Meine allererste Vorlesung während meines Studiums war allgemeine Betriebswirtschaftslehre, kurz ABWL. Der Dozent, ein schneidiger, wahnsinnig beschwingter, hundert-Euro-Kurzhaarfrisur-tragender Mann von höchstens vierzig Jahren, spazierte in seinem königsblauen Honecker-Gedächtnis-Anzug zur Tür herein und grüßte freundlich in die Runde. In den Händen trug er einen großen Karton. »Da ist doch hoffentlich Ihr Frühstück drin«, witzelte ich. Er guckte mich kurz erstaunt an, grinste dann und sagte: »Oh ja, geistiges Frühstück!« Darauf lachte er, wie damals nur Leute lachten, die ein FDP-Parteibuch besaßen. Das Skript zur
Vorlesung, das in n-facher Ausführung in diesem Karton lag, war fürchterlich dick, und ich ahnte, bis zur Prüfung am Semesterende würde ich all diesen Kram irgendwie in mich hineinfressen müssen. Tipp: Keine Angst vorm Lernen! Das In-sich-hineinfressen von Wissen führt keinesfalls zu akuten Kotzanfällen, selbst dann nicht, wenn die halbe Nacht durchgepaukt wird. Sollte der lernende Proband wider Erwarten doch anschließend mittels Brüllen in die Kloschüssel die Nachtruhe stören, war einfach nur die zehnte Tasse Kaffee eine zu viel.
Der Mensch hat ja keine Ahnung, wie
viel Kram er tatsächlich lernen kann, bis er es einmal tun muss. Man stellt sich das menschliche Lernvermögen ja immer – Al Bundy-Fans werden sich erinnern – ganz gern wie das Abstellen von Gegenständen auf einem Regal vor: Hier ein Büchlein mit BWL-Stoff, da das Schächtelchen mit dem Grundlagenwissen zur VWL, dann ganz vorsichtig noch die Finanzsbuchhalt... verdammt, jetzt ist doch glatt die Ming-Vase mit den kostbaren Actionfilmzitaten vom Regalbrett runtergefallen, direkt auf das eingestaubte Fabergé-Ei mit den von Omi überlieferten Plätzchenrezepten. Beides futsch, alles vergessen. Mist!
Aber so ist es eben nicht. Der Mensch ist in der Lage, unendlich viel nützliches wie unnützes Zeug zu lernen. Das meiste davon braucht man nie wieder wirklich, höchstens, um sich auf Partys unbeliebt zu machen. Einfach mal in illustrer Runde ein Bier öffnen und direkt nach dem ersten Schluck das Gossensche Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen herbeten, schon wird man für den Rest des Abends gehasst wie Fußpilz im Wohnheimklo. Mein Tipp an dieser Stelle: nicht ausprobieren! Zack, und schon wieder hat jeder was gelernt, ohne was anderes vergessen zu müssen. Wer das nicht glaubt, möge sein Sammelsurium an Filmzitaten ruhig
durchgehen. Alles noch da, richtig? Na also. Yippie-Ya-Yeah, Schweine...priester.
All das Wissen, das man in seinem Leben hortet, kann eine ziemliche Last sein. Nicht nur, weil man damit längst zu »Wer wird Millionär?« gehen könnte, es aber nicht tut, aus Angst, direkt bei der Fünfzig-Euro-Frage abzustinken – was, wie inzwischen bewiesen wurde, durchaus möglich ist. Nein, auch deswegen, weil man all den gesammelten Kram nicht mitnehmen kann, wenn irgendwann einmal der dürre, schwarzgekleidete Mann vor der Tür steht, der nicht über Gott sprechen
möchte, dafür aber eine Sense mitbringt. Noch schlimmer: Im Alter verkalken, sodass zwar all das Wissen noch im Hirn steckt, der Zugang dorthin aber unwiderbringlich verlorengegangen ist. Wie Kleingeld, von dem man ganz genau weiß, dass es irgendwo in diesem verdammten Sparschwein noch drinstecken muss, das aber festklemmt, sodass man es mit einem spitzen Haken herausnesteln muss. Tipp an dieser Stelle: Dies war nur ein Vergleich. Das mit dem Haken sollte keinesfalls aufs menschliche Gehirn und das dort vergrabene Wissen übertragen werden. Derart gequirlten Blödsinn haben zuletzt die alten Ägypter mit ihren Pharaonen
veranstaltet, mit der direkten Folge, dass diese zweitausend Jahre später nicht, wie verdient, in Frieden ruhen dürfen, sondern seit jeher in irgendwelchen Museen herumstehen und einstauben. Hier werden sie zu allem Überfluss von Bazillionen an gelangweilten Schulkindern begafft, die, statt sich in Klopapier eingewickelte Leichen anzugucken, vermutlich viel lieber Pokémon zocken würden. »Shiggy greift Tutanchamun mit Aquaknarre an. Es ist sehr effektiv.« Will man denn so enden? Ich glaube ja nicht.
Das Wissen an sich hat also schon mal nur eine begrenzte Lebensdauer, deren
Ende spätestens dann erreicht ist, wenn nach dem Ableben aus dem einstmals prachtvollen Hirn ein schrumpliges Würmergulasch wird (sofern es eben nicht von Altägyptern per Pürierstab zu Maggi-Fix-Rahmsauce verarbeitet wurde). Davon abgesehen spricht man leider auch noch von der Halbwertzeit des Wissens. Die hat nichts mit der Güte des eigenen Denkapparats zu tun, sondern ist daran gebunden, wann ein Wissen seinen Nutzen verliert. Ein einfaches und allseits bekanntes Beispiel ist das Wissen um den Eisengehalt des Spinats. Dass Spinat sehr viel Eisen enthielt, war so lange gut zu wissen, bis es schlicht und ergreifend nicht mehr
stimmte. Millionen unter Eisenmangel leidende Kinder, denen der von Mutti aufgezwungene Spinat noch aus den Mundwinkeln hing, konnten aufatmen. Okay, blödes Beispiel. Hier ein akkurateres: Angenommen, ich hätte irgendwann einmal gelernt, wie ein Röhrenmonitor funktioniert – und ja, das habe ich –, dann wäre die Halbwertzeit dieses Wissens inzwischen überschritten. Die Dinger findet man heute höchstens noch in Museen oder in den Büros von Einwohnermeldeämtern. Es war schön zu wissen, wie die dicken Kisten funktionierten, bis eben der Tag gekommen war, an dem keine Sau mehr so ein Ding besaß. Zusätzlicher Tipp an
dieser Stelle: Partygäste, denen der Gossensche Grenznutzen schon nicht gefällt, sind auch wirklich nur äußerst selten daran interessiert zu erfahren, wie ein Röhrenmonitor funktioniert. Das Feststellen derartiger Zusammenhänge bezeichnet man als Datamining, aber auch hier gilt: Trägt der potenzielle Party-Kommunikationspartner nicht gerade ein Warhammer-40,000-Shirt und balanciert eine Brille aus zusammengezurrten Flaschenböden auf der Nase, wird er sich kaum für die Vorzüge von Datamining interessieren. Und DAS nennt man übrigens Vorurteil.
Leute, die sich einen gut gepflegten
Garten aus Vorurteilen halten, meinen meist auch, das Wissen insgesamt gepachtet zu haben. Klar, auf irgendwas muss das Unkraut aus Klischees und Ignoranz ja auch wachsen, das sie für ein hübsches Blumenbeet halten. Mitunter sind solche Menschen leicht zu erkennen: Tragen sie beispielsweise absichtlich kein Haupthaar und haben eine chronische Starre im rechten Arm, dann erübrigt sich ein intellektueller Diskurs mit ihnen zumeist. Mein Tipp: Führen diese Leute Argumentationshilfen in Form nordamerikanischer Sportschlaggeräte bei sich, dann gilt: Maul halten und rennen, was das Zeug hält! Schon schwerer zu erkennen ist
eine andere Kategorie von Menschen: nämlich jene, die erst mal völlig gewöhnlich aussehen, mit einem ziemlich normalen Gesprächsthema einsteigen, nur um dann ganz fix darauf umzuschwenken, dass sie ziemlich genau wissen, wie der Hase läuft und wie wir von »denen da oben« ferngesteuert werden. Plötzlich werden wir reihenweise von der Lebensmittelindustrie vergiftet, von der Pharmaindustrie sowieso, und bei allem Blabla denkt man unweigerlich: Freund Blase, wenn du ganz genau weißt, dass uns jeder vergiftet, weshalb klappt es dann bei dir nicht? Solche Menschen meinen gerne, alles zu wissen, sind aber
in erster Linie vor allem eines: saublöd! Drum hier mein abschließender Tipp: Jedes Gespräch vermeiden und lieber noch einen Schluck nehmen, solange das Bier kalt ist. Schlauer wird man davon zwar auch nicht, mehr Spaß bringt es aber allemal. Muss man wissen.