Aus aktuellem Anlass - Randbeitrag - Forumbattle 43
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Der Tag erwachte mit einem Lächeln. Die Sonne schickte es mit ihren ersten zarten Strahlen auf die Glasfassade des Flughafengebäudes. Sofort schienen Kälte und Einsamkeit der Nacht zu weichen.
Noch etwas benommen erhob sich Jill aus der Ecke, in der sie, auf ihrem dicken Rucksack hockend, die vergangenen Stunden verbracht hatte. Sie schlenderte zum Starbucks-Schalter hinüber. So, erst einmal einen großen Cappuccino mit Haselnuss, ihr Lieblingsgetränk. Er würde die Lebensgeister
wecken. Vielleicht wäre dann auch ihr Kopf klarer und sie sähe ein Licht am Ende des dunklen Tunnels.
Der gestrige Abend hatte ihr bisheriges Leben, von dem sie glaubte, es laufe glatt und vorbestimmt wie der Weg, der einst zu ihrem Elternhaus führte, ab, vollkommen aus den Fugen geraten lassen.
Nicht Jill, die in den letzten Monaten fast an die Grenzen ihrer physischen Belastbarkeit stieß und für den Job als Aufsichtsratsvorsitzende sogar noch ein Philosophiestudium absolvierte, wurde zur ersten Frau des riesigen Chemie-Imperiums gekürt, sondern Maurice Legrant, der kleine Franzose, ein unscheinbarer Wicht, dessen brillenverziertes Antlitz weder Ideenreichtum
noch Intelligenz widerspiegelte. Beides schien Jill unabdingbare Voraussetzung für diesen Job zu sein. Sein einziger, nennenswerter Vorzug ihr gegenüber bestand wohl im Sexus, von dem sich die Mehrzahl der meist männlichen Stimmberechtigten hatte leiten lassen, wieder einmal.
Verzweifelt und weinend hatte sich Jill nur noch danach gesehnt, in Arthurs Armen Trost und Verstehen zu finden.
Konnte etwas noch schäbiger sein, als den Mann ihrer Träume, mit dem sie ihr ganzes weiteres Leben zu teilen gedachte, innig vereint mit ihrer besten Freundin vorzufinden?
Sicher, das gab es wohl tausendfach auf der Welt, doch für Jill war dieses eine Mal
Weltschmerz einfach einmal zu viel.
Ohne auf Arthurs gestammelte Entschuldigung zu hören hatte sie wortlos den riesigen Rucksack gepackt, ihren Reisepass ergriffen und ein Taxi zum Flughafen gerufen.
Nach der durchwachten Nacht war es ihr immer noch nicht klar, wohin die Reise gehen sollte, nur fort, weg, ganz weit weg. Wieder liefen ihr bei dem Gedanken an gestern die Tränen. Schniefend wischte die junge Frau sie mit dem Ärmel ab und kramte, als das nichts half, in den Taschen des dicken Rucksackes nach einer Tempo-Taschentuch- Packung.
Ganz unten fühlte sie etwas Hartes und zog zu ihrer Verwunderung ein Kinderbuch mit dicken Pappseiten heraus. Richtig, ihr altes
Tierbuch über die afrikanische Savanne. Unter einer vergoldeten Sonne schritten stolze Giraffen, Elefanten bewegten sogar den Rüssel und Zebras stampften durch hohes Gras. Sie hatte ihrer kleinen Nichte bei ihrem letzten Besuch in San Francisco daraus vorgelesen und die Kleine war von den farbenfrohen Bildern genauso begeistert wie einst Jill. Gemeinsam träumten sie von dem großen fernen Kontinent.
Das war es doch, das Ziel ihrer Sehnsucht! Jill sah es plötzlich deutlich vor sich. Sie blinzelte zur großen Anzeigetafel hinüber. Tatsächlich, in 6 Stunden ging ein Flug nach Mombasa. Jill flog förmlich zum Schalter, hoffentlich war es für die Buchung noch nicht zu spät.
Das Gesetz von Notwendigkeit und Zufall - Jill kannte es aus ihrem Philosophiestudium. Ihre Flucht gestern war absolut notwendig, doch jenen jungen Mann, der im Flieger den Platz neben ihr beanspruchte, hatte ganz zufällig wohl der Himmel geschickt. In sein sonnengebräuntes Gesicht hingen wild Locken von der Farbe eben abgeernteter Weizenfelder. Ohne rechten Erfolg versuchte er, die widerspenstige Haarfülle mit der Hand zu bändigen, wobei Jill zwei Augen musterten, deren Blau der berühmten Isländischen Lagune entnommen schien.
Nach 10 Stunden Flug wusste Jill, dass Phillipp eines der angesehensten Bankhäuser Hongkongs führte, Afrika jedoch der Traumkontinent für ihn war, ein Eldorado für
Abenteurer, Aussteiger und Urlauber.
„Du findest dort einfach Möglichkeiten, die dir sonst nirgendwo auf der Welt geboten werden, du wirst schon sehen.“
Nach der Landung beim Check out hatte Phil ihr ins Ohr geflüstert: „Ich könnte meinen Traum auch mit dir teilen.“, und Jill verspürte, gegen ihren Willen, wieder dieses Ziehen im Bauch. Eigentlich hatte sie sich derartige Gefühle verboten. Doch Gott sei Dank waren Arthur und ihre beste Freundin buchstäblich Lichtjahre entfernt, für Jill begann ein neues Leben.
Ohne Zögern folgte sie Phil in dessen Suite. Eine himmlische Woche lang durchstreiften die beiden Mombasa, diesen afrikanischen
Moloch und erlebten doch Romantik pur. Jill ließ sich von portugiesischen Prachtbauten, dem lebhaften Markttreiben mit dem Duft unzähliger Gewürze und kilometerlangen weißen Sandstränden verzaubern.
Phil schenkte ihr unglaublich zärtliche Stunden und eines Abends eine Kette mit einem schneeweißen Elefantenanhänger.
„Dein Glücksbringer soll er ab jetzt sein, er ist aus weißem Gold.“
Auf ihrem Spaziergang durch die Stadt küssten sie sich unter dem großen Torbogen aus nachgebauten Elefantenstoßzähnen.
„Das ist Afrikas Gold.“
Phil deutete auf die geschwungenen Zähne.
„Warte, Kleines. Nächste Woche beginnt das
ganz große Abenteuer. Ich zeige dir etwas, das du so noch nie erlebt hast.“
Voller Ungeduld erwartete Jill die Überraschung. Zunächst flogen sie mit einer Cesna zu einer eleganten, direkt in Kenias Savanne gelegenen Lodge.
„Morgen gehen wir zusammen auf Jagd, ich bin ein ausgezeichneter Jäger“, ließ Phil die Bombe platzen. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich des Mädchens. Nicht, dass sie etwas gegen das Jagdwesen an sich hatte, doch irgendetwas hier schien anders zu sein.
Am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang stießen sie auf eine Gruppe bewaffneter Männer, Weiße und Afrikaner. Schon bei deren Anblick packte Jill das
blanke Entsetzen. Jäger hatte sie sich bisher anders vorgestellt. Diese hier waren mit modernsten Schnellfeuergewehren und Unmengen von Munition ausgerüstet. Solche Männer sah man anderswo nur bei Kriegseinsätzen in Krisengebieten.
Phil erhielt ebenfalls ein Gewehr und Munition, dann setzte sich der Tross in Bewegung.
Nach etwa 20 Minuten Fahrt hielten die Fahrzeuge, die Gruppe versteckte sich im hohen Steppengras. Sie brauchten nicht lange zu warten. Eine große Elefantenherde kündigte lautstark ihr Kommen an.
Phil eröffnete das Inferno. Er schoss als erster, die Leitkuh brach getroffen zusammen,
dann ein Muttertier mit Jungem. Panisch rannte die Herde durcheinander, einige junge Bullen wollten sich mutig dem Feind entgegen werfen und liefen direkt in den Feuer speienden Tod. Trompeten, Schreie, Geknatter der Gewehre - ohrenbetäubender Lärm, der Jill fast den Verstand raubte, ihr den Atem nahm und Tränen der Verzweiflung in die Augen trieb.
Endlich war Stille. Sogar die Sonne schien vom aufgewirbelten staub des Gemetzels dunkler geworden. Die Männer schritten mit Macheten auf die toten Elefanten zu, brachen ihnen die Stoßzähne heraus und verluden sie auf die Fahrzeuge.
Jill ging langsam auf die Leitkuh zu, die ganz in ihrer Nähe nieder gebrochen war. Als sie neben dem Tier stand, bemerkte sie, dass es noch lebte. Mit Tod geweihten Augen sah es die Menschenfrau an, als wolle es fragen: „Warum nur?“ Dann rollte eine Träne aus dem Auge des Elefanten. Jill legte ihre Hand auf den Kopf des Tieres und weinte ebenfalls. Sie stand und weinte, bis es seine Erlösung gefunden hatte.
„Wie kannst du so grausam sein?“ fragte Jill im Hotel den Mann, der ihr mehr als eine Woche lang wie ein Halbgott erschienen war.
„Was glaubst du denn, wie begehrt Elfenbein in China ist und wie viel die Hongkongchinesen mir dafür bezahlen. Da
kommt selbst der Goldpreis nicht mit. Ich sagte doch, das Gold Afrikas.“
Jill riss sich die Kette mit dem kleinen Elfenbeinelefanten vom Hals und warf sie ihm vor die Füße. Dann packte sie wortlos ihren Rucksack und verließ die Suite.
In den Minuten dort draußen war ihr weiterer Lebensweg entschieden worden.
Sie würde in Afrika bleiben.
Afrika hatte unzählige Probleme zu bewältigen, Hunger, Korruption, fehlendes Trinkwasser, mangelnde Bildung, Krankheiten. Aber es ging auch um die Elefanten. Ohne unseren Einsatz, ohne Schutz wird es das Wappentier Afrikas, das den Afrikanern Stolz, Kraft und Stärke
verleiht, bald nicht mehr geben, dachte sie.
Sie würde eine Aufzuchtstation für verwaiste Jungtiere aufbauen.
Hier war ihr Platz, das Ziel ihrer Sehnsucht.
Nachbemerkung
Im vergangenen Jahr wurden in Afrika etwa 40.000 Elefanten abgeschlachtet, ein großer Teil auch in staatlichen Reservaten. Der Bedarf an Elfenbein ist in China in den letzten Jahren wieder sprunghaft gestiegen, nachdem in den 90er Jahren der Elfenbeinhandel und damit das sinnlose
Abschlachten der Tiere eingedämmt werden konnte.