Beschreibung
Tipps, um in diesem harten Alltag zu überleben.
Der verschneite Wald
Als Kind verstand ich nie, warum mein Vater den Winter nicht leiden konnte und sehnsuchtsvoll darauf wartete, dass es endlich Frühling wurde. Er stand dann oft in dieser lichtlosen Zeit in seinem Arbeitszimmer, sah verträumt zum Fenster hinaus, schwenkte sein Cognacglas und betrachtete die tanzenden Schneeflocken.
Der Sturm peitschte den Schnee vom Kirschbaum im Garten. Die Wiesen waren tief verschneit. Im Kachelofen knisterte gemütlich das Feuer. Aus den Kaminen der Nachbarhäuser stieg dunkler Rauch zum Himmel empor.
Vater trug in den Wintermonaten einen Schmerz in sich. Ob es damit zusammenhing, dass er als junger Soldat im Winter in Russland gewesen war und diese Erinnerungen ihn quälten? Ich weiß es bis heute nicht.
Mir gefiel der Winter schon. Da konnte ich mit meiner Freundin Monika Schneemänner und Schneeburgen bauen oder Rolf, dem Nachbarhund, Schneebälle nachwerfen und mich daran erfreuen, wenn er mich anbellte, oder ich wurde von meiner Mutter mit dem Schlitten gezogen, wenn sie zum Einkaufen ging.
Auch denke ich an den zugefrorenen Froschweiher, auf dem ich bei klirrender Kälte die ersten Schlittschuhversuche startete. Besonders schön fand ich es, wenn die Sonne die verschneite Gegend in eine glitzernde Märchenlandschaft verzauberte.
Nur einmal begleitete mich mein Vater im Winter zum Rodelberg. Er zog den Schlitten, und ich stapfte neben ihm im Schnee. Gemeinsam fuhren wir auf dem Schlitten den kleinen Berg hinunter und nachdem er mir gezeigt hatte, wie man bremst und am elegantesten Kurven fährt, durfte ich unter seinen strengen Blicken auch alleine rodeln.
Als ich mich reichlich ausgetobt hatte, mir Arme und Beine von den zahlreichen Stürzen schon weh taten und meine Kräfte allmählich nachließen, zog mich Vater mit dem Schlitten heimwärts.
Wir wählten nicht den kürzesten Weg nach Hause, sondern machten einen kleinen Umweg zuerst am Waldrand entlang, dann den Jägersteig durch den Wald.
Plötzlich hielt er an, bat mich, einige Schritte zu Fuß zu gehen, und dann blieben wir unter einer mächtigen Tanne stehen.
Mein Vater sagte: „Ich möchte, dass wir jetzt eine Weile nicht reden, uns nicht bewegen und nur auf die Geräusche lauschen, die aus dem Wald kommen.“
Nach minutenlangem Schweigen klangen leise seine Worte zu mir: „Hast du das Flügelschwingen der Vögel gehört? Da drüben haben Äste geknistert. Ein Eichhörnchen hüpfte auf einen anderen Zweig. Mit einem gewaltigen Rauschen rutschte Schnee den Abhang hinunter, und dann liefen einige Rehe über die Böschung. Hier siehst du an den Spuren im Schnee, dass auch Hasen gelaufen sind. Wir haben sie weder gehört noch gesehen. Aber sie sind trotzdem ganz in der Nähe. Wenn es nicht so kalt wäre, könnten wir noch länger lauschen und würden noch viel mehr hören. Du siehst also, selbst im Winter ist nicht alles ausgestorben. Im Wald herrscht trotz der Stille intensives Leben.“
Ich setzte mich wieder auf den Schlitten, Vater zog ihn, und er erzählte: „Das ist das Lied des Waldes. Behalte die Melodie im Herzen. Wenn du später einmal in der Fremde bist, Heimweh verspürst, vom Schicksal getreten wirst oder Böses dein Herz vergiften will, dann lausche dieser Melodie. Sie wird dich beschirmen, beschützen und auffangen. Die wertvollen Anlagen im Menschen finden ihre Erfüllung oft nur in der Stille.“
Unterwegs trafen wir einen Bauern. Er stand am Feldrain und schaute auf seine schneebedeckten Felder.
Ich fragte meinen Vater: „Warum schaut der Bauer eigentlich seine Felder an? Da gibt es doch überhaupt nichts zu sehen. Alles ist verschneit.“
Vater antwortete mir: „Auch der Bauer wartet wie ich sehnsüchtig auf den Frühling. Dann wird er seine Äcker pflügen können, die bereits seine Ahnen urbar machten. Vor einigen Jahren habe ich diesem Bauern einmal im Frühjahr beim ackern zugeschaut, und da spürte ich das Blut der Bauern in mir, denn wie du sicher weißt, waren deine Urgroßeltern auch Bauern. Es ist mir klar, dass sein Beruf hart ist und viel Einsatz verlangt, aber trotzdem beneide ich ihn darum. Wenn das Korn sich geschmeidig im Winde biegt, dann wird er es mit seinen derben Händen prüfen. Und das ist das Glück und der Stolz der Bauern. Glück ist eine Sache des Herzens. So kann auch der Ärmste unter uns allen der Glücklichste sein. Man erkennt solche Menschen am strahlenden Glanz ihrer Augen. Es gibt viele Bauern, die gleichzeitig Dichter sind, denn ein Acker ist die Schule des Lebens. Er schenkt immer neue Offenbarungen.“
Bald hatten wir unser Haus erreicht. Vater stapfte im Garten durch den tiefen Schnee und ging zum alten, verschneiten Kirschbaum, den er einst als Kind mit seinem Vater beim Einzug ins Haus gepflanzt hatte. Er schnitt mit seinem Taschenmesser, das er immer bei sich trug, einige Zweige ab, die er wie ein kostbares Geschenk mit in sein Arbeitszimmer nahm. Dort stellte er sie in eine Vase und betrachtete sie mehrmals täglich, um zu sehen, ob schon Knospen sprießen. Vater war nicht wiederzuerkennen, als aus den Knospen eine herrliche Blütenpracht wurde. Er stillte seine Sehnsucht nach dem Frühling, der ihm schon ins Herz lachte, mit diesem leuchtenden Weiß.
Nun dauerte es nicht mehr lange, bis die Schneeschmelze einsetzte, die ersten Schneeglöckchen aus dem Boden wuchsen und der Frühling mit riesigen Schritten kam und den Winter endgültig verdrängte.
Ich danke es meinem naturverbundenen Vater, dass er mich lehrte, dem Lied des Waldes zu lauschen. Ich bin nun selbst im reifen Mannesalter. Als Kind verstand ich seine Worte noch nicht, heute verstehe ich sie jedoch sehr gut.
Der Wald ist für mich eine stille Quelle, die mir nach wie vor Kräfte schenkt, um in diesem harten Alltag zu überleben.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte ist aus dem Buch „Ein hungriger Bär tanzt nicht",
erschienen im Geest-Verlag. ISBN 3-937844-78-3
Illustration: Franziska Kuo.