Roter Samt
1. Kapitel
"Die Kartoffeln müssen gepellt werden!" Die Stimme der Mutter hatte einen mahnenden Unterton. Sie scholl aus dem geöffneten Küchenfenster auf den Balkon, wo Annegret, die Arme auf die Balkonbrüstung gestützt, die Fenster der Rückfront des Vorderhauses beobachtete. Jetzt konnte sie das noch ungehindert, denn die große Kastanie begann erst zaghaft ihr Blattwerk zu entfalten. Im Sommer war sie so dicht belaubt, dass jegliche Sicht zum Vorderhaus verwehrt wurde.
"Noch fünf Minuten", maulte Annegret.
"Frau Doktor spielt gerade Tennis."
Annegret konnte, wenn sie sich weit genug vorbeugte, auf der rechten Seite den Tennisplatz sehen, um genau zu sein, das Netz, das die Felder trennte. Nur wenn ein Spieler sich dicht am Netz aufhielt, konnte sie diesen sehen. Doch der Tennisplatz interessierte sie gerade überhaupt nicht. Gegenüber in der ersten Etage hatte der Professor gerade seine junge Frau geküsst.
Auch dort stand an diesem schönen Apriltag das Küchenfenster weit offen. Sie stand am Küchentisch und bereitete in einer Schüssel irgendetwas zu. Annegret mochte die beiden. Wenn sie sie sahen, winkten sie immer freundlich.
"Der alte Bock", hatte ihre Mutter einmal zu
Tante Grete gesagt.
"Verlässt seine Frau und nimmt sich eine dreißig Jahre jüngere."
"Aber nett sind die beiden", hatte Tante Grete geantwortet. Sie war ihnen schon öfter begegnet.
In der zweiten Etage war die Haushälterin des Arztehepaares dabei Wäsche auf dem Balkon aufzuhängen. Das fand Annegret nicht so spannend. Im Vorderhaus hatten die Wohnungen zwei Balkons. Einen zur Straße und einen zum Hof.
"Wir wohnen in einer feinen Gegend", sagte ihre Mutter immer ganz stolz.
Ein zweiter Balkon würde Annegret auch gefallen. Des Öfteren hatte ihre Mutter sie schon darauf hingewiesen, dass es keine
Balkons wären, sondern Loggien. Diese Differenzierung war ihr wichtig.
Jetzt wurden im Hochparterre die Fenster des Zimmers geöffnet, in dem das Klavier stand. Die älteste Tochter von den Schneiders begann sicher gleich mit ihren Übungen. Sie spielte so schön. Einige Melodien kannte Annegret. Dann summte sie mit.
"Annegret, du wolltest mir helfen. Ich bin noch mit dem Kuchen beschäftigt."
Das rhythmische Klatschen, wenn ihre Mutter den Hefeteig mit den Fäusten bearbeitete war zu hören.
"Komm´ jetzt endlich ´rein. Du brauchst die Kartoffeln nur zu pellen. Ich schnippel sie dann. Wir wollen heute Abend doch Kartoffelsalat und Bockwurst essen ... und der
Salat muss noch durchziehen. Außerdem beobachtest du schon wieder die Leute. Wir werden noch ins Gerede kommen."
Widerwillig verließ Annegret den Balkon. Am Küchentisch hatte ihre Mutter ihr schon eine Ecke frei gemacht, so dass sie sofort mit ihrer Arbeit beginnen konnte. Während sie die Kartoffeln noch etwas ungelenk pellte, überlegte sie, ob Tante Grete ihr wieder eine Bildgeschichte mitbringen würde. Eine Tafel Schokolade zauberte sie immer aus ihrer Tasche. Aber eine Bildgeschichte wäre natürlich etwas Besonderes.
Vielleicht würde sie sie nach dem Kaffeetrinken, vielleicht aber auch abends auf der Couch lesen. Ihre Mutter und Tante Grete würden im Schlafzimmer in den
Ehebetten schlafen und sie im Wohnzimmer auf der Couch. Darauf freute Annegret sich. Sie durfte dann das Radio einschalten, selbstverständlich leise, damit die Nachbarn nicht gestört würden. Musik hörte sie gern. Am liebsten Schlager. Hin und wieder würde Stimmengemurmel, manchmal auch ein Lachen aus dem Schlafzimmer zu hören sein. Das fand sie besonders schön. Sie bedauerte, dass Tante Grete nur einmal im Monat kam. Dann, wenn Onkel Georg Skatabend hatte. Das zweite monatliche Treffen der beiden Frauen fand unweigerlich vor einem Kino statt. Annegret blieb dann allein zuhause. Frau Krüger aus der dritten Etage bekam den Wohnungsschlüssel und schaute nach ihr. Das gefiel Annegret
überhaupt nicht. Sie war doch schon elf Jahre alt.
"Annegret, träum´ nicht ... und pell´ die Kartoffeln nicht so dick. Du hast es ja gleich geschafft."
Fünf Minuten später war Annegret fertig. Sie stand auf und schaute in die Schüssel, in der ihre Mutter schon die Streusel vorbereitet hatte.
Sie wusste, dass ein Rest verbleiben würde, den sie naschen durfte.
Tante Grete war pünktlich. Hochrot stand sie in der Wohnungstür und fiel Annegrets Mutter lachend um den Hals. Als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Dann nahm sie Annegret in die Arme und presste sie an ihren
üppigen Busen.
"War das wieder eine Fahrerei. Die Straßenbahn zuckelt aber auch. Ich muss erst einmal auf die Toilette."
Annegrets Mutter lächelte. Es war das übliche Begrüßungsritual. Annegret war ungeduldig. Was würde Tante Grete aus ihrer Tasche zaubern? Endlich kam Tante Grete ins Wohnzimmer.
"So, Anni, jetzt bekommst du erst einmal eine Tafel Schokolade. Und hier die Bildgeschichte vom Waldschrat. Es müsste alles fortlaufend sein. Ich habe jeden Tag die Seite aus der Zeitung gerissen."
Annegret strahlte. Sie klemmte sich die losen Seiten unter den Arm und wollte auf den Balkon gehen.
"Wir trinken erst Kaffee, Annegret", rief ihre Mutter aus der Küche, wo sie gerade den so kostbaren Bohnenkaffee, der noch vom letzten Besuch Tante Gretes übriggebieben war, aufbrühte. Den gab es nur zu besonderen Anlässen. Heute war so ein Anlass. Die Frauen hatten ihren Schwatzabend.
Annegret mochte Streuselkuchen. Doch heute verzichtete sie auf ein zweites Stück Ihren Malzkaffee hatte sie auch nicht ausgetrunken. Bittend sah sie ihre Mutter an.
Ja, ja ... du darfst aufstehen", sagte ihre Mutter zu ihr lachend.
Annegret griff nach dem Packen loser Seiten, den sie auf den Esstisch gelegt hatte, holte sich ein Kissen von der Couch und legte sich
auf den Teppich. Auf den Balkon zu gehen, hatte sie auf einmal keine Lust mehr. Sie vertiefte sich in die Abenteuer, die der Schrat zu bestehen hatte. Das Stimmengemurmel der beiden Frauen rauschte im Hintergrund an ihr vorbei. Sie unterhielten sich über den letzten Film, den sie gesehen hatten. Der Hubschmid hat aber auch großartig gespielt, hörte sie ihre Mutter sagen. Tante Grete lachte lauthals. Warum auch immer. Na, hoffentlich pinkelt sie nicht wieder ein, dachte Annegret. Dieses Malheur passierte ihr manchmal wenn sie lachte oder niesen musste. ... und es war wieder passiert.
"Du hast ja noch meinen Schlüpfer vom letzten Besuch hier, Gertrud. Ich muss wechseln."
"Wann gehst du endlich zum Arzt? Da kann man doch ´was machen", antwortete Gertrud.
Annegret kannte diesen Dialog. Sie schenkte ihm keine Beachtung mehr. Irgendetwas stimmte mit der Bildgeschichte nicht. Die Seiten waren durcheinander geraten. Während sie sie sortierte, fiel ihr auf, dass das Stimmengemurmel hinter ihr in ein Flüstern übergegangen war. Angestrengt versuchte Annegret etwas zu verstehen.
"... und ihre Augen waren ganz verweint ... sie wirkte so verstört. Sie wiederholte immer die gleichen Worte."
Vorsichtig wandte Annegret den Kopf und sah zu ihrer Mutter, die im Sessel etwas vorgebeugt, diese Worte gerade Tante Grete zugeflüstert hatte, Doch schnell beschäftigte
sie sich wieder mit ihrer Bildgeschichte. Scheinbar. Ihre Mutter und Tante Grete durften nicht bemerken, dass sie etwas gehört hatte.
"Ich habe das weiße Kreuz gesehen ... auf der Straße ... in der Nacht, ich stand am Fenster. Es wird etwas Furchtbares geschehen."
© KaraList 08/2015