Am Boden des Glases
Was rechtschaffen ist, wird niemals fallen.
Und weil das unanzweifelbar stimmte, gab es für Thomas Rhaims keinen Grund, nicht noch einen weiteren Scotch zu bestellen, obwohl es ihm immer schwerer fiel, nicht vom Barhocker zu kippen.
All das war ihm trotz seines fortgeschrittenen Stadiums abendlichen Alkoholkonsums vollkommen bewusst, denn, wie er nun schon vor einer gefühlten Ewigkeit festgestellt hatte, vermochte das Gift zu allem Überfluss
nur seinen Körper zu betäuben, wohingegen sein Geist klar blieb wie Kristallglas, bis es ihm irgendwann doch die Lichter ausknipste. Das bedeutete zwar nicht, dass er nicht auch bei dieser Bestellung zwei Silben verschluckte, allerdings wusste er genau, dass er sie verschluckte.
Die Bardame wagte es nicht einmal, ihm einen missbilligenden Blick zuzuwerfen, was sie gleichwohl getan hätte, wäre ihr nicht längst klar gewesen, wer oder viel besser was er war.
Der schwertförmigen, eisernen Anstecknadel am Revers seines schwarzen Filzmantels brachte niemand, der noch bei Sinnen war, Verachtung
entgegen, auch dann nicht, wenn ihr Träger augenscheinlich gerade dabei war, sich unter den Tisch zu saufen.
Aber dazu, so erkannte er, als er das Glas ansetzte, würde es heute nicht kommen. Er erlebte einen Moment eigenartiger Klarheit, Klarheit, die ihm in nüchternem Zustand fehlte und die ihm sagte, dass er nichts von dem hatte, was er gerade tat, eben weil es seinen Geist nicht betäubte.
Er donnerte das Glas zurück auf den Tresen, sodass ihm vom Scotch nur eine Wolke rauchigen Torfgeruchs blieb.
Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist...
„Sei's drum“, murrte er, wobei es ihn
explizit nicht kümmerte, dass ein Glas dieses von der Erde stammenden Getränks in den Weiten des Alls ein halbes Vermögen kostete.
Das Spesenkonto, welches die Regierung den seinen gestattete, war mehr als üppig und vermutlich der einzige Grund, aus dem sie ihre Rechnungen überhaupt bezahlten.
Sentinel, so nannten sich die Angehörigen dieser Spezialeinheit, die weder an Recht noch Gesetz gebunden war. Nur ihrem eigenen Gewissen, das in den meisten Fällen über alle Maßen degeneriert war, verpflichtet, ersetzten sie das Rechtssystem der Vereinten Menschheit über all da, wo die
Zentralverwaltung auf der Erde keinen Einfluss hatte, wo bestehende Strukturen nicht funktionierten oder wo simpel ein Mann für die unsubtilste aller Lösungen gebraucht wurde.
Da die Sentinels nicht zwangsweise im Geheimen arbeiteten, war ihre Existenz im All keinesfalls unbekannt, und Rhaims war schon der einen oder anderen Person begegnet, der es deutlich missfallen hatte, dass es Leute gab, die sie - zumindest in der Theorie - einfach über den Haufen schießen konnten, ohne dafür Konsequenzen fürchten zu müssen. Von einem Disziplinarverfahren, das im schlimmsten Fall mit dem Verlust von Amt und Privilegien endete, einmal
abgesehen.
Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich lächeln, denn er entsann sich zwar eines Sentinels, der vor einigen Jahren ausgeschaltet worden war, nachdem er sich selbst gegen die Regierung gestellt hatte, allerdings kam ihm keiner in den Sinn, der wegen disziplinarischen Gründen ausgeschieden war.
Wenn die Regierung ihre Sentinels als Hände der Gerechtigkeit propagierte, war Rhaims die Groteske darin durchaus bewusst.
Ob es ihn kümmerte?
Er lachte erneut und zahlte mittels eines Gedankengangs, der einem
hochtechnisierten Handschuh an seiner Linken befahl, den bargeldlosen Zahlungsvorgang einzuleiten. Inzwischen besaß fast jeder Mensch in den Weiten des Weltalls einen eigens mit seinem Nervensystem verknüpften Computer, meist in Form eines Handschuhs. Er diente zur Identifikation, Kommunikation, Ortung, Unterhaltung, als technischer Knotenpunkt eines digitalen Kollektivorganismus und dessen allsehender Überwacher. Dabei variierte das Aussehen des Geräts je nach Gehaltsklasse seines Träger zwischen einem klobigen Geschwür aus Platinen bis hin zu Exemplaren, die, wie in
Rhamis' Fall, kaum von einem normalen Lederhandschuh zu unterscheiden waren.
Als er sich vom Barhocker erhob, blitzte ein sengender Schmerz durch sein rechtes Knie, den auch der Alkohol kaum zu mindern mochte. Lediglich die Tatsache, dass er seinen Körper nur allzu gut kannte und darauf vorbereitet gewesen war, verhinderte, dass er strauchelte. Dabei war er wohl überrascht, dass er noch nicht torkelte.
Ohne der Bardame noch einen Blick zuzuwerfen, marschierte er an den übrigen Tischen des durchaus noblen Establishments vorbei dem Ausgang entgegen.
Ihm war die beengende, rustikale
Atmosphäre von verrufenen Pubs und Hinterhofkneipen stets lieber gewesen als die Glastempel moderner Hochglanzrestaurants. Bedauerlicherweise schenkte man in jenen Schuppen, wo man nach dem Eintreten das Tageslicht nicht mehr sah, außerhalb der Erde nur unerträglichen Fusel aus.
Über einfallendes Tageslicht allerdings hätte er sich auch hier nicht beschweren können, befand er sich doch in Mitten von Ikarus-III, einer gewaltigen Raumstation nahe des Neptun. Entsprechend erwarte ihn außerhalb des Restaurants keine nächtliche Straße, mit Laternen und wartenden Taxen, sondern
ein breiter Gang mit hellen Metallwänden, dem das grelle Neonlicht die Ästhetik eines Krankenhausflurs verlieh. In der Mitte des Tunnels surrte ein Laufband, auf dem soeben eine alte Dame, drei kichernde Mädchen und ein paar fiebrig wirkende Männer in den Overalls der Stationstechniker vorbei drifteten. Das Kichern der drei jungen Frauen erstarb, als sie ihn entdeckten.
Rhaims allerdings ersparte es ihnen, sich ebenfalls auf das Laufband zu gesellen. Er ging lieber, obgleich der Gang so lang war, dass man seine Krümmung kaum bemerkte und jeder Schritt schmerzte. Eine fleischliche Erinnerung.
Etwa zehn Minuten später erreichte er einen der unzähligen Hochgeschwindigkeitsaufzüge, der ihn mitsamt zwei Dutzend anderer Personen etliche Decks tiefer zu den Docks von Ikarus-III trug. Dort entwuchsen dem zentralen, röhrenförmigen Torso der Station etliche Landungsstege, die wie Finger ins All ragten und der gesamten Struktur das Aussehen einer überdimensionalen Qualle verliehen. An den meisten Docks lagen kleinere Shuttles in der Schwebe und erinnerten dabei merkwürdig an gepanzerte Käfer, die auf einem Ast ruhten, um Sonnenschein zu tanken. Ihre Reaktoren
lieferten ausreichend Energie für zwei bis vier ÜLG-Sprünge, hin und zurück, die Kurztrips des Universums.
Zwischen den Shuttles ragten die riesigen Rümpfe, klobiger Weltraumfrachter auf, von denen die meisten niemals das Innere einer Atmosphäre sehen würden und daher eine enttäuschend undynamische Form besaßen.
Was nicht immer von Vorteil ist, murrte Rhaims in Gedanken, bevor er diese Erinnerung hinfort schob und stattdessen durch die verglaste Außenwand des Rundgangs beobachtete, wie unter der Aufsicht einiger Techniker längliche, fassförmige Behälter in eines
der Shuttle verladen wurden.
Menschliche Fracht.
Die meisten Weltraumreisenden bestiegen an ihrem Abflugort eine Stasekapsel, in der sie die Kräfte während des ÜLG-Sprungs überstanden. Danach wurden sie verladen wie ein Gepäckstück und, so denn alles gut ging, am Zielort wieder ausgepackt.
Rhaims' Stirn legte sich in Falten, während er dem zusah und die Vorstellung erzürnte ihn, dass er alsbald selbst in einer solchen Kapsel stecken würde. Er sperrte sich dagegen, sich paranoid zu nennen, doch verabscheute er sowohl die Herabwürdigung seiner selbst zu einem Frachtstück als auch den
Kontrollverlust. Wer einmal in der Kapsel festsaß, musste sich vollends darauf verlassen, dass man ihn auch an das gewünschte Ziel brachte und, was noch viel wichtiger war, überhaupt wieder aufweckte.
Er konnte gut verstehen, dass die meisten Menschen lieber auf einem Planten blieben, als sich in den Weiten des Weltraums herum zu treiben. Andere aber hatten keine Wahl.
Das war deine Entscheidung, ertönte eine Stimme in seinem Geist, der er darauf hin nur mit „Halt die Klappe!“, antwortete.
Fünfzehn Minuten später fand er sich im Inneren des röhrenförmigen
Landungsstegs wieder, an dessen Ende Charon V lag, jenes Shuttle, welches ihn zu seinem Ziel bringen sollte: Cyro Omega, ein Eisplanet irgendwo am Rande des bekannten Universums.
Dabei war er allerdings noch nicht in eine Stasekapsel gepfercht und in künstlichen Schlaf versetzt, sondern marschierte immer noch auf eigenen Beinen. Sehr zu seiner Freude würde er den Flug nur mit den drei Crewmitgliedern antreten und so die interne Stasestation an Bord nutzen können. Das änderte faktisch nichts daran, dass er den Sprung in vollkommener Ohnmacht verbringen würde, aber zumindest musste er sich
nicht verladen lassen.
Was rechtschaffen ist, wird niemals fallen, sagte er sich, als er den schwarzen Schlund der Charon betrat. Im Zweifelsfall war er wenigstens nicht vollends nüchtern.