Beschreibung
Überarbeitete Version. Weniger Fehler (hoffe ich), mehr Kommata (weiß ich).
Die geraubten Flügel
„Der letzte Mensch der mir so nahe kam wie du, raubte mir die Flügel.“ In der Stimme der jungen Frau schwingt wider Erwarten keine Bitterkeit mit. Es ist eine nüchterne, beinahe sachlich klingende Feststellung, sieht man einmal von der Tatsache ab, dass Menschen keine Flügel haben. „Das habe ich nicht vor.“ Er lächelt und streicht ihr über die Wange. Sie zuckt nicht zurück, aber es stiehlt sich auch kein Lächeln in das blasse Gesicht. Einzig die Wangen leuchten in einem sanften Rot, aber ob es das Blut ist, das durch sie fließt oder gut aufgelegter Rouge vermag er nicht zu sagen. Vielleicht ist es auch eine Mischung aus beidem. In jedem Fall fühlt ihre Haut sich dünn an, erinnert sie ihn an Pergament, das sie im Geschichtsunterricht einmal hatten anfassen dürfen. Und kalt ist sie, aber draußen schneit es schließlich und ihre dünne Kleidung scheint ihm auch nicht übermäßig warm. Trotzdem zittert sie nicht und zeigt auch ansonsten keinerlei Anzeichen von Unwohlsein. „Ich weiß.“ Wieder liegt keine Betonung in dem Satz. Er verlässt einfach ihre Lippen und verweht dann, als hätte sie ihn nie ausgesprochen. „Du bist schön wie du hier sitzt.“ Dieses Mal überzieht seine Stimme ein wenig Monotonie, doch noch ist sie von wehmütigen Fäden durchzogen die an den Worten kleben wie weicher Kaugummi. Dieses Mal verzieht sie die Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns. Für ihn ist es wie ein Sonnenaufgang, aber der Nebel um ihre Augen lichtet sich nicht. Sie starrt weiter nach Vorne, als gäbe es hinter ihm irgendetwas interessantes, das seinen Augen verborgen bleibt. Er hatte sich schon mehrfach umgesehen, aber hinter ihm ist nichts anderes als vorher. Viele, alte und knorrige Bäume, deren Äste ein Geflecht bilden, durch welches kaum ein Sonnenstrahl zu dringen vermag. Das Dunkel wirkt auf ihn bedrohlich, sie aber scheint es zu beruhigen. Sie summt leise eine Melodie, ein Schlaflied wie er jetzt bemerkt. - Es fügt sich in das Rauschen des Windes nahtlos ein. „Du möchtest nicht reden, oder?“ Es ist keine tatsächliche Frage, obgleich er die ausgesprochene Tatsache als solche formuliert. Seine Stimme steigt zum Satzende her an. Er moduliert jedes Wort sorgfältig, als wäre er ein Künstler, der gerade Bilder mit seinen Worten schafft. Oder als ob es ihm schwer fiele, die Worte auszusprechen, wie jemand, dem diese Art der Kommunikation nicht geläufig ist. Sie macht sich nicht die Mühe irgendetwas zu erwidern, lediglich ihr Summen hält weiter an. Der Wind ist stärker geworden, als wolle er sie übertönen. Oder vielleicht spielt er auch bloß eine ganz eigene Melodie, die sich mit ihrer verwebt. Irgendwo weint ein Kind. Es ist ein knatschiges Weinen, ein Trotzweinen. Vermutlich steht es mit seiner Mutter an irgendeiner Supermarktkasse und musste gerade den Schokoriegel weglegen, ohne den es nicht leben kann. Manchmal war sie wirklich froh keine Kinder zu haben. „Was willst du?“ Auch sie formt ihre Worte, als wären sie aus Ton. Sie dreht sie zwischen ihren Stimmbändern in die gewünschte Form und ihre sich kaum bewegenden Lippen geben ihnen den letzten Schliff. Durch ihre Stimme werden sie gebrannt und bleiben so, wie sie es sich wünscht. „Ich“, er zuckt ein wenig hilflos mit den Schultern, „wollte eigentlich bloß in deiner Nähe sein. Naja, das klingt jetzt sicher kitschig, aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“ Wieder ist da diese Andeutung eines Lächelns, aber sie sieht ihn noch immer nicht an. Was auch immer sie in diesen Bäumen auch sehen mag, es scheint ihre Pupillen angesogen zu haben. ‚Ein schwarzes Loch‘ denkt er bei sich und ist sich nicht sicher, ob er den Wald oder ihre Augen meint. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, und manchmal war er sich unsicher, ob sie nicht eben dies tat, blickte sie ihn an. Die braunen Pupillen halten seinen grünen Katzenblick für Sekunden gefangen und er ahnt in eben diesem, dass die Welt ihm so viel mehr zu bieten hat. Zu bieten hätte. Wenn er sich nicht an sie gebunden hätte. Oder wenn sein Herz sich nicht an sie gebunden hätte. „Liebe kann man sich nicht aussuchen.“ Er hatte seine Gedanken laut ausgesprochen. Aber sie tut, als habe sie ihn nicht gehört.
Warten auf die Dämmerung
Hinter seinem Rücken knackt es und er wirbelt herum. Es ist niemand zu sehen. Sie sind vollkommen allein auf diesem klischeebeladenen Hügel. Über ihnen thront der Neumond und wirft sein spärliches Licht auf das satte, grüne Gras auf dem sie sitzen. In der Mitte des Hügels steht ein alter Baum, der nun, wo der Winter sich mit großen Schritten nähert, bereits fast alle Blätter von sich geworfen hat. Und an eben jenem Baum lehnt sie, die Beine zum Schneidersitz gefaltet, fast als meditiere sie. Aber ihre Augen sind offen, sie sieht wachsam aus. Konzentriert. Er dagegen läuft vor ihr herum, ein wildes Tier in seinem Käfig. Er lacht leise und irgendwie nicht vollkommen überzeugend als er daran denkt, dass dies der perfekte Ort für einen Liebesfilm wäre. Und auch den perfekten Beginn hatten sie bereits geliefert. Eine junge Frau, ein junger Mann und die sie beide umgebende Einsamkeit, die man beinahe mit den Händen greifen konnte. Bloß zeichnete sich hier kein HappyEnd ab. Der leidenschaftliche Kuss und das tolpatschige Verhalten zweier Menschen die für einander bestimmt sind und sich nicht sofort haben dürfen bleiben aus. Da sind nur die schwarzen Löcher ihrer Augen und ihre Wachsamkeit. Und der Wald. Irgendwo ruft ein Kauz und wieder wirbelt er auf dem Absatz herum. Er hat keine Waffe bei sich und fragt sich ernsthaft was er eigentlich tun sollte, wenn jemand diesen brüchigen Frieden stören sollte. Aber gerade ist es ihm egal. Er will sie einfach beschützen, wie sie so blass an diesem Baum lehnt.
„Worauf wartest du eigentlich?“ Sie hatten über Stunden kein Wort miteinander gewechselt. Inzwischen starrt auch er in das Dunkel. „Auf die Dämmerung.“ Aus ihren Worten wird er einfach nicht schlau. „Du meinst die Morgendämmerung?“ Sie schüttelt den Kopf. Ihre Haare haben, das sieht er selbst in diesem fahlen Licht, einen leichten Grünstich. Ihrer Naturhaarfarbe entspricht das vermutlich nicht, aber wer weiß das bei ihr schon. Die Frau ist ihm ein Rätsel. „Auf die Abenddämmerung? Aber, wir haben Nacht.“ Langsam zweifelt er an ihrem Verstand. - Vor allem aber auch an seinem. Er könnte jetzt Zuhause sein, sich in sein Bett legen und schlafen. Warum war er ihr also nachgegangen? „Ich warte auf die Weltendämmerung.“ Ihre Monotonie treibt ihn fast zum Wahnsinn. Als würde sie jedes Wort abwägen, alle Ecken und Kanten wegschleifen, ehe sie es sich über die Lippen quälte. Fast so, als bereite es ihr körperliche Schmerzen mit ihm zu sprechen. „Ah, die Weltendämmerung. Natürlich. Worauf auch sonst.“ Sein Kommentar klingt beißender als er es beabsichtigt hat, aber sie scheint die Schärfe seiner Worte nicht einmal zu bemerken. Wieder hüllt die Welt sich in Schweigen und er fügt sich nahtlos ein. Er ist sogar stehengeblieben, wohl weil das dumpfe Pochen seiner Schritte auf dem vom Regen vollgesogenen Rasen seltsam in seinem Kopf klingt. Die Müdigkeit macht seine Augenlider schwer. Immer wieder sieht er nun das Schwarz in seinem Kopf, was dem im Wald nicht ganz unähnlich ist.
Schokolade mit Chili
Er muss kurz eingenickt sein, denn als er die Augen öffnet ist der Baum vor ihm leer. Die Füße in seinen Schuhen machen ein quietschendes Geräusch als er aufsteht, unbemerkt von ihm hat es weitergeregnet. Seine Jeans ist jedenfalls auch nass und auf seinem Shirt zeichnen sich dunkle Sprenkler ab. Wütend reibt er sich die Augen. Er hätte sie nicht einfach verlieren dürfen, hätte wachbleiben und sie beschützen müssen. Denn vor irgendetwas hatte sie Angst, da war er sich sicher. Noch viel wütender macht es ihn aber, dass er nichtmals ihren Namen kennt, er ist sich sicher, dass er ihn zuvor noch gewusst hat. - Aber nun ist er weg, als hätte der Regen ihn mitgenommen. Auf dem Rasen sind keine Fußabdrücke zu erkennen, als hätten ihre Füße den Boden nie berührt. Aber der Duft ist geblieben. Er atmet diese seltsame Süße ein, es erinnert ihn an Schokolade. Vor allem an heiße Schokolade mit Chili. Er grinst. Wieder denkt er offensichtlich in Klischees. Früher hat er sich darüber geärgert, hat Menschen die so denken Spießer genannt. Jetzt ist er offenbar selber einer geworden. Er streicht sich in einer unbewussten Geste über den Dreitagebart am Kinn. Seine Freundin findet ihn ausgesprochen männlich, wenn er diesen Bart trägt. Sie schlafen viel öfter miteinander an solchen Tagen. Aber mehr mag sie nicht. Sie ist eben anspruchsvoll. Als er an sie denkt überkommt ihn die Lust auf Sex. Er hätte jetzt Lust nach Hause zu gehen und ihr Shirt hochzuziehen. Sie hat große, schwere Brüste. Sie einfach auf den Fußboden legen und sich abreagieren. Den Regen wegschwitzen. Das wäre jetzt genau das Richtige. Und danach vielleicht eine heiße Schokolade. Eine mit einer Prise Chili. Er lächelt und macht sich auf den Heimweg.
Er war eingeschlafen und sie in den Wald gegangen. Der Wind ist ruhiger geworden und sie hört die Stimme nun deutlicher. Dafür rauscht der Regen jetzt direkt auf sie herab. Ihr Haar hängt ihr in Strähnen über die Augen, der graue Mantel bauscht sich im Laufen zusammen. Auch sie ist müde, aber an Schlafen ist noch nicht zu denken. Tiefer und tiefer in das Geflecht aus Bäumen, Ästen und ein paar übrig gebliebenen Blättern. Die Stimme lockt sie weiter. Verführerisch und trotzdem irgendwie kindlich. Sie kann nichtmals sagen ob es ein Mann oder eine Frau ist. Es scheint ihr zu wechseln. In jedem Fall singt sie, singt von dem satten Grün der Gräser, vom hellen Blau der Wolken und von der Sonne. Sie hat die Sonne schon sehr lange nicht mehr gesehen und dieses Versprechen zieht sie magisch an. Der Regen verwandelt sich langsam in einen Schneematsch, der Boden wird mit sinkenden Temperaturen noch gefährlicher. Das ohnehin schon nasse Laub bedeckt nun eine Schicht aus Schnee, der teilweise zu versteckten Tümpeln zusammenfließt und friert. Einmal stürzt sie beinahe, als sie eine solche Eisplatte übersieht. Sie fängt sich ab, aber ein Ast kratzt ihr über das Schienbein. Es ist ein kaum spürbares Stechen, als die Spitze sich durch die Haut bohrt. Es blutet nicht. So tief ist das Holz nicht eingedrungen. Aber ein Splitter bleibt zurück. Sie hofft, dass er sich nicht entzünden wird, denn gerade hat sie keine Zeit sich darum zu kümmern. Die Sonne wird bald aufgehen, zumindest tut sie das irgendwo. Und sie will dabei sein. - Die Stimme erzählt nun vom Gesang der Vögel. Es wäre schön einmal den Lauten der Tiere lauschen zu können. Inzwischen ist ihr vieles fremd geworden. So fremd, dass sie Gestern, denn der neue Tag ist schon angebrochen hinter den Wolken, sich in eine Disko begeben hatte. Sie hat den nächstbesten Mann angesprochen. Einfach um irgendetwas zu hören. Zu harten Beats waren sie sich näher gekommen. Das heißt, er war ihr näher gekommen. Sein Atem hatte nach Bier gerochen, aber etwas an ihm hatte sie gerührt. Sie hatte zugelassen, dass er ihr zum Hügel gefolgt war, nun bereut sie das. Er ist sicher auch in den Regen gekommen. Außerdem hatte er ein Parfüm an sich, das sie auf eine andere Frau schließen lässt. Sie hofft wirklich, dass er den Weg nach Hause gefunden hat. Vor ihren Augen entsteht kurz das Bild einer brünetten, vollbusigen jungen Frau. Sie streicht ihm durch die Haare und ihre Lippen sind eng auf seine gepresst. Sie kann das Spiel der Zungen fast nachempfinden. Es wird ihm gut gehen. Sie ist beruhigt. Wenigstens das hat sie nicht falsch gemacht.
Das Unbegreifliche Leben
Schnee, Regen, dann wieder Schnee. Das Laub ist inzwischen zu einer ekligen Pampe zusammengepresst, die an den Absätzen ihrer Stiefel klebt. Sie ärgert sich darüber diese unpraktischen Schuhe angezogen zu haben. Die Absätze sind nicht hoch, kaum mehr als ein Zentimeter. Aber trotzdem sinkt sie nun mit den Fersen ein. Immerhin sind sie warm. Ansonsten ist ihre Kleidung sogar halbwegs zweckmäßig. Sie hat sich entscheiden müssen, schließlich wollte sie in die Disko. Und ein gewisser Kleidungszwang, daran erinnerte sie sich noch, war eben immer da gewesen. So trug sie nun eine schwarze Hose, ein helles Trägertop und darüber den grauen Mantel. Der hielt sie nun wenigstens warm, genauso wie die Stiefel. Wie weit der Weg ist kann sie nicht abschätzen. Sie hat das Gefühl, als sei er endlos, zeitlos. Doch dann ist da der Wald zuende. Aber die Sonne sieht sie noch immer nicht und auch die Stimme ist nicht lauter geworden. Im Gegenteil, sie hat das Gefühl, dass der Gesang immer mehr verwischt. Während sie in den Regen starrt beginnt sie sich zu fragen, ob sie nicht doch verrückt ist. Ihre Mutter hatte das immer zu ihr gesagt, wenn sie Geschichten erzählt hatte. Ihre Mutter. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie ihr die Haare zerzaust hat gesagt hatte: „Du bist doch verrückt meine Kleine. Und dabei so bezaubernd.“ Damals hatte ihre Mutter nicht geahnt, dass irgendwann die Sonne nicht mehr scheinen würde. Und heute war sie auf dem Weg die Sonne zu suchen. Ihre Mutter konnte diese Suche nicht mehr miterleben. Sie war am Krebs gestorben. Immer mit einem Lächeln, selbst als ihr Gesicht viel mehr an Pergament erinnerte, als er es gerade noch über ihr Gesicht gedacht hatte. Sie war ausgezehrt gewesen und man hatte ihr angesehen, dass der Tod sie nicht mehr gehen lassen würde. Aber sie hatte gelächelt und gesungen. Es war das Schlaflied, dass sie nun stetig summte. Die eigene Stimme zu hören war manchmal beruhigender als den seltsamen Singsang, der immer wieder lockte. Sie war es leid über den Tod nachzudenken. Und eigentlich wusste sie auch nicht, warum gerade sie die Sonne suchen sollte. Sie überlegt umzukehren, aber ein Blick zum Himmel zeigt ihr, dass sie unbedingt noch einmal die Welt so sehen will, wie sie sie liebt. Sie will noch einmal mit Spiegelscherbensplitteraugen den Glanz sehen, wenn sich in einer Träne die Sonne bricht. Wenn der Schatten einer Ente durch den See gleitet. Oder einfach dann, wenn die Weltendämmerung bevorstand. Weltendämmerung, so heißt der Tag, an dem die Sonne wiederkommt. So heißt auch der Tag, an dem sie verschwunden ist. Sie hat einfach das Musikstück über die Götterdämmerung für sich abgeändert. Vielleicht weil sie nicht an Gott glaubt. Früher hat sie das getan, das war bevor ihre Mutter gestorben ist. Es ist doch irgendwie typisch, entweder flüchten wir uns dann in das Unbegreifliche, oder wir lernen ohne es zu leben.
Am offenen Herzen
Schließlich lässt sie sich unter einer Tanne nieder. Hier ist sie zumindest teilweise vor dem Regen geschützt und ihre Füße tun ihr weh. Aus dem Rucksack den sie auf dem Rücken trägt nimmt sie eine Flasche Wasser. Sie dreht den Schluck den sie nimmt behutsam mit der Zunge im Mund hin und her, kostet ihn aus. Irgendwann wird er fade und sie schluckt ihn herunter. Dann schraubt sie die Flasche wieder zu und verstaut sie sorgfältig. Sie hat nicht viel mitgenommen. Die Flasche Wasser, ein paar Tupperdosen mit belegten Brötchen und ein Buch. Nicht dass sie wirklich glaubt zum Lesen zu kommen, aber die Geschichte hat sie schon als Kind fasziniert. Irgendwie gibt es ihr Sicherheit, dass das Buch in ihrer Nähe ist. Sie blickt auf das Cover, von dem sie ein Teddybär mit schwarzen Knopfaugen anblickt. Dann legt sie den Kopf auf den Rasen und schläft einfach ein. Vor ihren Augen schwirrt ein seltsam androgynes Gesicht. Es spricht in unterschiedlichen Sprachen, mit unterschiedlichen Stimmen. Aber sie versteht genau was es sagt. Es. Sie kann ihm keinen Namen und kein Geschlecht zuordnen. „Sonne.“ Sagt es. Immer wieder dieses Wort. Und sie sieht wie blass es ist. So blass wie alle Menschen heute, denn wenn man immer im Dunklen lebt, wie soll die Haut da auch Farbe finden. Als sie aufwacht ist sie schweißgebadet. Immerhin hat der Regen aufgehört, jetzt ist es bloß noch grau. Sie schultert ihren Rucksack und geht weiter. Es ist nicht länger glatt und so ist der Weg weitaus ungefährlicher für sie. Ihr linker Knöchel schmerzt ein wenig beim Auftreten. Vermutlich ist sie am Abend zuvor umgeknickt und hat es einfach vergessen. Eine ernsthafte Verletzung ist es nicht, das würde sie spüren, solche Dinge weiß sie einfach. Es ist ein Gefühl für den eigenen Körper. Trotzdem hinkt sie ein wenig. Es dauert kurz, ehe sie sich auf den Schmerz eingestelle hat. Dann hat sie ihn fast sofort vergessen und wenn sie an etwas nicht denkt, dann existiert es einfach nicht. Das hat sie schon als Kind gemacht. Kaum hat sie das Monster unter dem Bett vergessen, da ist es auch nicht mehr da. Es ist ihr Zauber, wie ihr Vater immer gesagt hat. Geschichten werden in ihren Atemzügen lebendig, aber ebenso schnell sterben sie wieder. Dann, wenn sie aufhört an sie zu denken. Sie fragt sich was passieren wird, wenn sie irgendwann sich selber vergisst. Hört sie dann auch einfach auf zu existieren? Sie versucht sich darauf zu konzentrieren, nicht an sich zu denken. Dabei blickt sie ihre Hand an. Irgendwie glaubt sie, dass diese sich zuerst auflösen muss. Aber nichts passiert. Also lässt sie es wieder.
„Wird sie je wieder gesund werden?“ Der Frau am Bett stehen Tränen in den Augen. Das Mädchen das auf dem Bett liegt bewegt die Hand wie in Trance, dreht sie von Links nach Rechts. Es scheint auf diese Bewegung fixiert zu sein. „Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Es war ein Schock für den Körper. Er versucht sich zu schützen.“ Der junge Arzt ist sichtlich überfordert mit der Situation und den Tränen. „Sie ist in einer Art Wachkoma. Vielleicht nimmt sie alles um sich herum wahr. Die Medizin“ Er wird jäh unterbrochen als sein Pieper geht. „Ich, es tut mir leid. Ein Notfall.“ Er sieht fast erleichtert aus. Alles ist ihm lieber als dieses Mädchen auf dem Bett. Fast würde er eine Operation am offenen Herzen diesem Anblick vorziehen. Ihr Blick scheint ihn zu verfolgen, als er fluchtartig den Raum verlässt.
Die Sonne
„Die Sonne ist weg.“ Immer wieder dieser eine Satz. Mehr sagt sie nicht. Die leeren Augenhöhlen blicken ins Nirgendwo. Die Splitter der Windschutzscheibe hatten sich mit bösartig wirkender Präzision in die Pupillen gebohrt. „Die Sonne ist weg, aber ich werde sie wiederfinden.“ „Ja mein Kind, das wirst du. Ganz sicher.“ Jetzt fließen die Tränen bei der Frau, die wartend am Bett sitzt. Und in ihnen fängt sich ein Sonnenstrahl, bricht sich. Wie ein kleiner Regenbogen. „Ich kann sie sehen.“ Die Lider des Mädchens auf dem Bett schließen sich. „Sie ist wunderschön. So strahlend hell.“