem Kopf saß und grimmig vor sich hin starrte. Er sorgte dafür, das nichts diesen Raum verließ ohne vorher gründlichst dokumentiert zu werden und das nichts beschädigt oder gar Essen und Trinken mit herein geschmuggelt wurde. Auf dem einfachen weißen Namensschild, das neben einem Computer stand, entnahm
ich den Namen Mr Kenter. Ich räusperte mich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und breitete meine Errungenschaften vor ihm aus. Er schob mir ein Blatt über den Tresen und sagte mit gelangweilter tiefer Stimme: „Füllen Sie dieses Formular aus und unterschreiben Sie.“ Als ich meine Daten fertig eingetragen hatte, entriss er mir auch schon das Dokument und tippte etwas in seinen Computer ein. Dann erkundigte er sich noch, wie lange ich die Stücke ausleihen wollte und belehrte mich, sie gut zu pflegen und in ihrem jetzigen Zustand wieder mitzubringen. Er steckte das Kleid in eine durchsichtige Plastikfolie, legte Ohrringe und Armreif
in eine schwarze Schmuckschachtel und verstaute anschließend alles in einer weiteren Tüte, die er mir reichte. Dieser Typ war mir irgendwie unheimlich! Ich drehte mich um und lief direkt in ein rothaariges Mädchen hinein, das hinter mir stand. Ich entschuldigte mich, aber sie winkte nur ab und rückte ihre schwarze Brille zurecht. „Schon okay, ist ja nichts passiert.“ Sie lächelte mich an und legte nun ebenfalls ein paar Kleider auf den Tisch. Sie hatte sich für ein kurzes Kleid, das rot schwarz kariert war, entschieden, außerdem eine Mütze mit dem gleichen Muster. „Ich dachte, ich baue etwas meiner Herkunft in meinen Auftritt mit
ein“, sagte sie schulterzuckend und deutete auf ihre Haare. „Ich komme aus Schottland, falls du das nicht bereits selbst erraten hast.“ Nachdem auch sie ihre Leihgabe von Mr Kenter erhalten hatte, verließen wir zusammen den Raum. Vor der Tür wartete bereits eine junge Frau mit warmen braunen Augen. Sie lehnte an der Wand und fuhr sich ständig mit den Fingern durch ihre rabenschwarzen langen Haare. Verträumt sah sie aus dem gegenüberliegendem Fenster und bemerkte uns gar nicht. Doch die rothaarige Schottin stupste sie leicht an und holte sie so aus ihren Tagträumen zurück in die Realität. „Hey da bist du ja
endlich!“, sagte sie mit gespielt vorwurfsvoller Stimme und lachte. „Sieh mal wen ich getroffen habe“, erwiderte die Schottin zu ihrer Freundin und sah mich grinsend an. „Du bist Mirika oder?“, fragte sie, doch ich schüttelte den Kopf und antwortete: „Nur Mira bitte.“ Wieder lachten die beiden, was auch mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Sie hatten eine fröhliche unbeschwerte Art an sich, die einfach ansteckend war. „Ich bin Elizabeth“, stellte die Schottin sich vor und deutete dann auf ihre Freundin, „und das ist Cora.“ Wir unterhielten uns noch eine Weile und schlenderten über das Gelände. Ich
erfuhr, dass sie sich hier ein Zimmer teilten, da sie zu weit weg wohnten, um wie ich, jeden Tag nach Hause fahren zu können. Es war schön ein wenig Zeit mit ihnen zu verbringen. Wir hatten eine Menge Spaß und lachten viel, was uns haufenweise Blicke der Anwesenden auf dem Campus einbrachte. Aber das war uns egal. Zu Hause angekommen, stellte ich erfreut fest, dass auch Dad bereits im Wohnzimmer saß und fernsah. Ich setzte mich neben ihn auf das gemütliche Sofa und nahm ein Stück der Pizza, die in einem Pappkarton auf dem Tisch vor uns lag. Ich erzählte ihm von meinem Tag und wie es in der RDA gelaufen war.
Von meiner seltsamen Begegnung im Park erzählte ich ihm jedoch nichts. Es würde nur dazu führen, dass er mir einzureden versuchte, nur noch mit Pfefferspray bewaffnet das Haus zu verlassen oder dass dies ein Anzeichen dafür war, das ich endlich einen Freund benötigte. Wobei ihm letzteres, wenn es denn endlich soweit wäre, sicher auch ein Dorn im Auge wäre, schließlich war ich für ihn noch immer sein süßes kleines unschuldiges Mädchen. Wie ich gehofft hatte, konnte er mir auch bei meinem Problem für die nächste Runde helfen. Er hatte durch seine Arbeit als Journalist viele nützliche Kontakte, doch der Mann, den ich jetzt
brauchte, war seit Jahren sein bester Freund: Richard Callow. Er arbeitete in der Medienbranche und konnte mir mit seinem technischen Wissen sicher weiter helfen. „Ich ruf ihn morgen früh gleich mal an. Soweit ich weiß, hat er dieses Wochenende sowieso nichts vor und wollte mal vorbei kommen.“ Jubelnd fiel ich ihm um den Hals und gab ihm einen stürmischen Kuss auf die Wange. Bevor ich schlafen ging, arbeitete ich noch ein wenig an meiner Choreographie. Ich hatte nur noch zwei Tagen um sie zu perfektionieren, aber eigentlich sollte sie morgen Abend schon vollständig durchdacht und einstudiert sein,
jedenfalls ein Teil davon. Ich hatte mich für das Lied „Love me like you do“ von Ellie Goulding entschieden, das nun in Endlosschleife aus meiner Stereoanlage tönte. Es war mir noch nie schwergefallen, mir neue Choreographien auszudenken und diese schnell zu beherrschen, doch ich hatte ständig neue Ideen im Kopf, wie ich das Stück perfektionieren konnte; das stellte ein Problem dar, denn mein Gehirn schien einfach nie zu wissen, wann es genug war. So musste ich ständig irgend eine Kleinigkeit ändern, was mich wiederum in meinem Zeitplan zurückwarf. Richard wollte gegen elf Uhr da sein, bis
dahin konnte ich meine Schritte noch ein paar Mal durchgehen. Als es an der Tür läutete, schaltete ich die Anlage aus und machte eine Pause. In der Küche saßen die zwei Männer bereits zusammen am Küchentresen. Richard erzählte von seiner neusten Errungenschaft, einer feurigen Südländerin, die er auf irgendeinem Kongress in Spanien kennen gelernt hatte. Er war zwar schon Ende vierzig, dennoch hatte er noch nicht vor, eine Familie zu gründen und sich auf nur eine Frau festzulegen. Er genoss seine Freiheit in vollen Zügen und ließ bei jeder Gelegenheit seinen Charme spielen. Er war es auch gewesen, der mir die DVD
geschenkt hatte, die Toby auf die glorreiche Idee unserer Choreographie gebracht hatte. Ich sollte ihm dafür danken. Richard hatte, seit ich zurück denken konnte, immer einen kahl rasierten Schädel gehabt, was seinem guten Aussehen aber keinen Schaden nehmen ließ. Die Frauen schienen darauf zu stehen, denn ständig hatte er eine neue Geliebte. Als er mich sah, sprang er sofort von seinem Stuhl und zog mich in eine feste Umarmung. Ich rang gespielt nach Luft und japste: „Bitte zerquetsch mich nicht!“ Er lachte und ließ mich los, sodass ich mich ebenfalls setzen konnte.
„Dein Dad hat mir am Telefon von deiner Idee erzählt.“ „Und? Was hältst du davon? Kannst du mir helfen?“, sprudelte es auch schon aus mir heraus. Ich war so wahnsinnig aufgeregt, dass ich kaum still sitzen bleiben konnte. Die beiden Männer lachten, was bei Richard und auch bei meinem Vater kleine Lachfältchen um Augen und Mund hervor lockte. Ihm gefiel, was ich vorhatte und konnte mir möglicherweise sogar bei der Umsetzung helfen. Ich sollte heute meine Choreographie so einstudieren, wie ich sie letztendlich auch aufführen wollte. Morgen würden wir uns dann um die Technik kümmern.
Nachdem wir zusammen Mittag gegessen hatten, zog ich mich wieder auf mein Zimmer zurück und trainierte wie eine Wahnsinnige. Zwischendurch machte ich natürlich auch Pausen, in denen ich fern sah oder Nachrichten mit Toby schrieb. Auch Elizabeth und Cora hatten mir ihre Nummern gegeben, sodass wir in WhatsApp eine Gruppe gründen konnten, um dort zusammen zu quatschen. Sie alle kamen gut voran mit ihren Choreos. Doch wir erzählten keine Details, die Spannung sollte bis zum letzten Moment aufrecht erhalten werden. An diesem Abend ging ich früh zu Bett, damit ich morgen ausgeruht und entspannt sein
würde. Am Sonntag stand ich pünktlich um neun Uhr bei Richard auf der Matte. Er hatte mich nach Oxford in seine Firma bestellt, die am Wochenende normalerweise geschlossen war, für mich aber eine Ausnahme machte. Bevor wir loslegen konnten, bat er mich, ihm mein Stück vorzutanzen, damit er sich eine Vorstellung davon machen konnte, wie er arbeiten musste. Ich legte eine CD in das Laufwerk seines Computers und nahm Aufstellung, dann legte ich los und gab mich der Musik hin. Als ich fertig war, hörte ich wir Richard begeistert applaudierte. „Großartig Mira!
Du bist eine fantastische Tänzerin!“, lobte er mich und kam freudestrahlend auf mich zu. „Ok, ich denke, ich weiß wie wir das angehen müssen, damit alles so wird, wie du es willst.“ Er baute mit meiner Hilfe eine weiße Leinwand hinter mir auf, die er mit vielen Lichtstrahlern ausleuchtete. Kameras waren auf die andere Seite gerichtet, die jeden meiner Schritte festhalten sollten. „Wir probieren es einmal durch, sehen uns das Ergebnis an und schauen dann, was wir noch ändern müssen“, erklärte Richard und positionierte sich auf der anderen Seite der weißen Wand. Während ich tanzte, fiel mir eine weitere Idee ein, die ich beim Ansehen der
Aufnahme sofort mit Richard teilte: „An dieser Stelle fände ich es toll, wenn sich noch mehr Schatten aus diesem einen lösen könnten und erst die selben und dann zeitlich versetzte Bewegungen machen könnten. Schaffen wir das?“ Er überlegte einen Moment und nickte dann. „Ja, wir müssen jeden Teil getrennt voneinander aufnehmen, um die einzelnen Schnitte dann übereinander zu legen, aber das dürfte zu machen sein.“ Und so verbrachten wir den Vormittag und auch den Nachmittag damit, die perfekte Aufnahme zu kreieren. Alles musste hundert prozentig perfekt sein! Stunden später waren wir endlich mit allem zufrieden, sodass ich mich endlich
erschöpft aber glücklich zurück lehnen und Richard seine Arbeit machen lassen konnte. Ich fächerte mir mit einem Stück Pappkarton Luft zu und strich den Stoff meines roten Kleides glatt. Nur ungern hatte ich es heute den ganzen Tag getragen, ich wollte schließlich keine Schweißflecken darauf hinterlassen, aber es musste einfach sein, um das Bild perfekt werden zu lassen. Nach einer kleinen Ewigkeit lehnte sich nun auch Richard in seinem Stuhl zurück und lächelte zufrieden. „So, das dürfte genügen. Bist du bereit, um nochmal alles durchzugehen? Ich könnte es wieder aufnehmen, damit du weißt wie alles am Ende
aussieht.“ Wir machten die Scheinwerfer aus und holten die Kamera auf die andere Seite, damit sie nun nicht mehr nur meinen Schatten aufzeichnete. Richard verband seinen Computer mit der Leinwand, sodass eine größere Schattenversion von mir in ihrer Ausgangsstellung zu sehen war. Ich nahm exakt die selbe Pose ein und begann meinen Tanz. Hin und wieder erhaschte ich einen Blick auf mein Schatten-Ich, dessen Bewegungen eins zu eins mit meinen überein stimmten. Jedenfalls bis es ein Eigenleben entwickelte und unabhängig von mir seinem eigenem Rhythmus folgte. Ich führte nun meine Bewegungen
spiegelverkehrt zu denen auf der Leinwand aus, wodurch es so aussah, als würden wir gemeinsam ein Duett tanzen. Dann passte es seine Schritte wieder meinen an, doch im nächsten Moment spalteten sich plötzlich weitere Versionen meines Schatten-Ichs ab und nun folgten sie alle mit einer kurzen Verzögerung meinen Bewegungen. Das alles danach auf Richards Computerbildschirm zu sehen, war einfach der Hammer! Es passte einfach alles zusammen. Selbst der Stoff meines Kleides bewegte sich bei mir und den Schatten identisch, sodass es anfangs wirklich so aussah, als wäre es mein eigener an die Wand geworfener
Schatten, der schließlich seinen eigenen Willen entwickelte. Ich bedankte mich bei Richard und versprach ihm, ihm im Gegenzug demnächst zu bekochen. Er liebte es, wenn Dad oder ich hin und wieder für ihn kochten, denn er selbst konnte es nicht, was dazu führte, das er ständig in Restaurants essen ging oder beim Lieferservice bestellte. „Es war mir ein Vergnügen dir helfen zu können! Wenn die dich nicht bei sich aufnehmen, sind sie wirklich verrückt!“, sagte er und übergab mir den USB-Stick mit dem Video darauf. Am Montag stand Toby dann wie verabredet vor unserem Haus und wartete
auf mich. Ich lieh mir wieder den Wagen meines Vaters und schonmachten wir uns auf den Weg nach Oxford. In der RDA angekommen, warfen wir einen Blick auf die Hinweistafel am Eingang und gingen direkt zum Studio E9. Wir konnten einen Blick in das wenig beleuchtete Innere werfen. Es war wieder ein Saal mit Zuschauerreihen und Bühne, doch dieser war viel kleiner als der erste und diente wohl eher Aufführungen mit kleinerem Publikum. Wieder trennten sich unsere Wege an den Umkleideräumen. In dem der Mädchen stürmten mir sofort Elizabeth und Cora entgegen. „Hi!“, riefen sie wie aus einem Mund und zogen mich in eine stürmische
aber liebevolle Umarmung. Ich war es nicht gewohnt so viele Herzlichkeiten mit Leuten meines Alters auszutauschen, doch ich genoss es auch irgendwie ein bisschen. Elizabeth sah hinreißend aus in ihrem Schottenkostüm. Das kurze Kleid, das eigentlich nur eine Bluse mit langen Ärmeln war, lang eng an ihrem Körper, darunter trug sie eine schwarze kurze Hose und weiße Strümpfe, die ihr bis über die Knie reichten. Ihr rotes Haar hatte sie unter der Mütze zu einem französischem Zopf geflochten, der ihr einmal um den ganzen Kopf reichte. Coras weißes hauchzartes Kleid bildete einen starken Kontrast zu ihrer
kaffeebraunen Haut und ließ sie so regelrecht strahlen. Wieder spielte sie mit ihren Haaren, von denen manche Strähnen geflochten und hochgesteckt waren. Ihre Outfits erinnerten mich daran, dass ich mich auch endlich umziehen sollte, also suchte ich mir einen freien Platz und schlüpfte in mein rotes Kleid und den dazugehörigen Schmuck. Meine Locken hatte ich bereits heute morgen zu einem ähnlichen Zopf, wie den von Elizabeth, hochgesteckt. Vor dem Spiegel legte ich noch Wimperntusche auf, umrahmte meine Augen mit Eyeliner und färbte meine Lippen in der gleichen Farbe meines Kleides.
Gemeinsam mit meinen neuen Freundinnen verließ ich den Umkleideraum und betrat Studio E9. Wir fanden noch ein paar freie Plätze in der vierten Reihe. Als ich Toby den Gang entlang marschieren sah, winkte ich ihn zu uns. Er hatte einen Typen bei sich, der eine graue Wollmütze auf dem Kopf trug. Er stellte sich als Tristan Powell vor und setzte sich ebenfalls in unsere Reihe. Die Show begann und einer nach dem anderem wurden wir auf die Bühne gerufen. Als Toby an der Reihe war, drückte ich einmal kurz seine Hand und wünschte
ihm tonlos „Viel Glück!“ Er hatte ein instrumentales Stück ausgewählt, das ich nicht kannte. Es hatte wenig Melodie, was jedoch perfekt zu seinem beinahe animalischen Tanz passte. Am Ende drehte er mehrere Pirouetten und verbeugte sich dann einmal tief vor seinem Publikum. Mir wurde bewusst, dass meine Auftritt direkt nach dem nächsten Tänzer dran war, doch wider Erwarten war ich vollkommen entspannt und kein bisschen nervös. Ich hatte viel trainiert und mir etwas wirklich originelles ausgedacht. Jetzt lag es nicht mehr in meinen Händen. Nachdem die Requisiten, die Duncan für
seine Darbietung benötigt hatte, viele große und kleine Holzblöcke auf denen er sich hin und her bewegt hatte, beiseite geschafft worden waren, wurde mein Name aufgerufen. Ich ging auf die Bühne und wartete, bis die in schwarz gekleideten Assistenten die große weiße Leinwand, um die ich bei meiner Ankunft gebeten hatte, hinter mir aufgebaut hatten. Ein Murmeln ging durch die Reihen, als alle sich fragten, was ich wohl damit wollte. Ich nahm meine Position ein und wartete, bis auch mein Abbild auf der Leinwand hinter mir erschien. Als es da war und die Musik einsetzte, gab ich mein bestes und begann mein
Schattenspiel. Ich blendete die Menschen unter mir aus und konzentrierte mich einzig auf die Musik und meinen Körper.
Tosender Applaus brandete auf als ich die Bühne verließ. „Das war der Hammer!“, flüsterten Toby und auch Elizabeth und Cora mir zu. Ich fühlte mich in einer Art Rausch, meine Hände zitterten und das breite Grinsen, das ich zur Schau trug, ließ sich auch mit starker Willenskraft nicht beseitigen.
Albatros99 Bin total gespannt, wie sich die Geschichte weiter entwickelt. Es bleibt fesselnd und ich liebe Tanzen. LG Christine |
LilaLilime freut mich sehr zu hören, denn ich habe auch nichts mit Tanzen am Hut eigentlich, da ist es sehr erfreulich, dass ich trotz meines Nichtwissens die Gefühle und Beschreibungen doch gut rüber bringen kann |
LilaLilime oh super, danke für den Hinweis. Da werde ich morgen gleich mal reinlesen :) |
abschuetze Klasse. Du schreibst einfach klasse. Auch wenn ich mit den Musictiteln nix anzufangen weiß, ich bin ein Fan von Mira :)) LG von Antje |
LilaLilime Mira ist froh über jeden Fan und ich natürlich auch :) |