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Die Therapiemaschine
Die Therapiemaschine
Eine spurenhafte Ahnung von der Natur des Träumens
Deutungsversuch zwischen Sadismus und emotionaler Wiederaufbereitung
An diesem Tag kamen mehrere Dinge zusammen. Zuerst, morgens beim Aufwachen aus meinen Träumen, eine nicht gekannte, beeindruckend schöne, tiefe Ruhe. Weiches, zögerndes Herübergleiten vom Schlafen zum Wachsein. Dann, nachmittags, dieser absolut dazu passende online-Artikel
über Albträume sowie ein geposteter Kommentar eines Lesers. Zusammen ergab sich für mich daraus ein Hauch von fröhlicher Erkenntnis, eine spurenhafte Ahnung obwohl mein Traum kein Albtraum gewesen ist.
Albträume, so las ich auf dem Monitor, haben einen schlechten Ruf. Dabei sind sie ein Grund zur Freude. In gewisser Weise machen Sie uns zu besseren Menschen. Warum das so ist, erklärt das New York Magazine in einem zum Artikel gehörenden Video, das ich anklickte. Albträume sind keine Sadisten, sondern Therapeuten, sagten darin die Strichmännchen in ruckligen,
skizzenhaften Bildern. Und weiter: Reale Ängste, aber noch mehr irrationale Phobien können uns den Tag vermiesen. In extremen Fällen gerät so das ganze Leben aus den Fugen. Gut, dass wir schlecht träumen, wurde geschlussfolgert.
Bei einem Albtraum verwandelt das Unterbewusstsein gegenwärtige Ängste in vergangene Geschichten mit einem Anfang und - noch wichtiger - mit einem Ende, so der Artikel. Es macht aus Gefühlen eine Erinnerung. Dadurch wird unsere Furcht eingeordnet, wir verleihen ihr einen Kontext im Zusammenhang mit unserem
Selbst, las ich. Schlussendlich war ja alles nur ein Traum. Ende.
Ich freute mich sehr, dies gelesen und gesehen zu haben. Denn nicht erst seit heute Nacht, schon seit einiger Zeit entwickle ich ein neues Traumgespür. Glaube ich.
Nicht vor jeder Nacht, aber immer häufiger, freue ich mich auf meine Träume. So eine, früher nicht gekannte, freudige Erwartung. Ein Kribbeln, jedes Mal intensiver durch die Erfahrung, wie schön das sein kann und wie spannend das wohl in der bevorstehenden Nacht wieder wird.
Es fühlt sich an, wie eine unendliche Dimensionalität, Sinnesvielfalt und Erlebnisbreite. Immer gänzlich neu. Besonders heute Morgen, wie gesagt, beim Aufwachen, irgendwo noch freudig schwebend zwischen den Dimensionen. Sozusagen nach dem Durchlauf durch eine Art Waschanlage, die der Seele ihr Strahlen wieder ein wenig zurückgegeben hat. Emotionale Wiederaufbereitung. Alles wieder gut?
Manchmal scheint es, als wenn die letzten Gedanken vor dem Einschlafen eine Möglichkeit bieten, die Richtung des Traums mitzubestimmen. Nicht zu bestimmen. Nur die vage Möglichkeit,
ein wenig zu Thematik und Inhalt beizutragen.
Ich probiere es aus. Ich übe, um es zu verbessern. Das geht, meine ich. Ich muss nur dran bleiben. Da scheint so viel mehr möglich mit unserem Gehirn. Noch ist es nur so eine Ahnung, eine schwache Spur.
Ich lese am Nachmittag desselben Tages auch in dem geposteten Kommentar von Jemandem, der sagt, dass es für ihn keine Albträume gibt. Egal wie gruselig oder seltsam ein Traum ist. Er freut sich über jeden, an den er sich am anderen Morgen erinnern kann. Für ihn sind sie
eine Bereicherung, keine Belastung. So wie ich, freut auch er sich schon auf die nächste Nacht, und was sie ihm an seltsamen, witzigen oder auch gruseligen Träumen bringen wird.
Heute Morgen habe ich mir zum ersten Mal beim Aufstehen ein Stichwort notiert. Als Merker. Nur das Wort „Therapiemaschine“. Das war noch vor der Lektüre des online-Artikels und des dazu geposteten Kommentars. Im Artikel war das Wort Therapie ausdrücklich genannt. Ich war verblüfft über diese parallele, treffende Wortwahl. Für ein so tief empfundenes Traumerlebnis. Es bewahrt mir die sichere Erinnerung an
das, was (mit mir) in meinem Kopf geschah. So deutliche Erinnerungen an meine Träume hatte bisher nie mitgenommen.
Ich kann mir also Zeit lassen. Mit dem Darübernachdenken. Mit dem Aufschreiben. Mit dem Werten und Deuten.
Das beruhigt und beunruhigt mich gleichzeitig. Soll ich meine Traumgeschichte erzählen, die mich so berührt hat, tief drinnen?
Versuchen kann ich es. Ich bin erst am Anfang.