"Erziehung" ist veraltet - "Schutzbedingungen für individuelle Entwicklung" ist die Zukunft
Da dachte ich, mir endlich mal bei etwas sicher zu sein und prompt schwankt meine Meinung erneut. Seit einem guten Jahr war ich überzeugt, dass eine normale Schulstruktur für meinen ständig grenzenaustestenden Sohn das Beste wäre, obwohl meine ursprüngliche Vorliebe eher den alternativen Konzepten, konkret der Waldorfpädagogik galt. Ich dachte, das passt nur für spezielle Kinder, aber mittlerweile denke ich, dass aus jedem Kind das Beste mit Hilfe dieser Pädagogik hervorgeholt werden kann,
weil das Individuum so geschützt und gefördert wird, wie es individuell notwendig ist. Und diese Art der Pädagogik bzw. der Lernmethode widerspricht nicht dem Grundsatz, dass Kinder Struktur, Rgeln und Grenzen brauchen. Nein, ganz im Gegenteil. Die gibt es in der Waldorfpädagogik auch.
Ich war und bin mir sehr sicher, dass es für mich die beste Möglichkeit gewesen wäre, meine Stärken und Talente, ganz allgemein mein Selbstbewusstsein schon damals erkennen zu können, nicht erst jetzt, nach einem Jahrzehnt Qual und Suche. Mir wurden im Laufe der Schulzeit immer wieder meine Schwächen aufgezeigt, nicht aber meine
Fähigkeiten. Natürlich ist aus mir "was geworden", aber was hätte aus mir werden können, wenn ich all das bekommen hätte, was ich mir gewünscht habe bzw. wenn ich die hätte sein dürfen, die ich immer war?! Ich wäre vor allem viel glücklicher und ausgeglichener gewesen. Ich musste mich verstellen - zwei Jahrzehnte lang, um endlich zur Erkenntnis zu kommen, dass ich, so wie ich bin, genau richtig bin und extrem viel positiven Beitrag für die Gesellschaft leisten kann.
Darüber nachzudenken, "was wäre, wenn", wäre vergeudete Zeit. Es ist nicht mehr zu ändern, aber ich kann das Beste aus dem machen, was ich habe.
Und das ist nicht besdonders schlecht. Und ich kann etwas an dem Weg und den Lebensbedingungen meines Sohnes ändern, um ihm die bestmögliche individuelle Entwicklung zu gewährleisten, zumal er mir als Kind sehr ähnelt.
Mein Spitzname in einem meiner Kinderalbem war "Unser kleiner Haustyrann". Heute weiß ich, dass dieses fordernde Verhalten eher ein Ergebnis davon ist, den Bedürfnissen des Kindes nicht ganz gerecht geworden zu sein. Nämlich Gesehen werden, das Gefühl wichtig und gebraucht zu sein. Kinder sind nicht umsonst so fordernd. Sie wollen Aufmerksamkeit. Und wenn ich
keine positive Aufmerksamkeit bekomme, verhalte ich mich einfach so negativ, dass ich sie auf diese Weise bekomme. Egal, wie - hausptsache, ich werde wahrgenommen.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Aufenthalt meines Sohnes bei seiner Oma - meiner Schwiegermutter. Als ich sie kennenlernte und auch die Jahre danach, dachte ich immer, wie schön es für mich gewesen wäre, wenn ich so eine fürsorgliche, interessierte und freundliche Frau an meiner Seite gehabt hätte. Eine, die mich nimmt, wie ich bin - wertschätzend und dazu noch auf Augenhöhe. Heute sehe ich das etwas anders, weil das "Overprotect-Verhalten"
auch einige Nachteile, wie z.B. Unselbstständigkeit hat, was ich jetzt an meinem Mann beobachte. Aber jedesmal, wenn Viktor wieder nach Hause kam, war er ruhig und entspannt, weil er die Aufmerksamkeit bekommen hatte, die er brauchte.
Aus der Lerntherapie weiß ich, dass gerade bei so aufgedrehten Kindern die Aufmerksamkeit fehlt - ADHS. Um diese Verhaltensauffälligkeit zu regulieren sind allerdings keine Medikamente notwendig, die stilllegen, sondern kompetente Pädagogen, Lehrer und Mitmenschen, die dem Kind die nötigen Reize und den angemessenen Schutz bieten, den sie brauchen, um ihre Persönlichkeit selbst
entwickeln zu dürfen. Das Spiel mit dem Kind dient als Mittel zum Zweck. Ich versuche über das Spiel an die eigentliche Persönlichkeit des Kindes mit all seinen Bedürfnissen, Stärken, Ängsten und Schwächen heranzukommen und es ihm selbst bewusst zu machen. Eine qualitativ hochwertige Stunde Beschäftigung ersetzt den ganzen Tag nerviges Gefordere. Umso mehr ich an ihn herankomme und ihm die Aufmerksamkeit schenke, ja vielleicht seine Fähigkeiten herauskitzle, desto satter wird er und entdeckt die Welt voller Neugier und Motivation. Das sind die Grundeigenschaften jedes Kindes. Sie wollen lernen und entdecken. Alle
Kinder, die keine Lust mehr haben, sich weiterzuentwickeln, sind Produkte unserer bremsenden und fremdbestimmten Erziehung/Pädagogik/Führung. Kinder sollen funktionieren, sich anpassen. Sie dürfen nicht sein, wie sie sind. Deshalb bekommen sie Medikamente, die ihr Selbst verändern. Was früher mit Prügel erreicht wurde, passiert heute mit "Ritalin". Lasst die Kinder so, wie sie sind. Natürlich brauchen manche mehr Aufmerksamkeit. Aber da sollte sich etwas an dem Schulsystem ändern - an den Pädagogen und auch bei der Einstellung der Eltern. Es gibt genug Lehrer und Kindergärtner, die sehr
kompetent sind, nicht nur fachlich, sondern vor allem sozial und methodisch. Sie wollen den Kindern etwas beibringen und gehen individuell empathisch auf sie ein. Und diese motivierten Lehrer werden durch das Bildungssystem, dem Lehrplandruck, gebremst - demotiviert. Sie resignieren und fangen an, Dienst nach Vorschrift zu machen. Und diese Einstellung vernichtet jeden Spaß am Lernen.
Angefangen hat alles mit Viktors Geburt - logischerweise. Und meinen eigenen Konflikten, die ich bis dahin noch nicht geklärt hatte. Ich rätsele bis heute, ob es mein Verschulden aus den ersten beiden Lebensjahren ist, dass er so ist wie er
ist. Anhänglich, ängstlich, fordernd, grenzenaustestend - immer am Limit. Ich habe manchmal das Gefühl, den ganzen Tag nur "Nein" sagen zu müssen. Seitdem seine kleine Schwester da ist, fallen ihm noch verrücktere Sachen ein. Er war ein klassisches Schreikind. Ich war völlig überfordert, konnte ihn aber auch niemanden anderen überlassen, weil ich dachte, das kann niemand besser, als ich und außerdem braucht er seine Mama. In dieser Zeit war ich meiner Kinderärztin - eine gute Hexe - sehr dankbar, dass sie mich immer wieder bestärkte, in dem sie sagte: "Der braucht Grenzen". Und da haben wir den zweiten Aspekt, den Eltern meiner Meinung nach,
heutzutage nicht berücksichtigen. Das andere Extrem. Das Kind darf alles. Und übersteigt in seinem Verhalten auch die persönlichen Grenzen der Eltern. Das geht beim Schlafverhalten los und endet damit, dass der Erwachsene dem Kleinkind auf dem Klettergerüst für Schulkinder hinterherkrabbelt.
Ich war mir als Kind oft selbst überlassen und habe mich einerseits immer sehr verloren gefühlt, nicht angenommen und nicht richtig, so wie ich bin - dieses Gefühl erhielt ich von meinem Vater. Von meiner Mutter erhielt ich wenig Grenzen. Von ihr fühlte ich mich wiederrum schon angenommen. Aber was fehlte, war insgesamt
Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Interesse. Ich wusste, dass ich das bei meinem Kind anders machen würde. Und das tat ich. Was mir bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst war, versuchte mir meine Kinderärztin immer wieder klar zu machen - Grenzen setzen. Und es funktionierte. Ich wurde immer bestimmender und machte ihm klar, wer der Chef ist. Natürlich ging das nicht von heute auf morgen, es war ein jahrelanger Prozess. Es war vor allem ein Prozess, der hauptsächlich mit mir zu tun hatte. Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich allgemein der Chef über mein Leben bin. Nur ich allein bin für mich verantwortlich und kann alles an meinem
Leben so gestalten, wie ich es will. Natürlich hat jeder kindliche Erinnerungen, die vielleicht nicht ganz optimal waren. Aber es liegt an dem Erwachsenen selbst, diese Dinge als Erfahrung zu nutzen und es nun selbst anders zu machen. Und der Schritt von der gefühlten Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung mit der Sicherheit, dass ich das tun oder lassen kann, was ich möchte, ohne Jemanden gefallen zu müssen oder in irgend eine Schublade zu passen, machte es mir möglich, mein Kind so anzunehmen, wie es ist und ihm den Rahmen zu geben, den er braucht, um in Sicherheit groß zu werden und dabei alles zu erfahren zu können, was
er möchte. Nur mit dieser Erkenntnis, frei von allem - naja, fast allem sein zu können, kann er Selbstbestimmung lernen. Dazu gehört, dass er die unmittelbaren Konsequenzen seines Handelns bzw. Nichthandelns erfährt. Ich gebe nur das Geländer, an dem er sich notfalls festhalten kann. Das ist das Verantwortungs-gefühl, was er dabei erfährt.
Der Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Hüther erzählt in einem Interview von den Unterrichtsfächern "Verantwortung" und "Herausforderung" einer evangelischen Gesamtschule in Berlin. Da gehen die Kinder u.a. in Altersheime und lernen, für Jemanden da zu sein, etwas
weiterzugeben. Als Herausforderung nutzen die Kinder eine Woche Unterricht, um im Wald allein zu überleben. Das sind konsequente Lernmodelle für's Leben. Da reicht 1 Projektwoche im Jahr nicht aus. Studien haben ergeben, dass das Hirn am allerbesten über alle Sinne lernt. Prof. Hüter spricht auch davon, dass soziale Ausgrenzung und Beziehungsstörungen dieselben Hirnbereiche ansprechen wie körperliche Schmerzen. Die Aufmerksamkeit sollte sich also viel mehr auf den sozialen Bereich konzentrieren, als auf irgendwelche Bewertungen.
Im Kindergarten sagten mir die Erzieher immer wieder, dass Viktor einer der
wenigen sei, die hören würden. Ok, das ist ein Zeichen für gute Erziehung, habe ich mal irgendwo gelesen, wenn die Kinder in anderer Umgebung angepasst wären. Sobald Mama um die Ecke schaut, wird er frech, weil er sich sicher fühlt. Und so soll es sein. Er darf sich austesten. Er darf an Grenzen gehen. Aber er muss sie kennenlernen.
Ich war also der festen Überzeugung, ein ganz normales Schulsystem mit Frontalunterricht, Noten, Struktur, Grenzen wäre genau das richtige für ihn. Und da passiert es wieder. Das Schicksal spielt mir eine Person zu, mit der ich mich plötzlich so verbunden fühle in all unseren Weltanschauungen und
Erfahrungen. Rechtzeitig, ein Jahr vor Schulbeginn lässt sie das Wort "Waldorfschule" fallen und da ist es wieder um mich geschehen. Meine Unsicherheit kommt erneut auf und ich informiere mich ein zweites Mal. Einen Tag später führe ich ein Gespräch mit einer befreundeten, sehr kompetenten Grundschullehrerin, die mir von dem Hirnforscher Prof.Dr.Dr. Gerald Hüther erzählt, dessen Forschungsergebnisse sehr zur Waldorfpädagogik passen.
In meinem eigenen Leben vollziehe ich gerade grundsätzliche Veränderungen in Hinblick auf berufliche Tätigkeiten - ich habe endlich zu mir selbst gefunden und mache das, was mir Spaß macht.
Vorher war ich eine "Maschine", so wie es der Hirnforscher ausspricht. Das Schulsystem des 20. Jahrhunderts war darauf ausgelegt, aus Menschen Maschinen zu machen. Die Menschen haben zu Genüge bewiesen, dass Einzelkämpfer dazu im Stande sind, erfolgreich einen Beitrag für dieEntwicklung der Gesellschaft leisten zu können. Aber die Leistungsgesellschaft, in der jeder besser und erfolgreicher sein will, als der andere, kann so weiter keinen Bestand mehr haben. Wir rotten uns mit diesem Leistungsdruck selbst aus. Unsere Körper sind für diesen seelischen Stress nicht ausgelegt. Kreativität und gute
Einfälle kommen erst bei Langerweile, nicht unter Dauerstrom, wo der Körper nur noch funktioniert. Schon jetzt, Anfang des 21. Jahrhunderts ist unsere Gesellschaft von Unmengen körperlicher sowie sellischer Krankheiten befallen. Die wenigen Leistungsträger, die für den relativ hohen Standart unserer Gesellschaft sorgen werden dem Druck nicht mehr lange stand halten. BurnOut, Schmerzen, Krebs, Magengeschwüre. Es ist Zeit zum Umdenken.
Prof. Dr.Dr. Hüther berichtet in einem Interview von einem Gespräch mit BASF, in dem deutlich wurde, dass ein Chemiker allein nicht mehr ausreicht, um neue Produkte zu entwickeln. Es braucht
ein kompetentes Team mehrerer Spezialisten mit unterschiedlichsten Begabungen/Talenten, um die Gesellschaft letztlich weiterzubringen. Dabei kommt es zukünftig auf Gemeinschaftsprojekte an, in denen jeder seine Stärken hineinbringen kann und muss, um zu einem gemeinsamen Ziel zu gelangen. Und dieses gemeinsame Ergebnis bringt ungeheuren Zusammenhalt mit sich. Das Gefühl, gebraucht und wichtig zu sein, ist genau das, was Kinder brauchen. Und genau dafür steht auch Waldorf. Wir können beeinflussen, ob unsere Nachfahren glücklich und entspannt sind, in dem wir unsere Kinder frühzeitig ihre Stärken und
Begabungen selbst entdecken lassen. In jedem Menschen stecken Talente. Wir müssen ihn nur lassen - so wie er ist - lediglich Schutz bieten. Natürlich hat auch jeder Schwächen. Aber im Rahmen solcher Projekte erfährt das Kind auch, dass es sich gewissen Dinge noch aneignen muss, um dem gemeinsamen Ziel näher zu kommen, sonst droht Ausgrenzung. Die Disziplin kommt sozusagen von allein, da kein Kind ausgegrenzt werden möchte.
Voraussetzung dafür ist auch, dass sich Kinder angenommen fühlen. Von ihren Eltern und ihrer sozialen Umgebung. Bedingungslose Liebe und Wertschätzung.
Aber das, was ich kennengelernt habe, war Leistungsdruck und Missachtung, wenn ich nicht das gemacht habe, was von mir verlangt wurde oder ich mich nicht so verhalten habe, "wie es sich gehört". Den Satz "Das macht MAN nicht" habe ich viel zu oft gehört, dass er sich in meinem Kopf so sehr manifestiert hat und ich ihn selbst unbewusst viel zu lange benutzt habe. Und das ist genau die Einstellung, die mein Vater jetzt noch lebt. Die Verallgemeinerung seiner Bedürfnisse, Werte, Einstellungen, Erwartungen an die ganze Umwelt. Und wer nicht so denkt, wie er, stimmt nicht. Erst bestimmte Lebensumstände haben mich dazu
gebracht, mein gesamtes von außen eingetrichtertes Denken zu ändern und endlich aus dem Käfig fremder Bestimmungen zu entfliehen. Nur gelingt das nicht jedem. Was könnte also aus so vielen Menschen werden, wenn sie mal so gelassen werden, wie sie sind?!
Hüther bringt eine eigene Definition von "Identität" hervor, die ich sehr treffend finde. Er sagt, Identität ist nicht "Wer bin ich", sondern wie kann ich meinen selbst erlernten Fähigkeiten etwas positives für die Gemeinschaft einbringen. Eine Denkweise, die dem Woldorfkonzept entspricht und mich bestärkt, eine Entscheidung diesbezüglich zu treffen. Die alten
Systeme haben ausgedient. Die Zuikunft muss neu gestaltet werden. Keiner weiß genau, wohin es geht. Aber die Ansätze gefallen mir. Kinder wollen lernen, sie wollen sich mit den Dingen auseinandersetzen und etwas erschaffen. Mein Sohn baut mit größter Leidenschaft Holzboote, Piratenschiffe und sammelt dafür alle möglichen Dinge aus der Natur. Er kreiert. Und ich überlasse ihm die Heißklebepistole mit vollsten Vertrauen in seine eigene Verantwortung. Wenn einem Kind etwas bestimmtes Spaß macht, dann tut es alles, um seine Fähigkeiten diesbezüglich weiter auszubauen. Und so entstehen unglaubliche, neue, innovative Dinge.
Ein gutes Beispiel ist auch das Laufenlernen oder das Fahrradfahren lernen. Innerhalb kürzester Zeit schafft es das Gehirn, motorische Höchstleistungen zu vollbringen. Von ganz allein. Genauso passiert das bei der Sprachentwicklung. Ein Kind, dass zweisprachig aufwächst erlernt innerhalb eines Jahres zwei Sprachen praktisch von ganz allein. Es zeigt, wozu unser Gehirn fähig ist, wenn wir es lassen. Wir nehmen unseren Kindern auch oftmal s zu viel ab. Sie müssen, ihre Aufgaben und Konflikte selbst lösen. Und dazu braucht es Anreize und Freiraum.
Prof. Hüther geht soweit, dass er sagt, ein Familien- und Schulsystem reicht
nicht aus, um dem Kind das zu bieten, was es braucht. Dazu ist eine ganze Kommune notwendig. Und schon ein afrikanisches Sprichtwort lautet: "Zur Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf" .
Erziehung heißt nicht, dem Kind etwas aufzudrängeln, es in die richtigen Bahnen lenken - also weniger aktives Zutun, als vielmehr passiver Schutz vor schadenden Dingen zu bieten. Schäden entstehen durch zu viel Druck, Angst oder den Verlust von Grundbedürfnissen, wie Nahrung, Kleidung, Wärme, Atmung, Wohnraum und Bewegung.
Diesen Leitsatz finde ich sehr beruhigend und nimmt mir viel Druck, das Kind
"richtig" erziehen zu müssen. Nein, ich muss nur die Rahmenbedingungen geben. Jedes Kind ist wie es ist und es entwickelt sich nach seinem Bedürfnis in der Zeit, die es dazu braucht.
Vielleicht fehlte es mir mir anfangs noch, meinen Sohn eben genauso anzunehmen, wie er ist. Vielleicht trug ich die Werte, Erwartungen und Vorstellungen meines Vaters noch unbewusst in mir, spürte aber gleichzeitig, dass mir das alles so nicht gefällt. Und daraus entstand eine Unsicherheit, etwas "falsch" zu machen. Weil mir das eben Jahrzehnte lang eingeredet wurde. Aber es gibt kein "richtig" und "falsch". Das weiß ich
heute. Er schrie, weil er einfach ein starkes Temperament hat, Nähe brauchte und nach Grenzen verlangte. Das ist heute noch so. Heute kann er eben reden. Und ich staune, wie gut er seine Gefühle in Worte fassen kann und seinen Willen durchsetzen kann. Davon sollten sich manche Erwachsene ein Stück abschneiden.
"Grenzen setzen" ist natürlich notwendig, allein um sie vor dem Verlust ihrer Grundbedürfnisse zu schützen. Und um sich selbst zu schützen. Das kann auf alle Lebensbereiche bezogen werden, die etwas von einem fordern.
"Grenzen setzen" widerspricht nicht der Waldorfpädagogik. Es ist eine
individuelle Methode, wie ein Kind die Umwelt und das Leben kennenlernt - selbstständig und kreativ, ohne Druck und Angst.
Die Waldorflehrerin Minna Marx berichtete in einem Interview 2010, dass es "Erziehungsschäden gibt, die aus unterlassener Hilfestellung entstehen. Viele Eltern haben Angst davor, Grenzen zu setzen. Sie muten den Kindern keinen Verzicht mehr zu. Es gibt Kinder, die sich nicht zurückhalten können. Alles purzelt aus ihnen heraus. Die Kinder haben keine Wahrnehmung davon, wann der Lehrer oder ein anderes Kind spricht. Oft auch nicht davon, ob sie selbst sprechen oder nicht. Das Still und
Ruhigsein, das üben wir zum Beispiel in kleinen Gruppen, die ich aus dem Unterricht herausnehme."
Sie sagt weiter: "Diese angeborene Fähigkeit zu tiefer Empathie ist ja auch etwas sehr Schönes. Mit dieser Empfindsamkeit umzugehen, heißt, Prozesse entschleunigen, heißt, die große Wahrnehmungsfähigkeit immer zielgerichteter und konzentrierter an eine Sache binden zu lernen. Dazu gehört auch, Grenzen zu setzen, Schutzhüllen zu bilden, gut Maß zu halten mit allem, was man den Kindern in der Anfangszeit zumutet."
Vergangenes kann ich nicht ändern. Auch wenn ich aus meiner Unsicherheit
heraus nicht gleich alles so gemacht habe, wie er es gebraucht hätte, liebe ich ihn so, wie er ist. Ich habe mich reflektiert und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass es lediglich meine mütterliche Pflicht ist, dem Jungen optimale Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen er sein großes Talent "bauen" noch mehr ausbilden kann. Und ich glaube, ich werde mir da immer sicherer..