eine tolle begegnung
Ich soll für den privaten Fernsehsender unserer Stadt eine Reisereportage erstellen. Mit Camcorder und viel anderem technischen Gerät. Naja, das wird schon schief gehen. Die Leute vom Sender hatten dafür eine Anzeige geschaltet, welche ich zunächst für eine ZEITUNGSENTE gehalten hatte. Dann traf ich mich mit meiner besten Freundin und sie überredete mich, meine Bewerbung für dieses Projekt abzugeben. Und ich habe prompt den Zuschlag erhalten. Nun, an Zeit und Lust mangelt es mir nicht.
Ein Abenteuer! Und wer will das nicht? Eine Reisereportage in einem Land, in welchem niemand Deutsch versteht. Und ich kann außer ein paar Brocken Englisch überhaupt keine Fremdsprachen. Trotzdem will ich mir beweisen, dass auch Frau allein so etwas meistern kann. Mein Budget ist so dürftig wie möglich bemessen: pro Tag stehen mir 2 € zur Verfügung. Ich muss mich eben irgendwie durchschlagen. Einzig die Übernachtungen in Privatunterkünften sind vorgebucht. Ein dicker Packen Vouchers findet sich in den Unterlagen. Für alle Strecken habe ich die Verkehrsmittel vorgegeben bekommen und dafür auch entsprechende
Tickets. Diese sind aber nur für den festgelegten Tag, eine bestimmte Uhrzeit und den genauen Abfahrtspunkt gültig. Vor Reiseantritt musste ich mich verpflichten, diese Vorgaben einzuhalten.
Für den heutigen, den letzten Tag steht mir ein vollgetankter Mietwagen zur Verfügung. Er steht bereits vor meinem Quartier und ich setze mich erwartungsvoll ans Steuer, nachdem ich ein ausgiebiges Frühstück verzehrt habe. Ab diesem Augenblick gilt das Budget. Und am späten Nachmittag muss ich die Fähre zu der größeren Nachbarinsel erreichen. Von dort soll es noch in der Nacht mit dem Flieger in die
Heimat zurückgehen.
Am Vorabend habe ich das beigefügte Kartenmaterial studiert, um mir die zu fahrende Strecke gut einzuprägen. Von wegen Navi! Wenn ich nicht weiter weiß, muss ich eben fragen. Bisher hat das mit Händen und Füßen und den entsprechenden Tickets immer gut geklappt. KOMMUNIKATIONS-SCHWIERIGKEITEN hat es deshalb im Alltag so gut wie nie gegeben. Doch diese verflixte letzte Strecke führt durch die absolute Pampa. Nichts außer dieser Sandpiste. Als Straße kann man das nicht bezeichnen. Und links und rechts nur stachelige Sträucher,
duftende Kräuter, größere und kleinere Felsbrocken und ab und zu ein atemberaubender Blick auf das blaue Meer. Als sich die Straße in mehrere, gleich aussehende Pisten gabelt, verliere ich die Orientierung. Ich kann diese Stelle auf meinem Plan auch nicht finden. So fahre ich nach Gefühl in irgendeine Richtung weiter. Es wird schon gut gehen. Und schließlich hilft mir immer wieder der Blick zum Meer.
Nach einer äußerst scharfen Kurve führt die Straße steil bergab. Das Auto hoppelt über größere und kleinere Steine. Dann tut es einen lauten Schlag und nichts mehr bewegt sich. Was nun?
Ich steige aus, gehe um das Fahrzeug herum, öffne die Motorhaube, sehe hinein und bleibe unschlüssig stehen. Ich habe wirklich keine Ahnung.
Ich setze mich auf einen Felsen, fingere nach meinem Handy und stelle entsetzt fest, dass es keine Verbindung gibt. Auch das noch! Wenn ich wenigstens die Orientierung nicht verloren hätte. Ein gutes KRISENMANAGEMENT würde mir jetzt sicherlich weiterhelfen können. Der Blick auf meine Armbanduhr lässt Panik in mir ausbrechen. In genau drei Stunden muss ich auf der Fähre sein.
Ich will mich gerade meinem Schicksal ergeben, als von irgendwoher ein fröhliches Pfeifen erklingt. Ob mir dieser Jemand weiterhelfen könnte? Dann steht ein junger Mann vor mir, besser gesagt, ein Bild von einem Mann. Er sieht die offene Haube des Autos, nickt kurz zu mir herüber und dann verschwindet sein Kopf auch schon im Inneren des Fahrzeugs. Ein Rütteln hier, ein Rütteln dort, der Kopf taucht wieder auf und der Mann bedeutet mir, hier zu warten. Er verschwindet eilends zwischen den Stachelbüschen auf einem unsichtbaren Weg. Sollte in dieser Einöde wirklich ein Haus sein? Das wäre geradezu meine Rettung!
Wenig später erscheint er wieder, murmelt Unverständliches, hält ein merkwürdiges Gerät in das Auto und lässt dann einen Redeschwall in einer fremden Sprache los. Ich nähere mich neugierig und entdecke auf dem Gerät den Aufdruck VOLTMETER. Was auch immer das ist, ein Zeigerausschlag scheint Auskunft über das Schicksal meines Autos zu geben. Der Mann schüttelt ungläubig den Kopf, verschwindet dann erneut und kommt nach geraumer Zeit mit einem schwergewichtigen Gegenstand zurück.Ich erschrecke, denn der Fremde bringt eine nagelneue Autobatterie mit. Gekonnt baut er das
Ding ein. Dann startet er den Wagen. Sofort springt das Auto wieder an! Mein Tag ist gerettet! Denke ich!
Der junge Mann grinst frech, wischt seine schmutzigen Hände an seiner alten Jeans ab, fasst mich völlig unvorbereitet um die Taille und drückt mir einen fetten Kuss direkt auf den Mund. Ich bin schockiert, schleudere ihm eine Schimpfkanonade in deutscher Sprache an den Kopf und hätte ihm am liebsten noch mit einer kräftigen Ohrfeige seine Hilfe gedankt. Der Mann lacht schallend.
„JÜRGEN MILSKI“, stellt er sich grinsend vor. „Das haben wir doch toll
hinbekommen, nicht wahr?“
Ich bin so verdutzt, dass ich den Mann nur schweigend ansehen kann. Dann breche auch ich in lautes Gelächter aus. Da steht also der bekannte Fernsehmoderator von 9live vor mir und ich habe ihn nicht erkannt. Rasch nenne auch ich meinen Namen.
„Was soll denn das heißen, das haben wir toll hinbekommen?“
„Nun, die Panne war geplant. Ein kleines Abenteuer sollte es schon geben. Außerdem wollte ich dich unbedingt näher kennenlernen. Wir haben von eurer
kleinen Fernsehreportage gehört und angefragt, ob wir uns anschließen dürfen. Nun wollen wir für unsere Zuschauer auch ein persönliches Porträt von dir bringen. Am besten kommst du mit zu dem kleinen Bauernhaus, in welchem ich derzeit untergebracht bin.“
Vor Aufregung habe ich feuchte Hände bekommen. Der Fernsehmoderator und ich! Seit Monaten schwärmen meine Freundin und ich nur noch von ihm. Und jetzt das und hautnah dazu. Gemeinsam legen wir die kurze Strecke bis zu dem genannten Gebäude zurück. Dort hat man ein winziges Studio aufgebaut. Eine Terrasse mit rustikalen
Möbeln lockt zum Platznehmen. Jürgen ist nach drinnen gegangen, kommt mit frischen Früchten und einem Saftcocktail zurück. Im Nu ist ein leichtes Gespräch im Gange. Die Panne hat die Wirkung eines DOSENÖFFNERS gehabt.
„Was hat dich zu deiner Bewerbung auf diese Zeitungsanzeige gebracht?“
„Nach dem Abi wollte ich sofort mit einem Studium beginnen. Das hat nicht geklappt. Deshalb ging ich auf die Suche nach anderen Möglichkeiten, meinen Traumberuf zu finden.“
„Und? Schon etwas gefunden?“
„Ich glaube, die Anzeige und meine augenblicklichen Erfahrungen haben viel bewirkt. Das Reisen macht mir gerade so viel Spaß, dass ich mir auch hier einen Beruf vorstellen kann. Eine IMMATRIKULATION kann nun noch warten. Die Vorstellung, in einem BIOMASSEKRAFTWERK täglich nur Computer mit Hilfe von FERNBEDIENUNGEN zu steuern, hat wahrlich nichts Verlockendes an sich.“
Wieder prusten wir beide vor Lachen los.
„Wir möchten sehr gerne ein paar
schicke Fotos von dir machen und haben dazu etwas vorbereitet.“
„Ist euch mein Reisedress nicht fein genug?“
„Wenn du für eine Reportage zu einer RENTNERDEMONSTRATION gehen würdest, wäre das schon in Ordnung. Aber wir wollen mehr.“
Jürgen führt mich in das Häuschen. Dort werde ich schon erwartet. Ein hübsches, buntes Sommerkleid liegt bereit.
„Bitte ziehe das an und komm wieder
nach draußen.“
Ich tausche Jeans und Shirt gegen das Kleid und nehme wieder auf der Terrasse Platz. Grinsend nicke ich Jürgen zu:
„Zum Glück habt ihr mir kein COCKTAILKLEID vorbereitet. So etwas hasse ich nämlich.“
Wir lachen beide, während ein herbeigeeilter Fotograf ein Bild nach dem anderen abknipst. Als ich zufällig auf meine Uhr sehe, stelle ich mit Schrecken fest:
„In einer halben Stunde muss ich auf der Fähre sein. Wo ist der Hafen? Wie komme ich überhaupt dorthin? Das schaffe ich doch nie mehr!“
„Beruhige dich. Von hier aus sind es mit dem Auto noch 10 Minuten zum Hafen. Wir bringen dich hin und du wirst pünktlich auf dem Schiff sein. Es war schön, dich persönlich kennengelernt zu haben.“
Ich erhebe mich. Erleichtert stelle ich fest, dass alles noch einmal gut gegangen ist. Auch ich bedanke mich und verabschiede mich gut gelaunt von Jürgen und seinem Team. Eine halbe
Stunde später stehe ich an Bord der Fähre, winke lächelnd zu Jürgen und zur Insel zurück.
Diese drei Stunden Zwangsaufenthalt mit Jürgen Milski werde ich mein Leben lang nicht vergessen!
© HeiO 05-07-2015