Sicher kennst du schon das große Elfenreich, in dem
Golhora die Herrscherin ist.
Achthundertsiebenundzwanzig Elfen mit verschiedenen
Fähigkeiten wohnen und arbeiten dort. Eine davon ist
Soria, eine Elfe von sieben Jahren, mit blondem langem
Haar. Sie kann Tiere verstehen und mit ihnen sprechen.
Die Morgendämmerung war hereingebrochen und wie
jeden Tag verteilte Golhora an die vielen Elfen jene
Aufgaben, die sie heute erledigen mussten, um Gutes
zu tun und anderen Lebewesen zu helfen. Viele der
Elfen kümmerten sich um hilfesuchende Menschen im
Menschenreich. Andere - wie Soria - reisten jeden Tag
aufs Neue ins riesige Tierreich, um dort ihr Werk zu
verrichten und traurige Tiere glücklich zu machen.
"Soria, du fliegst heute bitte ins Katzenland", sagte
Golhora mit sanfter Stimme. "Wir haben von dort einen
Hilferuf erhalten. Eine Kätzin hat vor wenigen Tagen
zehn Junge bekommen und seit gestern ist eines der
Kätzchen verschwunden".
Soria hatte verstanden. Sie machte sich umgehend auf
den Weg und flog - so schnell sie mit ihren kleinen
Flügeln konnte - davon, über die hohen Berge und die
saftigen Wiesen, über Wälder und Auen hinweg, bis sie
schließlich das Katzenland am hellen Tage erreichte.
Am Rande eines großen Feldes, im Gestrüpp eines
dichten Buschs, fand Soria die Wohnstätte der traurigen
Kätzin mit ihren Jungen. Die rotgetigerte Katzenmama
lag seitlich am Boden und schnurrte. Du weißt ja, dass
Katzen auch schnurren wenn sie traurig sind. Achtzehn
rotgetigerte winzige Pfoten tretelten sanft am Bauch der
Kätzin und neun Babykätzchenmäuler versuchten, eine
der mit leckerer Milch gefüllten Zitzen zu erhaschen.
"Ich danke dir, dass du zu uns gekommen bist, liebe
Elfe", sagte die Kätzin. "Mein Name ist Sina".
"Und ich heiße Soria. Ich bin hier, um dein verloren
gegangenes Kind wieder in den Schoß der Familie
zurückzubringen." Soria setzte sich neben Sina auf den
Boden und streichelte zärtlich einige der Babies.
"Katzenbabies laufen nicht von ihrer Mutter weg. Also
muss jemand es von hier genommen haben" sagte
Soria. "Wer könnte so etwas Grausames getan haben,
Sina?"
"In der Nachbarschaft wurde schon einmal ein Baby
von einem Bösewicht aus dem Fuchsland geraubt".
Rasch stiegen Sina Tränen in die Augen, und
schluchzend sagte sie: "Das Baby kam nie mehr
zurück" Soria nahm die Pfote der Kätzin und hielt sie
ganz fest. "Aber seitdem ist ein solches Unglück nicht
mehr über das Katzenland hereingebrochen. Kein Baby
wurde mehr geraubt und kein Fuchs wurde seither hier
gesehen".
"Gibt es noch andere Katzenfeinde in dieser Gegend?",
fragte Soria einfühlsam.
"Nein. Nicht dass ich wüsste", entgegnete Sina. "Hier
wohnen nur wenige Familien. Alle haben selbst Kinder,
außer …" Sina stockte.
"Außer wer?" fragte Soria.
"Außer Retofil, der alte Kater!"
"Würde er Kindern etwas zuleide tun?" fragte Soria.
"Nein", sagte Sina, "das glaube ich nicht. Retofil ist ein
sehr fröhlicher Zeitgenosse. Er wohnt dort drüben an
der kleinen Hecke".
Sina deutete mit der Pfote zum anderen Ende des
Feldes. "Er fängt nur Mäuse - und er dichtet. Deshalb
sagen alle über ihn: ‚Retofil – der redet viel’."
Soria dachte eine Zeitlang nach und sagte dann:
"Diesen Dichter-Kater sehe ich mir trotzdem etwas
genauer an!"
Soria flog zu Retofils Hecke und entdeckte sogleich
den alten grauen Kater vor einem Mäuseloch sitzen. Er
hielt eine große Maus zwischen den Pfoten und als er
Soria entdeckte, sagte er:
"Hoppala, wer kommt denn da?
Eine Elfe ich schon lang nicht sah!"
"Ich heiße Soria und bin auf der Suche nach dem
Katzenbaby, das gestern aus dem Nest von Sina
verschwunden ist. Hast du etwas davon gehört,
Retofil?"
"Katzenkinder brauch ich nicht.
Mäuse sind mein Leibgericht."
"Das Baby ist rotgetigert und erst wenige Tage auf der
Welt", sagte Soria. "Du hast nichts gesehen?"
"Ich bin alt, kann kaum noch gehen,
und schon gar nicht mehr gut sehen".
"Also gut, Retofil, falls du etwas über das Baby hören
solltest, melde dich bitte bei mir.
"Mäusebraten mag ich sehr,
leider fing ich lang nichts mehr"
Retofil hielt sich eine Pfote vor den Mund und guckte
erschrocken angesichts seiner eigenen letzten Worte. Dadurch gab er
den Blick auf die Maus zu seinen Füßen frei. Ein
herzzerreissendes "Miauuu!", war plötzlich zu hören.
Soria drehte den Kopf, um zu horchen, woher der Ruf
denn kam. Und wieder machte es "Miauuu, miauuu!".
"Nanu?" sagte Soria erstaunt. "War das die Maus?"
Gerade als Soria auffiel, dass die Maus gar nicht grau war,
sondern rotgetigert, rief die Maus erneut "Miauuu".
"Ach, Elfe, sieh mal einer an,
was diese Maus so alles kann!"
"Oh Retofil, ich kann es nicht glauben! Du hast das Kätzchen weggenommen!", rief Soria verärgert.
Der Kater blickte verlegen zu Boden und wenn er kein
Fell gehabt hätte, wäre sein Gesicht vermutlich ganz rot angelaufen vor
Scham. In weinerlichem Ton fuhr er fort:
"Doch nur, weil ich kein Jagdglück hatte,
weder eine Maus noch eine Ratte!"
"Das ist noch lang kein Grund zum Kinder rauben! Dann friss lieber Beeren oder Gras!"
"Ich schwöre ich werd's nimmer tun,
lieber werd' ich hungernd ruh'n!
Verzeih mir, Elfe, sollst mich verbannen!"
Und so zog Retofil von dannen.
Die Elfe Soria aber brachte das Baby unversehrt zu
Sina zurück. Sie wurde von der ganzen Familie
überschwänglich und mit Freudentränen empfangen.
Soria legte das Kind sogleich an den Sinas flauschigen
Bauch, damit es Milch trinken konnte und schnell
wieder zu Kräften kam.
"Als Dank für deine Hilfe, liebe Elfe Soria, gebe ich
dem Baby deinen Namen: SORIA!"
So kehrte Soria zufrieden und glücklich ins Elfenland
zurück, berichtete Golhora vom guten Ausgang der
Geschichte und freute sich schon heute darauf, am
nächsten Tag wieder gute Taten im großen Tierreich
vollbringen zu dürfen.
ENDE
copyright Peter Spitz 2008