Ein Kinobesuch mit Folgen
Auch ohne die Nachrichten zu hören, wusste ich, dass die Hundstage Einzug gehalten haben. In meiner Dachgeschoßwohnung, die ich im Grunde abgöttisch liebte, lief mir seit zwei Tagen der Schweiß in Rinnsalen am Rücken herunter und die gefühlten fünfzig Grad wichen nicht mal mehr nachts durch die kleinen schrägen Fenster. Es war heiß, so würde es auch die nächsten Wochen bleiben und ich war buchstäblich auf den Hund gekommen.
Schwitzend lag ich auf dem Bett, wälzte mich hin und her, hatte keine Lust, Kraft und Muse aufzustehen und noch weniger liegenzubleiben. Ein weiterer Tag im verordneten Müßiggang würde vergehen, nachdem mich der Arzt meines Vertrauens zu absoluter Ruhe verdonnert hatte. Keine Diskussion konnte ihn vor zehn Tagen erweichen, kein noch so flehentlicher Blick.
„Mit einer Luxation der Hüfte ist nicht zu
spaßen, Frau Wimmer. Seien Sie froh, dass ich sie nicht zwinge, in eines der netten Krankenhauszimmer einzuziehen. Ich habe mir jede erdenkliche Mühe gegeben, ihre hübschen Knochen neu zu kalibrieren, nun ist es an Ihnen, zu kollaborieren, damit meine Arbeit nicht umsonst war.“
„Jaja, ist ja gut!“, hatte ich in Anbetracht der Flut medizinischer Fachausdrücke leise gemurmelt und war daraufhin augenblicklich verstummt.
„Wollen Sie mir nicht doch endlich verraten, wie es zu diesem Unfall kam?“, hakte er nun schon zum vierten Mal nach.
‚Nein, nein und nochmals nein. Dir würden die Augen heraus und die Ohren abfallen.‘
„Nein, Herr Doktor, ich möchte dazu nichts sagen. Vielen Dank dafür, dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben und jetzt würde ich lieber nach Hause fahren - beziehungsweise - mich fahren
lassen.“
Carsten, der die ganze Zeit nicht von meiner Seite gewichen war, schmunzelte leicht und strich mir immer wieder beruhigend über den Handrücken. Auch er legte ganz offensichtlich keinen gesteigerten Wert darauf, dass ich die Tatsachen auf den sterilen Tisch des Doktors legte. Ihm allein hätte ich ja eventuell noch eine Grobfassung gebeichtet, aber der anzüglich auf meine zugegebenermaßen knappe Unterwäsche starrende Azubi, der uns als Arzt im Praktikum vorgestellt wurde, ließ meine Lippen versiegeln.
Trotz meiner irrsinnigen Schmerzen, die zwischen meiner Brustwirbelsäule und den Waden unerbittlich tobten - oder gerade deswegen - mussten wir beide laut lachen, als Carsten mich in dem geliehenen Rollstuhl zu seinem Auto fuhr. Schmerz schüttet ja bekanntlich diese Endorphine aus, die in meinem speziellen Fall offenbar zu dieser
unangepassten Überreaktion führten.
Am Auto angekommen, schaute mir die Liebe meines Lebens einen Moment lang ernst in die Augen und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. Dann verfrachtete er mich so zärtlich und sanft, als ob er eine Stiege roher Eier durch einen Hindernisparcour transportieren musste, in sein Auto.
„Danke, dass du nichts erzählt hast. Ich weiß, dass Ärzte sicher die unmöglichsten Sachen hören, aber mir wäre es trotzdem peinlich gewesen“, sagte er leise zu mir. In seiner Stimme trafen tiefes Bedauern und absolute Zärtlichkeit aufeinander und in diesem Moment wusste ich wieder, warum ich diesen Mann so liebte.
Mühselig war ich doch aufgestanden und hatte einen schwierigen Gang zur Toilette absolviert. Um mehr musste ich mich nicht kümmern. Jeden Morgen stellte mir Carsten, bevor er zur
Arbeit fuhr, ein Menü auf den Nachtschrank, welches ohne weiteres mit einem im Sternehotel konkurrieren konnte.
Heute musste ich nur die Hand austrecken und konnte wählen zwischen Erdbeeren, Croissants mit Schokofüllung, einem gekochten Ei und diversen anderen Kleinigkeiten. Die herzförmige Praline fehlte auch diesmal nicht. Lächelnd ließ ich mich vorsichtig zurück in die Kissen fallen, griff nach einer Erdbeere und schaute sie einen Moment lang an, ehe ich sie genüsslich in meinen Mund steckte. Nun lächelte ich noch mehr, denn spontan war die Erinnerung zurück. Mit einer Erdbeere hatte alles angefangen, oder eigentlich mit Ulrikes Anruf.
„Ich hasse den Hype um diesen blöden Roman und weigere mich hiermit offiziell, mit dir ins Kino zu gehen. Du weißt, ich bin nicht so, aber wenn ich nur Christian Grey höre, wachsen mir
graue Haare!“ Das war eine ultimative Absage, an der es nichts mehr zu rütteln gab. Jedes Betteln half nichts und ziemlich ratlos hielt ich die bereits gekauften Karten in der Hand. Es stimmte, Ulrike war nicht so, aber diesmal offenbar doch. Carsten, der halbherzig das Telefonat verfolgt hatte, schaute mit gewecktem Interesse vom Sportteil der Tageszeitung auf - direkt in meine enttäuschten Augen.
„Fifty Shades of Grey, oder?“ Viel zu lüstern für meinen Geschmack grinste er. „Also wenn du niemanden findest - ich würde ja mitgehen.“
Von dieser Möglichkeit war ich bisher nicht ausgegangen. Erstens gönnten wir uns unsere Abende ohne Partner und zweitens wäre ich niemals auf die Idee gekommen, IHN zu diesem Mädchenfilm einzuladen. Aber er wollte es so und warum eigentlich nicht? Die Bücher hatte ich gelesen und ein bisschen war ich neugierig darauf, wie meine bessere Hälfte auf den Film
reagieren würde.
„Du weißt schon, um was es in dem Streifen geht?“, vergewisserte ich mich vorsichtshalber.
„Natürlich, mein Schatz“, säuselte er und rutschte anzüglich auf dem Sofa sehr dicht an mich heran.
„Veralbere mich nicht! Zieh dich lieber um und rasiere dich, in zwei Stunden geht’s los.“
Ganz geheuer war mir die Sache nicht, aber ich wusste, dass ich so schnell keinen würdigen Ersatz für mein beste Freundin finden würde.
Zwei Stunden später hatten wir unsere Plätze eingenommen und gut zwei weitere Stunden später das Kino wieder verlassen. Mich hatte der Film nicht vom Hocker gerissen, aber Carsten war merkwürdig still. Als Entschädigung für seine Tapferkeit - er war so gut wie der einzige Mann im
Kino - lud ich ihn noch zu einem Eis ein. Immer noch sprach mein Gegenüber wenig, schaute mich dafür immer merkwürdiger an. Als
ich die größte Erdbeere meines Eisbechers spendete, ihm den Löffel hinhielt und er die Frucht genüsslich verspeiste, während er mir tief in die Augen schaute, rückte er endlich heraus.
„Nun frag mich doch schon, wie mir der Film gefallen hat!“
Also fragte ich kommentarlos: „Schatz, wie hat dir der Film gefallen?“
Grinsend schaute er mich einen Moment lang an.
„Den Film an sich fand ich ziemlich doof. Besonders dieser Typ war ja mehr als langweilig. Aber trotzdem hat er mich auf Ideen gebracht.“
„Auf Ideen gebracht?“, hustete ich und verschluckte mich fast an der nächsten Erdbeere. Irgendwie hatte ich das Gefühl, unser Gespräch nahm soeben eine ungeahnte Wendung.
„Ja, hat er. Hättest du nicht auch manchmal
Lust drauf, mal etwas auszuprobieren? Es muss ja nicht gleich das volle Filmprogramm sein, aber so ein bisschen von allem …?“ Carsten redete also plötzlich über Sadomaso-Spielchen und tat so, als wenn er vom nächsten Bäckerbesuch sprach. Hitze stieg mir in die Wangen und ich suchte in seinem Blick nach dem Funken Witz, der ihn verraten würde. Während ich darauf wartete, dass er zu Lachen anfing, musste ich mit ansehen, wie seine Augen leicht erregt funkelten. Er meinte es wirklich ernst!
Wir hatten nie Probleme, über unser Liebesleben zu reden. Ganz im Gegenteil. Dennoch war ich bis zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, dass es ausgefüllt war und auf beiden Seiten keine Wünsche offen ließ. Diese ehrliche Ansage Carstens verwirrt mich einerseits, machte mich aber andererseits auch irgendwie an.
Wir waren beide nicht einhundert prozentig
davon überzeugt, dass wir diese Erfahrung wirklich machen wollten, aber nachdem wir fast eine Stunde darüber geredet haben, kamen wir zu dem Schluß, dass wir nur mitreden können, wenn wir es ausprobieren würden.
Gleich am nächsten Tag marschierten wir in eine entsprechende Boutique. Nein, wir gingen nicht in den Baumarkt und kauften keine Kabelbinder und Seile. Wenn schon, denn schon - war unsere Devise.
„Wollen wir wirklich?“, fragte ich Carsten, als wir vor der Tür des unauffälligen Geschäftes standen.
Auch ihn hatte offensichtlich der Mut etwas verlassen, denn seine Augen leuchteten nicht mehr so angeregt, wie am Abend vorher. Aber wir wollten!
Im Ladeninneren blitzte uns viel nacktes Fleisch von unzähligen Werbeplakaten entgegen. Überall in den Auslagen sahen wir die merkwürdigsten Utensilien, deren Anblick
uns ziemlich verwirrte. Wir waren hoffnungslos überfordert, was eine Verkäuferin bemerkte. Diskret und dennoch plump begann sie damit, uns zu beraten, ohne, dass wir nur ein Wort verloren hatten. Sie hielt uns veredelte Materialien unter die Nase und wedelte mit Zubehör vor unseren Augen herum. Von einigen Dingen beschrieb sie die Handhabung so detailgenau, dass nun sogar Carsten unruhig wurde. Bei anderen erübrigte sich die Beschreibung, da sie selbsterklärend waren. Langsam begann ich zu schwitzen und sah im Augenwinkel, dass es auch meinem Helden nicht anders ging. Wenn wir am Abend zuvor das Gespräch mit einem gewissen Grad an Aufgeregtheit und dem schönsten Blümchensex beendet hatten, fühlten wir uns in der Boutique weder animiert noch erregt. Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt ich das Geplapper der Verkäuferin nicht mehr aus. Mein einziger Wunsch war es, das Geschäft auf dem
schnellsten Weg zu verlassen und da ich sah, dass es Carsten nicht anders ging, hielt sich mein schlechtes Gewissen in Grenzen.
„Schatz, hast du den Stecker vom Bügeleisen herausgezogen?“, platze ich in eine Pause, die die Dame vor uns zum Luftholen nutzte.
Carsten reagierte prompt und ohne zu zögern. „Nein Liebling, habe ich nicht! Du meinst, das Bügeleisen ist noch an? Dann sollten wir ganz schnell nach Hause fahren.“ Überaus dankbar lächelte ich ihn an - so viel Zeit musste sein. Aber dann ergriffen wir die Flucht, ließen die nun ihrerseits verwirrte Verkaufsberaterin stehen und verließen schleunigst den Laden.
Frische Luft, normale Menschen und Blümchensex im Sinn, konnten wir gar nicht schnell genug sein.
Am Ende waren wir doch zu schnell. Meine Umhängetasche verhakte sich im Türgriff. Als ich zwangsläufig und ruckartig stehenblieb, verhakte sich mein Absatz im Gitter des
Fußabstreichers. In Folge dessen zerrte Carsten an mir, der das plötzliche Hindernis nicht einschätzen konnte. Seine Kraft wirkte gegen die des Türgriffs und dem Träger meiner Tasche, er gewann und ich flog sehr unsanft die fünf Treppenstufen hinab, landete noch unsanfter auf dem harten Pflaster der Straße. Bevor der stechende Schmerz in meiner Hüfte mir alle Sinne raubte, nahm ich noch das Aufquietschen der Verkäuferin, Carstens entsetzen Blick und das Klappern meines Tascheninhalts wahr, der sich über den Gehsteig verteilte. Dann kehrte Ruhe ein.
Ich muss wohl mitsamt meinen Erinnerungen eingeschlafen sein, denn ich hatte nicht bemerkt, dass meine bessere Hälfte nach Hause gekommen war. Liebevoll beugte er sich zu mir herunter, um mir einen zärtlichen Kuss zu geben.
„Woran hast du denn gerade gedacht, du schaust
so ernst?“ Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante, griff nach der Schale mit den Erdbeeren, steckte sich selbst eine in den Mund und schob auch mir eine zwischen die Lippen.
„Hmm?“, fragte er nach, nachdem ich nicht gleich reagierte.
„Ach nichts weiter. Ich habe nur darüber nachgedacht, dass ich dich nie wieder mit ins Kino nehme.“