Freundschaft
Durch das weit geöffnete Fenster fielen die letzten Sonnenstrahlen eines sommerlich warmen Junitages. Eine laue Brise ließ die Vorhänge leicht wehen und trug den Duft von Lindenblüten ins Zimmer. Tagesausklang. Die beiden Männer saßen sich gegenüber und blickten versonnen auf die vor ihnen stehenden Gläser. Seit zwei Stunden ließen sie die Vergangenheit Revue passieren, unterbrochen von mehr oder weniger langen Momenten des Schweigens. So wie jetzt. Jeder hing seinen Gedanken nach, die sich jedoch kaum von denen des anderen unterschieden. Neunzehn Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Die erste Zeit nach seiner
Auswanderung war Sebastian häufiger nach Deutschland gekommen. Seine Eltern lebten noch. Seine Schwester hatte gerade eine Familie gegründet. Doch nach dem Tod der Eltern wurden die Abstände der Besuche immer größer. Jetzt war Sebastian in seine Heimatstadt gekommen. Eine spontane Entscheidung von ihm. Er wollte seine jüngere Schwester überraschen. Und nun saß er bei ´Pauker`, dessen Eltern den Namen Edelfried so schön fanden, seinem besten Freund. Der Kontakt zwischen ihnen war nie abgebrochen. Eine Karte zum Geburtstag, eine Weihnachtskarte, ab und an ein Telefonat. Es genügte, um zu wissen, dem anderen geht es gut. Ein leichtes Hüsteln riss Sebastian aus seinen Gedanken.
„Ihr habt ja bei euch jetzt Winter. Aber Pudelmützen und Winterstiefel braucht ihr wohl trotzdem nicht“, sagte Pauker und lachte.
„Nun, manchmal haben wir Temperaturen, die dem Gefrierpunkt sehr nahe kommen. Der Süden des Kontinents ist kälter als der Norden. Bei uns ist eben alles verkehrt. In den ersten Jahren habe ich im Norden gelebt. Im sogenannten Winter kletterte das Thermometer dort immer noch auf 15 °C.“
„Herrlich, dann brauchen die Frauen auch keine langen Hosen tragen“, erwiderte Pauker. Er beugte sich in seinem Sessel etwas vor und flüsterte fast:
„Kannst du dich noch an Ronja erinnern? Die hatte doch Beine bis zum Hals. Und scharf
war die ... wie eine Rasierklinge.“ Pauker kicherte.
„Na klar. Alex hat sie doch angehimmelt. Konnte aber nicht bei ihr landen. Sie hat doch später den Barkeeper vom „Zapfenstreich“ geheiratet.“
Beide tranken einen Schluck von ihrem Wein. Aus Wassergläsern. Pauker hatte seinen Wein immer aus einem Wasserglas getrunken.
Wein ist ein Durstlöscher war seine unumstößliche Meinung. Da passt nur ein Wasserglas.
Sebastian blickte sich um. Ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. In einer Glasvitrine standen Weingläser. Zur Dekoration. An der Wand hing eine Gitarre.
„Spielst du noch manchmal?“
Pauker schüttelte den Kopf.
„Spielst du noch manchmal, Sebastian?“
Sebastian dachte an die Klarinette, die bei ihm zuhause im Schrank lag. Wann hatte er sie das letzte Mal in der Hand gehabt? Er wusste es nicht. Auch er schüttelte den Kopf.
„...und du hast nie mehr etwas von Alex gehört, nachdem die Band auseinandergegangen ist? Er lebt doch auch hier in der Stadt.“
„Er hat geheiratet und seitdem war Totenstille. Bennie ist in eine andere Stadt gezogen und Pinguin hat einen Höhenrausch bekommen, nachdem er stellvertretender Bankdirektor geworden war. Der Posten hat ihm einen Herzinfarkt beschert. Und Tschüss.
Aber das hatte ich dir ja am Telefon gesagt.“
„Ja, ja, ich weiß ... aber Alex.“
Sebastian schwieg nachdenklich. Sie hatten sich doch alle gut verstanden, waren eine richtige Clique. Noch während des Studiums hatten sie die Band gegründet. In Kneipen gespielt oder auch zu kleineren Veranstaltungen, auf Hochzeiten. Hatten sich ein bisschen Geld dazu verdient.
Pauker hatte es besonders schwer. Eine kranke Mutter, ein jüngerer Bruder, der umsorgt werden musste, der Vater tot. Nach dem Studium hatte er auch zu kämpfen. Lehrer verdienten nicht übermäßig. Er war ein guter Lehrer. Das wurde auch bald erkannt. Dann ging es ihm besser.
Pauker schlug mit dem Korkenzieher ans
Glas.
„Hallo, bist du noch da?“
„Da kommen Erinnerungen hoch, Pauker. Weißt du noch, dass du zu meiner Trauung dreißig Minuten zu spät gekommen bist? Du hattest dich in der Zeit geirrt ... und du warst mein Trauzeuge. Carla war einem Nervenzusammenbruch nahe. Aber der Standesbeamte hatte ein Einsehen.“
Pauker winkte ab.
„Erinnere mich nicht daran.“
Er räusperte sich und sagte dann zögernd:
„Wie kommst du zurecht? Carla ist ja jetzt auch schon zwei Jahre tot.“
Dann seufzte er.
„Dumme Frage. Ich sollte es wissen. Moni starb vor neun Jahren.“
Wieder schwiegen die Männer.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach die Stille. Eine junge Frau trat ein. Es war dieselbe, die Sebastian zu Paukers Zimmer gebracht hatte.
„Zeit zum Blutdruck messen, Herr Berger.“
„Scheiß drauf! In vier Wochen werde ich fünfundachtzig. Was interessiert mich da noch der Blutdruck“, grummelte er.
„Ich muss sowieso gehen, Pauker. Mein Neffe holt mich ab. Bis ich unten bin dauert seine Zeit. Bevor ich nachhause fliege, besuche ich dich noch ´mal.“
„Verabschieden Sie sich in Ruhe. Ich komme in zwanzig Minuten noch einmal“, sagte die junge Frau schmunzelnd. Sebastian trank den letzten Schluck Wein, der im Glas war und erhob sich mühsam aus
dem Sessel. Mit der Reise hatte er sich zu viel zugemutet. Er umarmte seinen Freund und griff dann nach seinem Gehstock.
"Was mache ich jetzt mit dem Wein? Die Flasche ist noch halb voll", murmelte Pauker.
"Das wäre vor sechzig Jahren nicht passiert."
Etwas unwillig schob er die Flasche zur Seite. Durch seine dicken Brillengläser blickte er seinen Freund grinsend an.
„Die Ronja war scharf wie eine Rasierklinge:"
Die Männer schüttelten sich die Hände ... nicht mehr so kraftvoll wie früher.