wilder wein
Ausgerechnet heute muss es wie aus Kübeln schütten. Der Regenschirm war nach wenigen Metern bereits verbogen. Es sieht jedenfalls nicht danach aus, als würde es je wieder aufhören. Der Wind scheint auch nicht nachzulassen. Bin froh, dass ich wenigstens den dickeren Mantel gewählt habe. Der Juni kann ganz schön kalt sein.
Irgendwie bin ich gar nicht so fertig, wie ich ursprünglich gedacht habe. Schließlich hatte ich doch einige Tage Zeit, alles zu realisieren. Richtig überraschend war es ja nicht, aber wenn
es soweit ist, dann trifft es einen mit voller Härte. Mich jedenfalls.
Den einen oder anderen Erbschleicher, der auch hier steht, mit Sicherheit nicht. Aus diesem Grund werde ich auch nicht die Rede halten. Die Wichtigtuer haben sich darum gerissen, als würde sich das positiv auf das Testament auswirken.
Ich danke dir still. Ich danke dir in meinen Gedanken. Das hörst du eher, als die geheuchelten Wortspiele der anderen Verwandtschaft. Das Gefühl hatte ich schon seit jeher bei dir, dass du die Gedankenwelt nonverbal verstehen kannst. Der Dank zwischen uns wurde selten ausgesprochen, vielmehr gespürt.
Natürlich gab es ein „Danke“, aber nicht als Floskel. Es wurde genauso ehrlich gemeint, wie die stets unterschiedlichen Antworten auf die Frage: „Wie geht´s Dir?“ Schon allein die Frage war Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung.
Wahrscheinlich konnten wir genau deswegen furchtbar kindisch sein und im nächsten Augenblick ganz ernsthaft über ein Thema reden, das uns – oder einem von uns – wichtig war. Der „Kirschkernspuckmeisterschaft“ im Vorgarten konnte praktisch nahtlos eine hitzige Diskussion in Bezug auf meinen Hang zum Schulschwänzen folgen. Das war auch später noch so – nur die
Themen haben sich verändert. Du kanntest zum Beispiel mein berufliches Umfeld nicht persönlich, aber hast an mir und meiner Ausstrahlung gemerkt, ob ich noch „normal“ oder schon „abgehoben“ bin. Du hast es mir jedenfalls des Öfteren sehr direkt gesagt. Auch wenn ich dadurch immer wieder konsterniert war – es war – zumindest für mich – die richtige Art und Weise.
Und dann bist du aufgestanden, hast die Spielkarten rausgenommen, und wir haben uns bis in die frühen Morgenstunden die Finger wund gespielt. Es war – wie soll ich es sagen – immer eine geniale Ausgewogenheit
vorhanden.
Deine Vergleiche werde ich vermissen. Du weißt, ich war öfters von Zweifeln geplagt. Du hast stets gemeint, ich soll es wie der wilde Wein machen. Er sucht sich auch seinen eigenen Weg. Aber er braucht auch ein wenig Unterstützung – eine Mauer oder ein Gerüst - dass er klettern und sich entfalten kann.
„Mach es so wie der Wein, wenn er nicht mehr weiter kann, sucht er sich einen alternativen Weg. Meistens sehr rasch. Das ist gut so, denn Entscheidungen sollen immer schnell fallen, sonst liegt´s Dir ewig im Magen herum.“ Ich war ein paar Mal ganz gezielt bei dir, damit du mir bei Entscheidungen hilfst. Du hast es
eigentlich immer geschafft mich zu unterstützen – ganz ohne Ratschlag. „Bist Du ehrlich zu Dir selbst, findest Du schon den richtigen Weg“ – eine Art Credo von dir. Es hat mir einfach schon genützt, wenn ich neben dir auf der alten Bank im Garten sitzen konnte und wir bei einem Kaffee oder später bei einem Bier geschwiegen haben. Übrigens, deine alte hellgrüne Blechkaffeekanne habe ich nun bei mir zu Hause stehen. In der Küche – am Fensterbrett. Manchmal waren es nur wenige Worte, die mich zur Vernunft gebracht haben oder die den Ausschlag gegeben haben, dass ich doch auf meine innere Stimme gehört habe.
Es geht nun wieder ins Freie. Die Wetterlage hat sich leider nicht wirklich geändert. Ich werde die anderen vorgehen lassen. Denn es herrscht jetzt schon ein Gedränge darum, wer direkt hinter dir gehen darf. Schätze, dass wir in ein paar Minuten alle komplett durchnässt sein werden.
Es stimmt ja, der Veitschi zeigt es einem vor, denn Entfaltungsmöglichkeiten gibt es zur Genüge. Auch er muss erst austesten, wo er wirklich Halt findet. Ob er in die Höhe oder eher in die Breite wachsen will und kann. Und die als erste eingeschlagene Richtung muss nicht immer die richtige sein. „Schau,
jedes Blatt erfüllt seinen Zweck, und nicht alle sind ganz oben. Ist deswegen ein Blatt das ganz unten wächst nicht so bedeutend?“
Immer wenn Du einen Satz mit „Schau“ begonnen hast, wusste ich, dass es nun für mich besonders wichtig wird aufzupassen. Es ging dabei jedes Mal darum, einen Ansatzpunkt zum Nachdenken zu erhalten.
Wir stehen nun direkt vor deiner neuen Unterkunft. Ich kann den Pfarrer nicht verstehen, aber das ist nicht so wichtig. Der Regen peitscht noch immer. Wie praktisch für alle, die ganz vorne stehen. Man kann nämlich nicht
erkennen, ob sie tatsächlich heulen oder ihnen einfach die Wassertropfen von oben ins Gesicht fallen. Wahrscheinlich lässt sie der Wind tränen.
Manchmal muss man auch den wilden Wein ein wenig zügeln, ihn ein wenig zurecht stutzen, damit er wieder neue Triebe ansetzen kann oder nicht bei den Fenstern reinwächst. Aber auch, wenn er andere zu „erwürgen“ droht, muss man ihn in seine Schranken weisen. Eine der wenigen Male, wo ich dir ein wenig helfen konnte, war, als dich Maria für immer verlassen hatte. Ob dies auch der Auslöser für deine Krankheit war? Gefühle konntest du immer zeigen. Das
war kein Problem, aber dass du von einem Tag auf den anderen das Haus mit dem Garten verkaufen wolltest. Genau das, was dir immer so viel bedeutet hat. Es war ein ganz ruhiges Gespräch mit dir. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, aber am Ende hast du doch alles behalten. Natürlich war auch eine Portion Egoismus meinerseits dabei. Wo wäre ich dann mit dir gesessen und hätte dich anraunzen können?
„Du hast Recht, ich hab hier ein Paradies. Allein der Veitschi beheimatet eine so wertvolle Mini-Fauna. Darum werde ich mich wohl auch in Zukunft lieber selber kümmern. Weißt Du, manchmal hab ich das Gefühl, ein wilder
Wein ist oft menschlicher als die meisten Leut´“, hast du bei einem unserer letzten Treffen von dir gegeben. Ich habe ein wenig gebraucht, um diesen Satz wirklich zu verstehen.
Die Trauerfeier dürfte sich nun langsam dem Ende zuneigen. Ich kann erkennen, wie dir ein paar von den Pharisäern Blumen nachwerfen. Langsam setzt sich der Tross in Bewegung, und ich komme dir in kleinen Schritten ein wenig näher. Rein physisch. Ich bleibe jedoch heute nicht mehr lange. Meine Schuhe sind mit Wasser gefüllt, mein Mantel ist getränkt. Mir ist verdammt kalt geworden. Und du hörst meine Gedanken
sowieso, egal, ob ich hier stehe oder woanders bin. Wenn nur mehr diejenigen dich besuchen, die dich wirklich verstanden und geschätzt haben, dann ist es an der Zeit, dass ich dir einen Veitschi pflanze.
Die ersten Triebe habe ich schon zu Hause. In deiner alten, hellgrünen Blechkanne.