Roter Samt
Wer die Wahrheit nicht weiß,
der ist bloß ein Dummkopf.
Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt,
der ist ein Verbrecher.
Bertolt Brecht
Prolog
Fröstelnd schlug er den Kragen seines regenfeuchten Trenchcoats hoch. Schuld daran war nicht das Wetter. Es war die innere Kälte, die von ihm Besitz ergriffen hatte, Die Vergangenheit, von der er glaubte, sie mit ihrem Geheimnis ins Grab gesenkt zu haben, hatte ihn eingeholt.
Der Regen war weiter gezogen und hatte dem ohnehin kühlen Maitag einen weiteren Temperatursturz beschert. Die Uhr des Roten Rathauses schlug. Er zählte die Schläge. Es war 22,00 Uhr.
Die dunkle Wasseroberfläche der Spree, die sich unter ihm im Licht der Straßenlaternen abzeichnete, bewegte sich kaum. Hinter ihm
fuhren in unregelmäßigen Abständen Autos mit einem schmatzenden Geräusch über den nassen Asphalt der Mühlendammbrücke. Der abendliche Verkehr hatte sich beruhigt. Ungewöhnlich für Berlin. Vielleicht trug das Wetter eine Schuld.
Die Gedanken kreisten in seinem Kopf. Ohne Anfang, ohne Ende. Was sollte er tun? Er hatte sie geliebt, später gehasst ... nein, er hatte sie immer geliebt. Und doch hatte er ihr so großen Schmerz zugefügt. Einen größeren als der andere ...
Er verließ die Brücke und irrte ziellos durch die Straßen. Als er endlich stehenblieb, blickte er sich verwundert um. Wie war er nur hierher gekommen? Diese Kopflosigkeit passte nicht zu ihm. Entschlossen winkte er
einem sich nähernden Taxi und ließ sich nachhause fahren. Dort angekommen wog er die Optionen ab, die er hatte, um das zu bewahren, was er tief in sich verschlossen, was ihn gequält hatte, was ihn zu dem werden ließ, der er heute war. Ein Mensch ohne Bindungen, ohne Freunde, aber mit einer glänzenden Fassade. Flüchtig zog ein kaltes Lächeln über sein Gesicht als er an die dachte, die glaubten, dass sie seine Freunde wären.
Bis vor drei Stunden war er sich noch sicher gewesen, dieses Leben, von ihm konstruiert und durchgeplant, weiterführen zu können. Es war ein Schock als die Erkenntnis sich Bahn brach, dass möglicherweise auch andere wussten, was nur er zu wissen
glaubte. Nur mühsam war es ihm gelungen die Fassung zu bewahren. Doch vielleicht war es noch nicht zu spät. Das Ergebnis zu dem er kam erschreckte ihn nicht. Er würde töten um sein Geheimnis zu wahren.