“Die große Liebe zu treffen,
ist eine Sache.
Sie wieder zu finden,
eine ganz andere.”
(aus: “Weil es dich gibt”, 2001)
prolog
Wenn mich jemand fragt, warum ich tanze, antworte ich: „Meine Mutter war Tänzerin. Nun ist es das einzige, das mich mit ihr verbindet.“ Die Reaktionen, die ich darauf erhalte sind identisch: Die Leute sehen mich an und schütteln verständnislos den Kopf. Sie denken, meine Mutter wäre eine der Frauen, die ihre Töchter zwingen, ihren verlorenen Traum an ihrer statt zu leben. Wenn sie dann über den Sinn meines zweiten Satzes nachdenken, weiten sich ihre Augen. Sie erkennen, dass meine Mutter tot ist und denken, dass ich nun verzweifelt an ihr festhalte indem ich das
tue, was sie getan hat. Ihre Gesichter triefen nur so vor Mitleid, das ich nicht haben möchte.
Daran, dass ich meinen Weg vielleicht selbst so gewählt haben könnte, weil ich es will, denken sie nicht. Doch so ist es. Noch bevor ich richtig sprechen oder laufen konnte, äußerte ich meinen Wunsch Tänzerin zu werden. Ich liebte es den geschmeidigen Bewegungen meiner Mutter zuzusehen. Sie war eine große Balletttänzerin, wodurch sie auch meinen Vater kennenlernte. Er war Journalist und hatte sie für seine Zeitung interviewt. Meine Eltern versuchten mich in eine andere Richtung zu lenken. Sie wollten, dass ich meinen eigenen Weg
fand und nicht einfach in die Fußstapfen meiner Mutter trat. Doch ihre Bemühungen waren vergeblich. Meine Schulzeit verbrachte ich in diversen Tanzkursen. Als ich alt genug war, nahm ich in den Ferien verschiedene Jobs an, um mir meinen Tanzunterricht selbst finanzieren zu können. Ich bekam ein Stipendium für eines der renommiertesten Tanzcolleges. Meine Mutter war sehr erleichtert, dass ich ihr nicht in allem nacheiferte. Ich entschied mich gegen Ballett. Zwar probierte ich mich auch darin aus und war auch nicht übel, aber es war einfach nicht das Richtige für mich, obwohl ich viele Schritte und Figuren des klassischen
Balletts in meine Choreographien übernehmen konnte. Und obwohl ich Angst davor hatte meiner Mutter zu ähnlich zu werden, hörte ich auch nach dem Ausbruch ihrer Krankheit und nach ihrem Tod nicht mit dem Tanzen auf.
An all das wollte ich in diesem Moment jedoch nicht denken. Also schob ich das Chaos, das in meinem Innerem herrschte beiseite und konzentrierte mich auf die Musik, die aus den großen alten Lautsprechern in der Ecke dröhnte. Ich blendete die Tänzer um mich herum aus und versank in meinen Bewegungen. Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, an einem anderen Ort zu sein, weit weg von diesem alten muffigem Tanzstudio
und weit weg von dieser nervigen Kleinstadt. Diese Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war und in der die Leute nur darauf warteten, dass ich mich seltsam benahm und erste Symptome der Krankheit meiner Mutter zeigte... Stopp! Hör auf daran zu denken! Konzentriere dich! Jetzt zählt nur die Musik und deine Bewegungen.
Zum letzten Takt des Liedes versank ich nach einer Drehung in eine tiefe elegante Verbeugung. Ich ließ die positiven Gefühle, die mich nach jedem Tanz durchströmten, meinen Körper beruhigen und meine Seele reinigen. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und ich öffnete
glücklich die Augen.
„Bravo! Wunderbar! Ich bin begeistert!“, rief Mrs Caprice, deren volltone Stimme von den hohen verspiegelten Wänden widerhallte. Ihre rundliche Figur schob sich in mein Blickfeld, sodass ich ihr strahlendes Gesicht mit den vielen Sommersprossen auf Nase und Wangen sehen konnte. Sie klatschte euphorisch in die Hände; ihre Augen strahlten voller Stolz auf ihre Tänzer. „Mira, du warst grandios, wie immer! Du sahst aus wie eine zierliche kleine Elfe, die über eine blühende Blumenwiese tanzt“, sprach sie mich nun voller Entzückung an, dann kam sie auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Die anderen Schüler
kicherten über die sonderbare aber dennoch sehr vertraute Ausdrucksweise unserer liebenswürdigen Lehrerin.
Mrs Caprice schüttelte tadelnd den Kopf und sah mich stirnrunzelnd an. „Aber hör auf so ernst zu gucken! Am Ende deiner Tänze hast du immer diesen besonderen losgelösten Blick. Den möchte ich während des gesamten Auftritts sehen und nicht erst wenn du fertig bist!“ Sie sah mich noch einen Augenblick prüfend an, dann wandte sie sich ab und schenkte einem anderem ihre Aufmerksamkeit.
Sah ich beim Tanzen wirklich zu ernst aus? Ich hatte heute viel nachgedacht und das nicht gerade über positive Dinge, vielleicht lag es daran? Ich würde
diesen Kritikpunkt auf jeden Fall beherzigen und zukünftig auf meinen Ausdruck achten. Zuschauer wollten keine verkrampfte, ernst dreinschauende Tänzerin auf der Bühne sehen. Sie wollten Freude, Zufriedenheit und Lebensfreude.
Um mich herum applaudierten die anderen Tänzer und warfen erwartungsvolle Blicke in meine Richtung. „Ähm was!?“, fragte ich perplex und erntete dafür theatralisches Stöhnen und vereinzelte Lacher. Mrs Caprice tänzelte wieder nach vorn und fuhr sich durch ihre rote Lockenmähne, die sich wild um ihr herzförmiges Gesicht wand. Ein Anflug von
Missbilligung lag in ihrem Blick, der jedoch sofort wieder verschwand als sie meine entschuldige Miene sah.
„Ich habe gerade davon gesprochen, dass sich unser Sommerworkshop dem Ende nähert und die große Abschlussparty bevorsteht. In den letzten Tagen könnt ihr noch einmal zeigen, was in euch steckt. Einige von euch kenne ich seit Jahren. Doch wie jedes Jahr müssen wir uns auch in diesem wieder von einigen unserer Schüler verabschieden.“ Ihr Blick glitt durch den Raum, fand seinen Weg jedoch schnell zurück zu mir. „Mira und Toby gehören zu meinen besten Tänzern. Nur sehr ungern lasse ich sie gehen, auch wenn ich weiß, dass ihnen
nun sehr viel größere Dinge bevorstehen. Ich bin stolz darauf, dass ich euch auf eurem Weg begleiten durfte und wünsche euch beiden von Herzen alles Gute und viel Erfolg! Ich weiß, dass ihr euren Weg gehen, oder besser gesagt, tanzen werdet“, fügte sie lachend hinzu und zwinkerte in meine Richtung. Ja mir stand wirklich „Großes“ bevor. Eine Karriere an der Kasse des kleinen Buchladens, der sich nicht von mir zu Hause befand. Früher wollte ich Tanz studieren, es leben und in jedem meiner Atemzüge fühlen. Aber das schien eine Ewigkeit her zu sein. „Wie ihr sicher wisst, bekommen diejenigen von euch, die ich für überdurchschnittlich talentiert
halte, ein besonderes Geschenk von mir. Ich habe sehr gute Kontakte zu den besten Tanzakademien in ganz England und diese Beziehungen nutze ich gerne, um meinen Absolventen“, sie machte eine dramatische Kunstpause und als sie fortfuhr hüpfte sie wie eine aufgeregte Dreijährige an Weihnachten auf und ab, „ein Vortanzen an der Akademie ihrer Wahl zu ermöglichen! Toby? Mira? Enttäuscht mich nicht!“