Kapitel 54 Das Konzil
Simon blieb in der Mitte des Steinkreises stehen. Einen Moment sah er hinauf zur gläsernen Kuppel über sich. Vielleicht, dachte er, war dieser Ort einmal ein Garten gewesen, so seltsam das klang. Aber einst musste diese Einöde vor Leben übergelaufen sein, wenn das alte Volk hier seine Städte erbaut hatte.
„Ich bin nicht hierhergekommen um mich prüfen zu lassen.“, erklärte er.
Seine Stimme blieb überraschend ruhig. „Mein Weg hierher sollte Euch allen Beweis genug sein. Ist er das nicht, müsste ich die Seher blind schimpfen. Aber ich werde auch nicht unverrichteter Dinge wieder gehen.“
„Wir werden eure Zukunft erneut einsehen.“, antwortete eine der Gestalten, die in den Schatten der Monolithen warteten. „Wenn ihr hier seid, um zurückzuerhalten, was euch genommen wurde, müsst ihr Euch unserem Urteil und Eurer letzten Prüfung stellen. Wenn nicht, können wir nicht zulassen, dass ihr diesen Ort lebend verlasst.“
„Das war nicht vorgesehen.“,
erwiderte Delia scharf.
„Nichts hiervon war vorgesehen.“, antwortete der andere Seher. „Es ist wie es ist. Ihr habt getan, was Ihr für nötig hieltet… jetzt erlaubt, dass wir das auch tun.“
„Aber…“
„Ich habe bereits gesagt, dass ich mich stellen werde, was auch immer Ihr für nötig haltet.“, unterbrach Simon den Streit. „Und ich habe lange genug für eine Lüge gekämpft. Wie immer die Wahrheit über meine Zukunft lautet, ich werde nicht davor zurückschrecken.“
Delia sah einen Moment aus, als wollte sie noch etwas sagen, trat dann jedoch stumm zurück in den Schatten der
Steine. Die übrigen Seher taten das Gleiche. Simon sah ihnen nur regungslos zu. Was immer auch geschehen würde, er war bereit. Zumindest, so bereit, wie er sein konnte….
Eine Weile, er wusste nicht, wie lange, tat sich gar nichts. Lediglich das Heulen des Windes draußen durchbrach die Stille… und dann setzte er plötzlich aus. Als wäre jeglicher Ton aus der Welt gewichen, verstummte selbst das Geräusch von Simons Atem. Das einzige, das noch hörbar, oder mehr spürbar war, war ein tiefes Summen, eine Vibration im Boden, die kleine Steine und die leichtesten Schneeflocken zum Tanzen
brachte. Simon wollte fragen was vor sich ging, doch als er den Mund öffnete, konnte er nicht einmal ein Wort hervorbringen. Nach wie vor war da nur das Summen, als einziges verbleibendes Geräusch, das langsam zunahm. Er konnte keine Worte verstehen, aber langsam wurde ihm klar, dass es sich um Gesang handelte. Eine seltsame Melodie, die keine feste Form zu kennen schien. War der Ton in einem Moment noch melancholisch, schien plötzlich Freude daraus zu sprechen, bevor das Ganze zu einem ruhigen Takt abfiel… und begleitend dazu wogten Schatten durch den zerfallenen Garten. Je deutlicher der Gesang wurde, desto dunkler wurde es
auch. Zuerst verfinsterte sich nur das Gestein der Außenmauern, dann jedoch sickerte die Schwärze wie eine Flüssigkeit auf sie zu, verdeckte selbst das große Kristalldach über ihnen.
Am Ende stand Simon alleine in einem letzten, verbleibenden Kreis von Licht m, den die wogenden Schatten nicht zu durchbrechen vermochten. Nur einige dunkle Fühler schlugen aus der Finsternis nach ihm, trafen jedoch nicht… Simon seinerseits blieb nach wie vor ruhig stehen. Wenn das die Prüfung war, dachte er, dann hatte er keine Ahnung, was er zu tun hatte. Der Gesang war mittlerweile verstummt, so als hätte die Welt um ihn herum tatsächlich
aufgehört zu existieren….
Einen Moment schloss er die Augen, während seine Hand zum Schwertgriff wanderte. Ihm blieb nur, sich auf seine Instinkte zu verlassen. Und das Gefühl der Bedrohung, das ihn umgab, rief danach, sich zu verteidigen. Er würde hier nicht abwarten, bis die Schatten ihn holten…. Mit einer fließenden Bewegung zog er die Waffe und stieß das Schwert wahllos in die Dunkelheit. Erst, als die Klinge auf Widerstand stieß, öffnete er die Augen wieder. Die wirbelnde Schwärze um ihn herum wich etwas zurück und enthüllte, was er getroffen hatte. Vor ihm stand eine Gestalt, gehüllt in grau schwarze Kleidung. Das Schwert
hatte ihre Brust durchbohrt, doch zeigte ihr Gesicht keine Regung. Dort, wo sich eigentlich Haut befinden sollte, gab es nur weiß schimmerndes Porzellan. Eine Maske….
Simon zog die Klinge aus dem Körper, der daraufhin in sich zusammenbrach. Es dauerte einen Augenblick, bis er das Geschehen wirklich begriff. Etwas hatte sich grade geändert. Aber ob es die richtige Entscheidung gewesen war… Simon wusste es nicht. Vorsichtig schob er das Schwert zurück an seinen Platz, bevor er sich über die Gestalt beugte. Die Hand nach der Maske seines geschlagenen
Kontrahenten ausgestreckt, nahm er das Stück Porzellan ab…. Einen Moment konnte er nur verwirrt blinzeln, als er in sein eigenes Gesicht starrte. Er selbst lag dort tot vor ihm auf dem Boden. Und er selbst stand gleichzeitig nach wie vor auf beiden Füßen… noch ehe er ganz begreifen konnte, was er vor sich hatte, traf es ihn wie ein Blitz. Bilder rasten in wahnsinniger Geschwindigkeit an ihm vorbei. Eindrücke, Gerüche, Gefühle, Wärme , Kälte… ein endloser Strom, die Erfahrungen eines Lebens und vielleicht mehr. Er spürte, wie sein Verstand drohte, daran zu ersticken, die Bilder überlagerten sich, machten sich daran, seine eigenen Erinnerungen
auszulöschen, während er versuchte, etwas aufzunehmen, das er schlicht nicht verarbeiten konnte. Es war zu viel… Simon kämpfte darum, die Kontrolle zu behalten, dem Strom eine Richtung zu geben, das tobende Chaos zu bändigen. Es war unmöglich. Langsam wurde ihm klar, was er dort sah. Alles. Jeden Augenblick aller Zeitalter… war es das, was ein Seher wahrnahm? So oder so er war dem nicht gewachsen, er konnte nichts damit anfangen, außer dass es drohte, ihn in den Wahnsinn zu treiben…. Aber vielleicht war das auch gar nicht der Punkt. Was hatte Delia gesagt? Nichts war sicher. Und der Strom vor ihm daher tatsächlich endlos.
Möglichkeiten, keine Realität. Es gab kein Entkommen, wenn er zu kontrollieren versuchte, was nicht zu kontrollieren war. Simon ließ schlicht los, erlaubte den Eindrücken an ihm vorbeizuziehen, durch ihn hindurch, ohne sie sich anzusehen. Und plötzlich gelang es ihm. Nur noch einzelne Bilder fanden ihren Weg in seinen Verstand. Und diesmal brauchte er nicht lange, um zu begreifen, zu was sie gehörten. Er sah sein Leben. Augenblicke… Ausschnitte, einzelne Momente. Er sah Feuer, roch den Geruch von Blut und Schießpulver… das Klirren der Schwerter. Er sah endlose Schlachtfelder, spürte Schnitte und Wunden, die er erst Jahre später
erleiden sollte…. Dann war dieser Abschnitt vorbei. Stattdessen sah er vor sich eine gewaltige, aus Marmor errichtete Halle. Das Gemälde, das an ihrer Decke prangte, war ihm vertraut, ebenso wie der aus honigfarbenem Stein errichtete Sitz in ihrem Zentrum. Doch die Gestalt, die darauf saß, war nicht Tiberius, auch wenn sie vom Aussehen her im gleichen Alter sein könnte. Es war er selbst, mit grauen Haaren…. Doch sein Gefühl sagte ihm, das zwischen jetzt und dieser Vision unmöglich so viel Zeit vergangen sein konnte. Doch dann gab es nur eine Erklärung für das was er sah. So wie Volero… , dachte Simon. Er kannte den
Preis der Magie zu gut. Und das hieß, ihm blieb nur wenig Zeit.
„Bin das wirklich ich?“, fragte er in die Leere hinein. Natürlich erhielt er keine Antwort, stattdessen wechselte die Szenerie erneut in einem Wirbelwind aus Eindrücken und Bildern. Er sah ganze Generationen an sich vorüberzeihen, Kaiser, Fürsten, Könige, Menschen wie Gejarn, Schatten und Licht, Gut und Böse… er wusste nicht, wie viele Jahrhunderte vergangen sein mochten, doch plötzlich fand er sich selbst über den Ozean schweben, weg von der Küste Cantons und auf eine nebelverhangene Klippe zu… und dann spürte er es. Eine Präsenz, etwas Bedrohliches, das sich
hinter den von Feuerlanzen durchbrochenen Nebelbänken verbarg… und lauerte. Obwohl er wusste, dass es nur eine Vision war, war das Gefühl der Bedrohung erdrückend. Verglichen hiermit wirkte das Ding aus den Katakomben geradezu zwergenhaft, ein Witz… und was immer da draußen war… es lachte, wie Simon klar wurde. Es wusste, dass er es spürte, selbst über Raum und Zeit hinweg, wusste, dass er es bemerkt hatte… und es lachte ihn aus, lachte über die Menschen, die Gejarn, Canon, Helike über alles was geschehen war und geschehen würde….
„Ich fürchte Euch nicht.“, erklärte Simon ohne zu wissen, ob das stimmte.
Das Lachen jedoch wurde nur lauter, klang nun beinahe amüsiert….
„Ihr wisst nicht einmal, womit ihr es zu tun habt, kleiner Zauberer…“ die Stimme war hämisch, düster ohne jeden Hall. Als er glaubte, dass ihn das Geräusch wahnsinnig machen würde, brach plötzlich alles zusammen. Die Dunkelheit war verschwunden, die Visionen waren erloschen, der Gesang verstummt du die Gestalt zu seinen Füßen zerfiel zu Staub. Simon stand wieder inmitten des Steinkreises, als hätte er sich nie bewegt…. Mit einem gewaltigen Donner zersprang die Kristallkuppel über ihren Köpfen und feine Trümmer rieselten herab,
vermischten sich mit dem Schnee….
Das Licht der bereits hoch am Himmel stehenden Sonne brach sich auf den Splittern, manche davon so groß und scharfkantig wie Dolche. Doch, als würde etwas die Scherben ablenken, wurden weder Simon noch einer der Seher verletzt, während die Reste der Kuppel in sich zusammenfielen. Hatte er bestanden?, fragte er sich. War das das Ende der Prüfungen?
„Was… Was ist passiert?“, fragte einer der Seher zaghaft um dann schärfer hinzuzufügen:
„Was bei allen Göttern, habt Ihr getan?“
„Gar nichts.“ , erklärte Simon und
starrte zur zerstörten Kuppel hinauf. Nein, das war nicht er gewesen… doch offenbar hörte man ihm überhaupt nicht zu. Die zwölf versammelten Seher redeten durcheinander, einige riefen Beschuldigungen in Richtung Delia. „Delia, was habt Ihr da hierhergebracht?“
„Genug.“, rief die Seherin nun selbst offenbar am Ende ihrer Geduld. Ihre Stimme übertönte alles andere und tatsächlich verstummten nach und nach auch die letzten Streitgespräche. Mit entschlossenen Schritten trat sie von den Monolithen weg zu Simon in die Mitte des Kreises. Einen Moment stand sie direkt vor ihm, keine Handbreit entfernt,
als versuche sie in seinem Blick zu ergründen, was geschehen war.
„Was immer Ihr gesehen habt.“, flüsterte sie schließlich. „Es war nur für Euch bestimmt. Behütet es gut, Simon. Eure Bürde wird nicht leichter werden. Aber zumindest werdet Ihr wissen, wofür Ihr kämpft.“
Simon nickte. Er hatte es gesehen. Einen flüchtigen Blick auf die Zukunft, die auf ihn folgen sollte. Er würde nicht alle Missstände in Canton beheben. Aber das war vielleicht auch gar nicht möglich. Aber er würde einen Weg ebnen… und am Ende dieses Weges…. Stand die Finsternis. Etwas unvorstellbares, düsteres… ein Feind der
sich noch gar nicht enthüllt hatte.
Er schüttelte die unheimliche Stimme ab, die er gehört hatte.
Delia wendete sich derweil wieder an die übrigen Seher.
„Simon hat überlebt und damit bestanden. Will das irgendjemand hier anzweifeln? Vielleicht sollte ihr endlich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es auch für uns Überraschungen gibt.“
„Er mag bestanden haben.“, merkte einer der übrigen Seher an. „Aber nach wie vor ist eine Armee des Kaiserreichs auf dem Weg hierher und ich glaube nicht, dass sie nur wegen ihm hier sind.“
„Nein…“ Delia seufzte. „Lasst uns alleine.“
Simon rechnete eigentlich fest damit, dass die übrigen Seher protestieren würden. Stattdessen jedoch drehten sich die elf Gestalten in ihren blauen Mänteln nur wortlos um und gingen.
Delia wartete, bis sie alle verschwunden waren, bevor sie weitersprach:
„Euer alter Freund wird sich nicht davon abbringen lassen, der Träne hinterherzujagen. Und wenn ihn niemand stoppt, wird er uns vernichten. Aber er wird nicht bekommen, weshalb er hierher kam, Simon. Ich kenne einen Teil Eurer Zukunft. Und ich weiß, dass Ihr ihn jetzt auch kennt. Aber Ihr habt immer eine Wahl, besonders jetzt….“
„Aber ihr wollt mich darum bitten, diesen Weg zu Ende zu gehen.“
Statt einer Antwort, zog Delia lediglich einen schwarzen, tropfenförmigen Stein aus ihrer Manteltasche und hielt ihn Simon hin.
„Simon Belfare. Ihr sollt dies wissen. Es waren die Seher, die den ersten Herrscher des Imperiums krönten. Kirus Ordeal schwor uns einen Eid, dass er die Menschen beschützen würde, nicht sie versklaven, das er wachsam sein würde nicht blind. Das er sich der Finsternis stellen würde, die nach uns greift um sie mit allen Mitteln zu vertreiben. Doch sein Schwur ist lange vergessen und seine Erben ehren ihn nicht mehr. Es
steht uns zu, diese Krone zurückzuziehen und neu zu verleihen. Wenn Ihr sie den wollt… zusammen mit allem anderen, was rechtens Euer ist und der gesammelten Unterstützung der Seher. Zieht Ihr für uns in diese Schlacht, obwohl wir euch all diesen Prüfungen unterzogen haben? Oder überlasst Ihr uns dem Schicksal, das wir vielleicht verdienen?“
„Was ist, wenn ich nach allem was geschehen ist, entscheide, dass ich diese Macht nicht will? Ich werde Euch nicht dem Tod überlassen, Delia. Nicht Euch, nicht die anderen, nicht Euer Volk. Aber antwortet ehrlich.“
„Wie in allen Dingen. Ihr habt jetzt
die Wahl. Nehmt den Stein oder bleibt, wie Ihr seid. Nehmt die Krone oder überlasst sie jemand anderem. Stellt Euch Eurem alten Rivalen… oder flieht. Aber wenn Ihr nur eines dieser Dinge tut, nur die Krone wollt, nur Rache oder nur Macht werdet Ihr versagen. Alles, oder nichts. Es gibt keine andere Möglichkeit. Entscheidet euch….“
Simons Hand verharrte halb ausgestreckt über der Träne. Und er wusste, dass es die richtige Entscheidung war, noch bevor er den Stein schließlich an sich nahm….