Es ist nicht leicht, einen unterirdischen Gang zu gehen, der ins Ungewisse führt.
Im sanften Licht der glimmenden Kohlen des Weihrauchfässchens war die Orientierung nicht schwer, zumal auch aus den von der Decke hängenden Gebilden ein geheimnisvolles Licht zu schimmern schien. Der Gang wirkte endlos, bog bald links, dann wieder rechts um eine felsige Ecke. Die beiden Kinder waren tief beeindruckt von dem Geschauten und wagten nicht einmal zu flüstern. So gelangten sie immer tiefer in das geheimnisvolle Labyrinth. Irgendwann öffnete sich zu ihrer Überraschung der Gang zu einer unheimlichen Höhle. Die schimmernden Gebilde hingen hier nicht nur von der Decke,
sondern sie wuchsen auch vom Boden der Höhle in schwindelnde Höhen. Kein Laut war zu hören. Dichte Spinnengewebe bildeten Gardinen in den Winkeln zwischen den Steinformationen. Alles wirkte stumpf und verstaubt. Nicht einmal eine Fledermaus flatterte erschreckt auf, wenn sich die Kinder näherten.
Das Mädchen wurde zusehends ängstlicher, doch der Knabe schritt mutig voran. In der Mitte der riesigen höhle entdeckte er plötzlich eine Feuerstelle, die schon lange erloschen sein musste. Einer Eingebung folgend stellte er sein Weihrauchfässchen dort auf. Der feine weiße Duftrauch verbreitete sich zögernd in der Höhle, während die Kinder
weiter auf Entdeckungsreise gingen. Plötzlich ein Aufschrei aus dem Mund des Mädchens: „Himmel hilf, was ist denn das?“ Vor ihr hockte, nein lag, ein Bündel grauer, verstaubter Kleider. Darunter schien ein Körper verborgen. Lebenszeichen? Da gab es keine. Irgendwo zwischen den Stoffstücken fand sich so etwas wie ein völlig eingetrockneter Kopf. „Ob die Gestalt schon lange tot ist“, überlegten die Kinder.
Der Kopf wirkte erschreckend. Die Augenhöhlen waren tief, die eingefallenen Augen blicklos. Ausgetrocknete, staubgraue Haut spannte sich über die deutlich sichtbaren Schädelknochen. Der Mund war leicht geöffnet, aber alles schien von einer
dicken Staubschicht bedeckt. So wie überall in der Höhle. Das Haupthaar, nur noch dürftig vom Kopftuch bedeckt, schien ebenfalls bei einer Berührung zu Staub zu zerfallen. Trotz allem empfanden die Kinder keinen Abscheu sondern eher Bedauern und tiefes Mitgefühl.
„Was muss dieser armen Frau zugestoßen sein“, flüsterte das Mädchen. „Darüber wird wohl keiner etwas wissen“, entgegnete der Junge. Während sie immer noch von ihren Gefühlen überwältigt vor dem Haufen staubiger Kleider standen, zog ein winziges Rauchwölkchen aus dem Räucherfass vor ihnen vorbei und über ihre Köpfe huschte eine eben erwachte Fledermaus.
Da entrang sich diesen leblos scheinenden Körper ein tiefer Seufzer. Die beiden Kinder wichen entsetzt zurück und beinahe hätte das Mädchen das Gefäß mit dem geweihten Wasser fallen gelassen. Ein paar der Goldmünzen indes fielen ihnen aus den kleinen Händen und landeten klirrend auf dem Boden der Höhle.
In diesem Augenblick ging ein heftiger Ruck durch die auf dem Boden liegende Gestalt, noch einmal ein tiefer Seufzer, dann rieb sie sich schlaftrunken die Augen, während weitere Weihrauch-schwaden ihren zarten Duft verbreiteten. Das Mädchen hatte sich schnell wieder gefasst und flüsterte:
„Entschuldigung, wir wollten sie nicht stören. Haben wir sie aufgeweckt?“Der Junge hatte inzwischen die Goldmünzen wieder eingesammelt und meinte ganz zaghaft: „Wir sind Kinder von Schemei und wer seid Ihr?“ „Ich bin Nerge, die Herrin über die Regengeister. Ich muss wohl eingeschlafen sein und ich hatte einen fürchterlichen Traum. Wie lange ich schon geschlafen habe, weiß ich nicht. Bitte erzählt mir, warum ihr hierhergekommen seid.“
Während der Duft des Weihrauchs die Höhle immer weiter erfüllte, kehrte zumindest ein Teil des Lebens zurück. Und die Kinder berichteten abwechselnd, was droben in Schemei, am geheimnisvollen See und im
Königreich Keiwasol geschehen war. Nerge hörte ihnen aufmerksam zu und als beide Kinder von ihren mitgebrachten Geschenken erzählten und sie auch vorzeigten, da war es um Nerge geschehen.
Energisch befreite sie sich vom Staub der langen Zeit. Dann bat sie die Kinder: „Kommt mit mir an die Feuerstelle.“ Vorsichtig schüttete sie ein wenig Glut auf die erkaltete Holzkohle. Rasch entflammte die von neuem. Dann streute Nerge auch noch etwas Weihrauch in die Glut, dass sich dieser feine Duft vollends in der Höhle ausbreitete. Im gleichen Augenblick erwachten überall in der Höhle kleine, graue Wesen, welche wie Fledermäuse durch die Luft
zu taumeln schienen.
Nerge bat nun auch um das irdene Tellerchen, setzte es vorsichtig auf einen Dreifuß und stellte beides über die Glut. Das Mädchen hatte ihr inzwischen das kleine Fläschchen mit dem geweihten Wasser übergeben. Nerge tröpfelte vorsichtig ein wenig davon in das Tellerchen. Mit Staunen nahmen die Kinder wahr, wie eine ständig wachsende Dampfwolke aus dem kleinen Gefäß aufstieg. Es wollte kein Ende nehmen. Zum Schluss erfüllte dichter Wasserdampf die gesamte Höhle. Wie durch Watte hörten die Kinder Nerge sprechen: „Das ist die große Nebelhöhle. Ist sie erst einmal mit Dampf gefüllt, dann dauert es nicht mehr lange, ehe es oben auf der Erde regnet. Ihr
habt vorhin die kleinen grauen Wesen durch die Höhle flattern sehen. Sie sind meine Untertanen, die Regengeister. Wir waren leider eingeschlafen, weil die Menschen vergessen hatten, uns Weihrauch und geweihtes Wasser zu opfern. Darüber hinaus konnten wir es ihnen niemals recht machen. Entweder regnete es zu viel, zu wenig, zum falschen Zeitpunkt oder im Hochsommer auch mehrere Tage überhaupt nicht. Aber seid nicht traurig. In wenigen Tagen ist alles überwunden und ihr könnt auch wieder ernten. Es lag einfach die gesamte Natur
im Schlaf.“
Während Nerge die Kinder auf ihre Weise tröstete, konnte man staunen, wie die kleinen Regengeisterchen die winzigen
Dampftröpfchen einsammelten, sie überall an ihren feinen Härchen anklebten und dann auf geheimnisvolle Weise in den feinsten Ritzen und Spalten der Höhlendecke verschwanden. Es dauerte auch gar nicht lange, da bemerkten die Kinder, wie die von der Höhlendecke hängenden Gebilde feucht glänzten und winzige Tropfen auf den Boden der Höhle fallen ließen. Wie gut man jetzt atmen konnte! Viel besser als zu Beginn beim ersten Betreten der Höhle.
Wieder erschienen die kleinen Regengeisterchen, diesmal ohne Tropfen. Flugs hatten sie erneut aus dem Dampf ein winziges Tröpfchen eingesammelt, um rasch zu verschwinden. So ging es jetzt eifrig hin
und her. „Nerge, sage uns doch bitte, wohin die kleinen Geisterchen mit ihrer Last verschwinden“, bat der Junge. Nerge lächelte geheimnisvoll. „Wie ihr schon beobachten konntet, verschwinden die Kleinen in den Ritzen der Höhlendecke. Dort laden sie die Feuchtigkeit ab, die dann von den Steinen aufgesaugt wird. Sobald alle Ritzen gefüllt sind, beginnt durch die Sonne die Feuchtigkeit oben auf der Erde als Wolken aufzusteigen. Und je höher die Wolken wandern, desto schwerer werden sie und fangen schließlich an zu regnen. Ich muss nur hier unten aufpassen, dass mir das Feuer nicht ausgeht, um immer mehr Nebel machen zu können.“ „Und wo kommt das Wasser her, das zu Nebel wird?“ „Ihr habt mir
so viel geweihtes Wasser mitgebracht. Das wird für ein ganzes Jahr genügen.“ „Und was geschieht, wenn jetzt das geweihte Wasser in der Schale über der Glut zu Ende ist? Woher kommt dann neues Wasser?“ Die beiden Kinder konnten nicht aufhören zu fragen. „Ihr habt doch gesehen, dass von den Tropfsteinen an der Höhlendecke Wassertropfen herunter fallen. Manche davon landen einfach in der Schale über der Glut. Und so wird sie immer wieder mit dem geweihten Wasser gefüllt.“ „Die Nebelhöhle liegt doch sicherlich unter dem ausgetrockneten See, nicht wahr?“ Der Bub konnte seine Neugier nicht mehr zähmen. Da lachte Nerge ganz laut: „Die Nebelhöhle liegt irgendwo mitten unter dem Gebirge, in
welchem immer das Wasser gespeichert wird.“ „Aber wir sind doch in die Tiefe gestürzt, als wir zwischen den Wurzeln der alten Weide die Goldmünzen und den Schmuck gesucht haben“, meinte das Mädchen. „Ihr seid in Ohnmacht gefallen, weil ihr zufällig die Geheimtür geöffnet habt beim Aufsammeln der Münzen und des Schmuckes. Weil ihr ein wenig Wasser dabei hattet, wurdet ihr von der leeren Nebelhöhle angesaugt und konntet mich finden, nachdem ihr aus eurer Ohnmacht aufgewacht ward.“ „Und was ist mit dem See, welcher groß ist oder kleiner wird, wenn Wasser fehlt?“Der Knabe ließ nicht locker. Nerge lächelte die beiden Kinder an: „Der See wächst oder wird kleiner, um die
Menschen daran zu erinnern, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, immer reichlich Wasser zu haben. Die Bewohner des Reiches von Keiwasol sollen einmal im Jahr, am Tag des heiligen Christophorus, ein Wasseropfer bringen. Das heißt, sie schütten eine kleine Menge geweihtes Wasser in den See. Dann brauchen sie nie mehr Angst vor einer Dürre zu haben.“ Diese Aussage von Nerge hatte die Kinder sehr nachdenklich gestimmt.
Inzwischen waren in der nebelhöhle deutliche Veränderungen sichtbar geworden. Von den Tropfsteinen fielen reichlicher Tropfen herunter. Oberhalb der Schale über der Glut befand sich ein riesiges Tropfsteingebilde,
das die dicksten Tropfen direkt in das Schälchen fallen ließ. Die kleinen Regengeisterchen konnten kaum damit nachkommen, ständig die winzigen Nebeltropfen einzusammeln und fort zu schleppen. Die alten, grauen Kleider Nerges hatten begonnen, eine leuchtend blaue Farbe anzunehmen. Ihre Haut wirkte rosig und verlor ihre falten. Die ehemals staubgrau aussehenden Haare wurden langsam schwarz und fielen schön und lang über ihren Rücken. Mit leuchtenden Augen schenkte sie den beiden Kindern einen liebevollen Blick. Dann ertönte ein Laut, der sich wie ein „Klack“ anhörte. Bald darauf ein zweites „Klack“. Schließlich ertönte es in immer rascherer Folge „Klack, klack, klack …“.
Nerge begann zu lachen: „Ihr solltet eure erstaunten Gesichter sehen. Ja, es ist Wirklichkeit geworden. Es regnet wieder!“ Jubelnd umarmten die beiden Kinder die Herrin der Regengeisterchen. Auch Nerge drückte die beiden an sich und meinte: „Ich danke euch von ganzem Herzen, dass ihr mich gesucht und gefunden habt. Mit Hilfe eurer Geschenke bin ich schließlich wieder aufgewacht und euer Land ist von einer schrecklichen Dürre verschont geblieben. Glaubt mir, der See wird sich wieder mit Wasser füllen und auch die Natur neu erwachen. Aber jetzt wird es für euch höchste Zeit, zu euren Eltern zurück zu kehren.“ Der Junge unterbrach Nerge: „Wir möchten dich aber immer wieder besuchen kommen, weil
die Reise hierher so abenteuerlich war.“ „Nichts da. Ihr kehrt zurück ins Menschenreich. Ihr habt die Aufgabe, den Menschen zu erklären, wie wichtig es ist, einmal im Jahr ein Wasseropfer zu bringen. Dann wird es mir und meinen Untertanen immer gut gehen. Und ihr werdet immer genügend Wasser haben. „ „und wie finden wir wieder nach Hause?“ Das war die größte Sorge des Mädchens. „Kommt und setzt euch dort drüben nieder, wo ihr mich gefunden habt. Dort ist es noch ein wenig trockener. Ihr sollt euch noch etwas ausruhen, ehe ihr den Heimweg antretet.“ Gehorsam setzten sich die Kinder nieder und kuschelten sich gemütlich aneinander. Deutlich fühlten beide große Müdigkeit und schliefen auch sofort
ein. Jetzt legte ihnen Nerge die Münzen und den Schmuck in den Schoß, führ ihnen mit ihrer kühlen Hand über die Augen und blies etwas Weihrauchduft über sie.
Als die beiden Kinder erwachten, fanden sie sich zwischen den Wuzeln der alten Weide wieder. Die Sonne stand schon tief zwischen den Wolken, die nahezu den ganzen Himmel zu bedecken schienen. Vor ihnen, dort wo der ausgetrocknete See gewesen war, leuchtete es in der Mitte so, als wäre da eine kleine Pütze. Ja wirklich, es musste irgendwann geregnet haben. Die Natur begann sich schon zu erholen.
„Los komm, ich will jetzt nach Hause und alles
erzählen!“ „Wie lange waren wir denn fort?“ Statt zu antworten, zog der Junge das Mädchen energisch auf die Füße. Dann rannten sie so schnell sie konnten nach Hause. Ihre Eltern holten sofort den Pfarrer und den Mesner und die beiden Kinder mussten alles haarklein erzählen. So kam es, dass im Reich Keiwasol jedes Jahr wieder eine Wasserprozession abgehalten wurde, um das Wasser zu ehren.
(C) HeiO
2014
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