Yoann Petit hatte an einem sonnenlosen Nachmittag allein einen kurzen Spaziergang unternommen. Es war Anfang September und die grauen, dichten Wolken durchkrochen eintönig durch das farblos, verwaschene Leinen des kalten herbstlichen Himmels. Die kleinen schwarzen Körper der sich einzeln hin und her werfenden Wandervögel blitzten unheimlich da oben und der graue Filzhut wippte kaum merklich auf dem silbergrauen Kopf des rasant ausschreitenden Mannes. Es nieselt, dachte er und streckte seine Hand vor. Winzige Tropfen bedeckten
seine breite Handfläche. „Der Frosch, der Frosch…“, murmelte er und schmunzelte.
Er dachte in dieser Minute nicht an seiner Frau, beziehungsweise waren seine konzentrierten Gedanken so versteinert und einseitig, dass seine Gemütsbewegungen kaum zu erkennen waren. Sein gestörter Geist führte ihn weiter, bis er sein Haus und seine Kirche nicht mehr sehen konnte. Das Steppengrass wurde immer rauer und länger und es hakte sich immer mehr an seinen Hosen fest. Dickflüssiger Schlamm, so schmierig und kühl, sickerte durch seine Schuhe und verbrannte die Füße. Sein gekrümmter
Mund, geöffnet und amorph, schnappte nach heftigem unerbittlichem? Luftstrom.
Es war gegen acht Uhr und die dunkelnden Umrisse der Klippen kamen langsam in Sicht. Das Geräusch der sprudelnden Wellen berühre sein von der stimmlosen Steppe betäubtes Gerücht und er regte sich und eilte. Er verspürte mehr Kraft. Gewiss, alles was das Ende erwartet, all vermögend und doch kraftlos und angst beklommen ist. Jeder menschliche Wunsch, der aus einer Tragödie entstanden ist, kann nur ein leichter Hinweis auf die Verbesserung sein, letztlich sucht man durchweg eine zweite Tragödie, um den
vorausgegangenen Verdruss zu verneinen. Die Blockade des menschlichen Geistes. Alles, was einem passiert, generiert nur einen Wunsch, so unüberwindlich und qualvoll, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als nur diesen Wunsch baldmöglichst zu erfüllen.
Die Felsen rückten heran. Je unheimlicher und ominöser sie schienen, desto unwiderstehlicher forderten sie ihn auf. Jeder Impuls, jeder allergeringste Windstoß kam ihm wie ein Orkan vor, jedes leises Rascheln des Sandes oder das Geklapper der Kiesel schien ein Seebeben zu sein.
Endlich stand der Mann da, wo ein
anderer Mensch nie in seinem Leben stehen könnte. Die Unmöglichkeit des Aufenthalts, die Lust selbst und der Frieden würden für jeden unbegreiflich und unklar scheinen. Jenes Unverständnis, das man den Irrglauben nennt. Auch wenn es möglich wäre, jedes einzelne Aufschwingen, jede Tat des Menschen zu erklären, dadurch der Schmerz der Versuchskaninchen zu verlängern, ist man kaum imstande irgendwie von Nutzen zu sein. Der Mann fühlte die Härte des Steines auf dem er stand und sah, wie dünne, kotige Rinnsale durch die weiße Fläche liefen.
Das ist mein Schmutz, dachte er. Der zunehmende Regen peitschte sein
leichenblasse Gesicht. Er nahm den Hut langsam ab und legte ihn auf den Stein. Seine kirchlichen Überzeugungen waren so in ihm verwachsen, dass er es zwar dachte, ohne es aber zu wissen:
„Diesen Hut brauche ich höchstwahrscheinlich nicht mehr, auch jetzt nicht, wenn ich hier im dem Regen stehe. Ich behalte nur den Mantel, weil ich nur einen komischen Schlafanzug drunter an hab. Ich kann auch meine Schuhe hinterlassen. Von Regen gewaschen, sehen sie ganz neu aus.“
So dachte der Pfarrer Yoann Petit unbewusst, während er sich am Rande des Abgrunds stehend, entkleidete. Dicht an der Kante. Was man über Petits
Person sagen kann sind nur ein paar wenige Worte. Wenn wir ein Stück in der Vergangenheit des Mannes herumstöbern würden, so würden wir sehen, dass der Man aus einer ärmlichen Familie stammte und dass er kurz nach seiner Religionsschule nach T. gefahren ist, um dort sein Dienst fortzuführen. Ein paar Jahre später machte er eine gute Partie. Seine Frau, eine gewisse Janin Dupit war eine gebieterische Frau, die aber auch eine gute Hilfe für ihn war. Sie hatten keine Kinder und gaben sich dem Kirchenleben mit Leidenschaft hin.
Nicht wegen des Todes seiner Frau war er jetzt hier. Die unverschämte Ewigkeit
war, dass es seine letzte Predigt, die seit kurzem bei einem Fremden ausgelacht wurde, der echte Grund zu sein schien. Zumindest in dieser Minute dachte er an den Jüngling, seine Überzeugungen und seine naive Gerechtigkeit. Und nun fühlte er sich abgestumpft und dumm. Er wusste genau, was das alles bedeutete. Der Witz des Denkens. Und trotz allem wusste er, dass der junge Fremde nur ein Kind war. Aber diese ärgerliche, unbequeme Zwickmühle schien ihm so schrecklich und abstoßend zu sein, dass er die ganze Kirchengemeinde nicht mehr sehen wollte. Ein Verräter war er, ohne Gewissen und Gerechtigkeit.
Endlich war alles fertig. Mit einem Blick
in die Ferne werde ich sterben, dachte er. Langsam überschritt er den flachen weißen Stein und hielt an. Dann hob er seinen Kopf an und betrachtete aufmerksam die jenseitigen rotbraunen Felsen.
Was ist das? Was … ist …das?
Auf der anderen Seite der Kluft, wo eine schöne breite Drossel wuchs, stand ein kleines Mädchen. Sie näherte sich langsam dem Rand. Ihr winziges schwarzes Kleid flatterte um ihre dünnen Beine herum. Krampfhaft versuchte sie ihre pechschwarzen Locken vom Gesicht wegzuschieben. Yoann strengte sich vergebens an, einem Mann oder eine Frau unter dem Drossel
zu erblicken und sein Herz schlug immer heftiger und Grauen packte ihn an, als er begriff, dass das Kind allein war. Wie angewurzelt stand er oberhalb der Schlucht und starrte auf das stehende Mädchen und man konnte hören, wie da unten tief und innig die sämigen gnadenlosen Wellenberge stark und schallend aufeinanderstießen. In diese Minute sah Yoann sich selbst. Widersinniger Abglanz des ganzen Geschehens. Ein verständnisloses Kind, deren linkische Bewegungen gar nichts vom Verständnis hatten und deren Wünsche weit weg von hier waren, bessere, schönere, unbewusste Begehren.
Seine Beine konnten wieder gehen und die Last, die er mit seinen ganzen Körper fühlen konnte, fiel von ihm ab. Und er dachte es sei eherne Schale?, die aus der Wärme auf einen Schlag abplatzte. Seine Lungen vergrößerten sich und er schluckte wieder die eisige Luft des stürmenden Meeres.
Ein letzter Sprung. Mit beiden Händen umklammerte Yoann das Mädchen und weinte. Barfüßig und verschwitzt presste er das Kind an sich an und sein zerzauster Kopf zitterte von leisem dumpfen Geschluchze und schwere große Tropfen sprangen aus seinen Augen heraus, salzig wie die Spritzer des
mächtigen Ozeans. Nachdem die Nacht hereingebrochen war , ergriff Yoann den betagten Reisekoffer, eine ungeöffnete Flasche Burgunder und das Mädchen, welches , klein wie eine Morchel war, und fuhr weg.
Das eigene Geständnis des Mannes zu sich selbst war eine Evidenz für ihn gewesen. Das missliche Bedenken würde morgen das Ende bedeuten. Obwohl er wusste genau was das Ende für ihn hieß, wollte er auf keinen Fall wissen, was das alles für seine Tochter bedeuten würde. Und letztendlich wurde er sich von dem Umstand überzeugt, wenn er einen zerdrückten Zettel in ihrer Tasche fand und zu seiner enttäuschter
Verwunderung das Nächste ließ: Manon, 1776.
Die Abscheu, die er in jener Minute spüren konnte, zu dieser krummen und ungefälligen Handschrift und diesen flegelhaft blasierten Wörter, die nichts von Sorge und…Liebe in sich hatten. Und außerdem die respektlose Hudelei, die jedes mögliches amüsantes Geburtsdatum ausschloss, beleidigte ihn. Und zu seiner größten Überraschung fühlte er das, was er daüber hinaus nicht erwarten konnte: Die Liebe zu seinem Kind.
Gemütlich und ruhig war es in der Kutsche zu sitzen, wenn es rüttelte und schaukelte und die beiden ermüdeten
Gesichter nach der frischen, südlichen? Luft schnappten. Sie passierten die Dörfer. Fremd und beunruhigend schienen die glanzlosen Lichter der Fenster, wie für immer verlassene Bekannte , die niemals wie es sich gehört bekannt waren. Auf einmal hatten sie Angst, als sie sich den Häusern näherten. , aber reißender Sprung der Droschke überquerte die Gärten und noch lange konnten die beiden der würzige Geruch der Kümmel, Tabak oder der Lichtnelken bei sich fühlen.
Fortsetzung folgt.... hoffentlich:-)