Romane & Erzählungen
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"Sommer, Musik, 1968,1969, Liebe"
Veröffentlicht am 12. Juli 2015, 78 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Sommer, Musik, 1968,1969, Liebe

Zeiträume

Prolog

Um ehrlich zu sein, kann ich das, was ich hier niederschreibe, selbst nicht glauben. Dennoch es ist belegt, es ist wahr, es ist tatsächlich so geschehen. Das Ganze ist so ungeheuerlich, dass ich in keiner Weise darüber reden kann. Es ist zu unglaubwürdig. Ich erinnere mich, dass ich im Alter von ungefähr zwölf Jahren zum ersten Mal sein Bild gesehen sah. Er prangte von einer Plakatwand, auf dem er mit seiner Rockband abgebildet war. Von diesem Tag an wollte ich nichts anderes als zumindest einmal in seiner Nähe sein. Vielleicht sogar ihn heiraten. Mit zwölf

gibt man sich solchen Vorstellungen hin. Nichtsdestotrotz setzte ich meine Schule und meine Ballettausbildung fort. Ich tanzte mit Hingabe. Einige Jahre versuchte ich mich mit Gesang, befand aber das ich nicht gut genug war. Folglich gab ich das Singen auf. In meiner pubertären Fantasie stellte ich mir vor, dass er mich sehen könnte, wenn ich tanze. So tanzte ich im Geheimen durch sein Haus, ließ Rosenblätter auf sein Bett fallen und verschwand mit den erblassenden Sternen. Höllenqualen litt ich, als die Zeitungen über seine Verlobung mit Alice berichteten. Meine Hoffnung, ihn jemals für mich zu gewinnen schwand.

So trauerte ich, zog mein schwarzes Ballettkleid sowie die schwarzen Tanzschuhe an und tanzte. Die Rosenblätter welkten in meiner Hand. Ich hörte erst auf, als mich die Kräfte verließen. Heimlich liebte ich ihn immer noch, ich wollte hoffen. So setzte ich meine Ausbildung fort. Ja ich gewann einen bedeutenden Preis. Ich galt als eine hervorragende Primaballerina mit den besten Aussichten für die Zukunft. Mit Genugtuung vernahm ich, dass Alice sich von ihm trennte. An diese Ereignisse erinnere ich mich sehr genau. Alles Nachfolgende lag bis vor kurzer Zeit noch in der Dunkelheit.

Untergegangen, verschollen so als wäre es nie da gewesen, nie passiert. Mein Leben floss dahin wie ein langsam fließender Fluss. Frei von Höhen und Tiefen. Ich lag in einem Dornröschenschlaf, ohne zu ahnen, dass ich tatsächlich geweckt werden sollte.

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2002 »Dany? Dany! Das gibt’s doch nicht! Meine Güte, wie lange ist das her, dass wir uns das letzte Mal sahen? Das muss fast vierzig Jahre her sein. Dass ich dich hier treffe, nach all der Zeit, im Airport von Chicago?!« Verwundert sehe ich den Mann, der das zu mir sagt, an. Ich kann es nicht fassen, er nimmt mich in seine starken Arme und küsst mich auf die Wange. Ich ringe nach Luft, einerseits vor Entrüstung, andererseits weil er mich tatsächlich sehr, wenn auch herzlich, drückt. Ich höre meinen Namen

durch die Lautsprecher. Es ist Boardingtime! Ich arbeite als Kunstsachverständige. Einer meiner Kunden hielt mich bis zur letzten Minute auf. Jetzt stehe ich kurz davor, den Flug zu verpassen. »Muss ich Sie kennen? Ich denke Sie verwechseln mich, Mister …« Ich löse mich aus seiner Umarmung. Er mustert mich, ich hasse das. »Entschuldigung, aber erinnerst du dich nicht? Ich bin es, Paul, Paul Miller, der Journalist vom NewGlobe. Wo hast du all die Jahre gesteckt?! Warum bist du einfach abgehauen?! Damals als Ryan gestorben ist `69!« Er schaut mir in die Augen. Ohne Zweifel, er ist ein

gutaussehender Mann. Dunkles Haar, braune Augen, glatt rasiert, leichte Bräune. Er wirkt weltmännisch. Ich kenne ihn nicht. Der Name Ryan kommt mir bekannt vor, ich sehe ein Plakat vor meinem geistigen Auge. Dennoch bin ich außer Stande, es in eine Verbindung mit diesem Herrn oder mit irgendetwas zu bringen. Zu viele Fragen. »Es tut mir leid, Sie irren sich! Mit Sicherheit verwechseln Sie mich!« Ich blicke auf meine Armbanduhr. »Das ist nicht dein Ernst! Dein Mädchenname ist doch Daniela Berger?« »Ja das ist mein Name, aber ich kenne weder Sie noch irgendeinen Ryan. Ich wüsste auch nicht woher!« Er kneift die Augen ein wenig

zusammen und mustert mich, schon wieder! »Wir haben uns noch nie gesehen? Und woher kenne ich deinen Namen? Auf deiner Schulter ist ein sternförmiges Muttermal, auf deiner Stirn unter diesem Pony ist eine Narbe von einem Unfall. Das ist keine Eingebung, die ich eben hatte! Und Du erinnerst dich nicht an Ryan Smith?!« Er fuchtelt mit dem Zeigefinger vor mir herum, ich greife mir an den Kopf. Gedankenfetzen rasen durch mein Gehirn. Ich sehe mich in einem silbernen Ballettkleid und ebensolchen Spitzenschuhen. Energisch schüttele ich den Kopf, auch um die Gedankenbilder zu vertreiben. Menschen hetzen an uns

vorbei, Koffer schaben über den Boden. »Sie lassen nicht locker, Mister Miller, oder?« Es schockiert mich, dass er diese Dinge von mir weiß. »Dany«, er berührt meinen Arm, »vielleicht meldest du dich mal. Ich würde mich freuen, von dir zu hören.« Er wirkt traurig, dabei sieht er mich an wie ein Verhungernder. »Entschuldigen Sie, selbst auf die Gefahr, dass ich mich wiederhole, aber ich kenne Sie nicht! Und Ihr Freund ist mir auch unbekannt.« »Ich gebe dir meine Visitenkarte, falls du es dir anders überlegst.« Ohne, dass ich mich dagegen wehren kann, drückt er mir die Karte in die Hand. »Ich muss jetzt los, mein Flug wird

schon wieder ausgerufen«, murmele ich unwirsch, drehe mich um und gehe. Ich weiß genau das Er mir hinterher sieht. Es gibt Leute, die behaupten, mein Gang sei wie eine Symphonie. Blödsinn! Verdammt! Dieser doofe Kerl geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich möchte wissen, woher er mich kennt. Vermutlich ist er ein gefährlicher Spanner! Von wo sollte dieser Paul, oder wie er auch immer heißt, Kenntnis von dem Muttermal haben? Ich rekele mich nervös in meinem Flugzeugsitz, in der Hoffnung, dass ich schlafen kann, die Motorengeräusche werden das ihrige dazu beitragen. Gedanklich befinde ich mich allerdings im Jahr 1969. Wie sah

mein Leben damals aus? Womit habe ich meine Zeit verbracht? Kurz rechne ich nach .Ich war achtzehn, gerade mit dem Abitur fertig. Ich trainierte bei Madame Mina und bei Marcel, denn bis zum Ende des Jahres tanzte ich nur die zweite Besetzung. Zu Beginn des neuen Jahres sollte ich die Primaballerina an der Oper von Hamburg sein. Darauf freute ich mich. Nein, das war 1968. Dazu fallen mir Worte wie Vietnam, Studentenaufstand, Che Guevara und die Pille ein. Genau im Sommer 1968 machte ich das Abitur, oder? Jedenfalls änderte eine Krankheit alles. Viele Wochen lag ich im Krankenhaus. Eine Zeit lang saß ich im Rollstuhl. Die Ärzte

verordneten Luftveränderung. Mutti reiste damals mit mir nach Florenz. Unsere Tante Marie, eine Schwester meines Vaters, hatte mir eine hübsche Wohnung dort vererbt. Warum ausgerechnet mir, weiß ich nicht. Die Arme starb recht früh. An einem Fieber, so hieß es. Sie war mit einem feurigen Italiener verheiratet, der einem Unfall zum Opfer fiel. Tante Marie trug nur Chanel Kostüme und roch nach Chanel No.5. so weit ich mich an sie erinnere, wirkte Marie immer sehr nervös, so soll sie schon als Kind gewesen sein. Meine Mutter schob mich während unseres Florenz Aufenthaltes von Museum zu Museum. Vermutlich studierte ich

deshalb Kunst. Natürlich in Italien. Wo auch sonst? Dennoch, die Feststellung, dass ich mich nicht deutlich erinnern kann, erzeugt eine gewisse Nervosität in mir. Wahrscheinlich ein Fall von Übermüdung oder ein Überbleibsel dieser seltsamen Krankheit. Ärger steigt in mir auf, denn noch immer halte ich diese Visitenkarte fest, als wäre es etwas, an dem ich mich festhalten müsste. Was erzählt dieser Miller für einen Quatsch? Sicherlich, ich gehörte nie zu den grauen Mäusen, doch ein Modelltyp war ich nie. Jeder weiß, dass alle sogenannten Stars nur mit solchen Frauen liiert sind. Also, was versucht er,

mir einzureden? Meine Gedanken kreisen und mir wird immer klarer, dass diese Geschichte nur eine Verwechslung ist. Vor erst beruhigt mich das. Das leise Vibrieren des Flugzeugs wirkt auf mich, wie ein sanftes Schaukeln. »Zu Hause werde ich meine Schwester anrufen, sie hat ein unglaubliches Gedächtnis«, sage ich zu mir selbst, dann überkommt mich ein tiefer Schlaf. Hamburg, endlich wieder Hamburg. Ich bin froh hier zu sein. Durch meinen Beruf, als Kunstsachverständige, lebe ich zeitweise aus dem Koffer. Dennoch sehe ich Hamburg als meine Heimat an. Ich nenne eine respektable Wohnung am

Rande der Stadt mein Eigen. Ein Domizil mit Service. In meiner Abwesenheit nimmt der Hausmeister die Post entgegen und bringt sie in mein Zuhause. Beim Betreten meiner Wohnstatt schleudere ich die Pumps von den Füßen und werfe einen groben Blick auf die Briefsendungen. Danach marschiere ich ins Bad, um Wasser in die Wanne zu lassen. Ein Schaumbad, ein warmes ausgiebiges Bad, das ist es, was ich nun brauche. Kaum liege ich im Wasser, fällt mir erneut dieser Typ ein. Wie hieß der noch gleich? Miller, ja Miller. Was ist, wenn er ein Spanner ist, er sich Zugang zu meiner Wohnung verschafft hat und hier überall versteckte

Kameras hängen? Er mir womöglich nach dem Leben trachtet! Nein, so etwas will ich nicht denken! Mit der Entspannung ist es allerdings vorbei. Also raus aus der Wanne. Schaumflocken fliegen empor als mich erhebe. Ich greife nach einem Badetuch und kurz darauf befinde ich mich in einem kuscheligen Bademantel. So nun rufe ich Doris an. Halt, noch ein Glas Wein! Jetzt aber ab in den Sessel. Es handelt sich um einen mächtigen dunkelbraunen Ohren-Ledersessel. »Doris Lang«, meldet sich die Stimme am anderen Ende. »Hallo Dickie, ich bin es, Dany. Du stell dir vor, ich glaube, ich werde beobachtet. Zu mindest wusste

so ein Kerl, von dem Muttermal auf meiner Schulter, dabei kenne ich den gar nicht. Paul Miller heißt der. Hast du mal was von dem gehört, soll angeblich Journalist sein?« »Schreibt der für Frauenzeitschriften?«, kommt die Stimme wieder zurück. »Nein, Dickie für den New Globe und er behauptet, dass er mich von früher kennt, und zwar aus den Sixties, ich erinnere mich überhaupt nicht. Was haben wir eigentlich damals gemacht? Weißt du das noch?« »Welche Zeiträume meinst du Dany, oder präziser ausgedrückt zwischen oder während welcher Verlobung von mir?« »Du hast dein Gedächtnis nach Verlobungen sortiert,

Dick?« Ich kritzele ein wenig auf einem Block herum, der neben dem Sessel auf einem kleinen Tisch liegt.»Klar ist für mich das Einfachste. Also die Sommer verbrachten wir in den Sechzigern immer am See. Du weißt schon, bei diesen Leuten mit dem Gestüt und den beiden Brüdern Wolf und Jürgen. Wolf, der aussah wie dieser Seehund aus der Werbung, mit seinem komischen Schnauzbart. Angeblich studierte er Psychologie. Ich glaube aber, dass er wie ein Parasit auf Kosten seiner Eltern lebte. Der war hinter dir her, wie der Teufel hinter der armen Seele. Mir ist schleierhaft, wie unser Bruder Wilhelm den während seiner gesamten Schulzeit

ertragen konnte. Jürgen war das komplette Gegenteil von Wolf. Man oh man, das waren heiße Zeiten, was haben wir abends am See Gras gequalmt. Jetzt fällt es mir ein! Ich war zu der Zeit mit Rolf verlobt! Der ewig bekiffte, er aß dauernd Frischkäse! Sein ganzes Auto war voll damit. Dany komm mich doch besuchen, es ist Wochenende und wir könnten in alten Fotos wühlen.« »Dickie, ich bin eben erst nach Hause gekommen. Was hältst du davon, wenn du morgen früh zu mir kommst. Du bleibst übers Wochenende und abends gehen wir chic Essen?« »Okay, ich packe dann mal und sag nur noch kurz Fred Bescheid, der hat sowieso mal

wieder Dienst. Also, bis morgen. Küsschen, Küsschen.«

Sommer 1968 Der See lag glatt und glitzernd in der Nachmittagssonne. Träge schwappten die Wellen gegen den Strand. Ein leises Rascheln ging durch die Bäume, die am Ufer standen. Friedlich zogen einige Enten ihre Bahnen. Sie saß auf dem Bootssteg und ließ die langen schlanken Beine ins Wasser gleiten. Sie genoss die Kühle auf der Haut und verlor sich hingebungsvoll in Fantasien, die sie fortführten an einen anderen Ort, in ein altes Haus, in dem der Mann ihrer Träume wohnte. Es gab für sie nur diesen

einen. So weit entfernt, so unerreichbar und dennoch, wenn sie die Augen schloss, glaubte sie seine Nähe zu spüren. Sein atmen, seine Wärme. Was würde sie dafür geben, nur einmal an seiner Seite zu sein? Ihr blondes langes Haar glänzte in der Sonne. Der kurze blaue Faltenrock bedeckte nur das Nötigste, was auch für das pinkfarbene Oberteil galt, es stand ihr gut. Sie hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen...... Quietschende Bremsen unterbrachen die Idylle. Staub stieg empor hinter den Reifen eines weißen Mercedes. Daniela drehte sich herum. »Hallo Wolf, kommst du jetzt erst aus Hamburg? Hatte der Flug Verspätung?« Daniela sah dem

Fahrer des Wagens entgegen, der direkt auf sie zu kam. Sie stand auf, kleine Wellen bildeten sich im Wasser. Wolf blieb vor ihr stehen. »Bist du sehr traurig, dass Carolyn wieder nach England zurückgegangen ist, Wolf?« »Was für eine Wortflut! Ja, es ist mir schwergefallen, Carolyn gehen zu lassen, nach all den Jahren. Doch das Leben muss weitergehen! The Show must go on!« Er schwenkte seine Arme kreisförmig über seinen Kopf. »Du hättest doch mitfliegen können und dort weiter studieren, oder geht das nicht?« Daniela kniff die Augen zusammen und sah ihn an. »Scherzkeks, ich leide unter Aviophobie. Mich kriegt keiner in so ein

Aeroplan. Und mit dem Schiff, naja, ich würde nicht mal auf diesem See rudern. Unter uns, ich kann nicht schwimmen. Sag mal, hast du kein Training?« Er schob eine Hand in die Hosentasche. »Nein, die Mina macht Urlaub! Zurzeit trainiere ich nur zu Hause und zweimal die Woche bei Marcel, aber was ist denn Aviophobie?« Daniela kräuselte die Stirn. Er senkte seinen Kopf und wisperte in ihr Ohr, während er über ihren Oberschenkel strich. »Flugangst Kindchen! Sag mal, darf ich beim Spagat zu sehen?« Sie trat einen Schritt zurück. »Wolf, kannst du nicht normal mit mir reden? Musst du immer so

obszön sein?« »Vielleicht Daniela ist das die einzige Art dich wach zu machen. Was willst du mit all diesen Typen hier? Du und ich, wir ergeben das optimale Gespann. Du solltest das langsam begreifen!« Sie sah ihn irritiert an. »Wie kommst du auf solche Ideen? Außerdem Carolyn ist eben erst fort und du siehst dich schon nach einem Ersatz um? Möchtest du nicht lieber etwas gegen deine Flugangst unternehmen und ihr folgen?« Sie schüttelte entgeistert den Kopf. »Daniela!«, sagte er eindringlich, »man kann überall auf dieser Welt sein, ohne dass man irgendwelche Transportmittel benutzt, man muss es einfach nur wollen!«

»Hallo Wolf, hallo Dany!«, ertönten Geralds und Davids Stimmen fast wie im Chor. »Verbreitest du wieder deine Raumtransporttheorien? Wann machst du denn deinen Hypersprung«, David grinste breit, seine dunklen Augen funkelten. »Pass mal auf David! Der menschliche Geist, sofern er stark genug ist, das heißt also, dass deiner davon ausgenommen ist, kann Ra …« »Manni und Jenny kommen«, rief Dany dazwischen. Das Geräusch der Harley kam bedrohlich näher, aber es war noch ein anderer Ton zu hören, der nicht zu der Maschine passte. »Was ist das?«, führte sie den Satz weiter aus …

2002 Was ist das? Was ist das? Ich schrecke hoch. »Ach du meine Güte die Türklingel! Dickie ist da und ich habe total verpennt, doofer Traum!« Ich springe aus dem Bett und renne zur Tür. Es wird laut daran geklopft! »Oh, Dickie du stehst ja schon vor der Tür, wer hat dich denn ... Guten morgen Herr Schmittke.« Stammelnd stehe ich da, feststellend, dass ich nur ein T-Shirt trage. »Guten Tag Frau Berger, wir fürchteten, Ihnen wäre was passiert, man weiß ja nie heutzutage. Deshalb ließ ich Ihre Schwester schon mal ins Haus.« Der

Hausmeister starrt auf seine schwarzen Sicherheitsschuhe, so dass ich nur die buschigen Augenbrauen und die krausen silbernen Haare sehe, er hat die Hände tief in seinem grauen Kittel vergraben. »Danke, Herr Schmittke?« Mein Blick wandert von einem zum Andern. »Komm, ich mach dir erstmal was zu essen«, meint Doris, sie rauscht mit ihren Plateausohlen und ihrem pinkbunt gemustertem Kaftan, der aussieht, als hätte sie ihn einer Afrikanerin entwendet an mir vorbei. Mit einem gezielten Tritt nach hinten, schließt sie die Tür genau vor Herrn Schmittkes Nase. Doris lange gelbe Ohringe baumeln bei dieser Aktion hin und her.

Ich finde, dass weder dieses Gehänge noch dieses tizianrot ihrer Kurzhaarfrisur zu ihrem immer noch niedlichen Puppengesicht passt. Aber jeder, wie er kann. »Du gehst jetzt duschen und ich mache das Frühstück. Hier drin ist alles was wir brauchen« Sie hält einen Korb hoch, »ich weiß, dass dein Kühlschrank an Magersucht krankt!« Sie hat diesen Befehlston, den sie bereits als Kind besaß. Ich beeile mich und so dauert es nicht lange, bis wir zusammensitzen. Ich liebe den Duft von frischem Kaffee und knusprigen Brötchen. Der Tisch ist liebevoll gedeckt, sie beherrscht so etwas. »Ich freue mich so, dass du

gekommen bist«, sage ich, »ich habe von Jenny geträumt. Es ist so schrecklich, dass Sie gestorben ist. Meinst du, ich hätte ihr helfen können? Wir kannten uns von Kindesbeinen an.« »Nein, ihr konnte niemand helfen.Wir kifften alle, außer du natürlich. Dafür waren die von dir gedrehten Joints legendär.« »Du spinnst, Dick!« »Nein das ist eine Tatsache Dany, obwohl du nie Drogen nahmst. Du hattest immer so eine komische Überzeugung. Langweilig, richtig langweilig!« Sie fuchtelt mit ihren Händen in der Luft herum. »Sag mal, weiß Fred, dass Du früher gekifft hast, Dick?« »Klar, er hat es doch

selbst mal probiert, ist ihm aber irgendwie nicht bekommen.« Sie sagt das, als wäre es das Normalste von der Welt. Sie legt ein Foto auf den Tisch. »Wow das bin ja ich! Das sieht sehr gewagt aus, was ich da trage!« Es zeigt mich mit einem extrem kurzen Rock und einem äußerst knappen Oberteil. »Ja, für gewöhnlich brauchte man dafür einen Waffenschein. Nur wer hatte dich nicht schon im Tutu auf der Bühne gesehen?« »Stimmt ich tanzte.« Wehmut steigt in mir auf. »Ja deine Auftritte waren traumhaft. Es war unmöglich fortzusehen.« Doris hält ihren Kopf ein wenig schief, sie wirkt einen Moment gedankenverloren. Sodann zieht sie ein

neues Foto aus einer Kiste. Diesmal zeigt es sie selbst mit einem Mann an ihrer Seite. »Ah, deine erste Verlobung. Wie hieß der noch?« Ich lege meine Hände über die Nase, »Johannes von Tecklenbronk-Sondheym. Ja! Und kurz darauf hast du dir die Haare blondieren lassen. Das war für den spießigen Johannes zu viel. Aus der Traum vom Adelstitel, liebe Dickie!« Das fiel mir spontan ein. Ich gieße uns Kaffee nach, Doris beißt in ihr Brötchen, während sie ein weiteres Foto aus dem Kästchen zupft. »Mit wem stehe ich denn da? Mit Adonis?« Doris sieht mich an. »Das weißt du nicht?« Eine steile Falte bildet sich auf ihrer Stirn, das Ohrgehänge

wackelt hin und her. Ich schüttele den Kopf. »Du verarschst mich?!«, sagt sie scharf. »Nein, doch, ich meine es fällt mir gerade ein. Das ist Gerald der Bruder von Johannes. Er ging auch mit Wilhelm in die gleiche Klasse.« Ein Grinsen zieht über mein Gesicht. »Mehr nicht?!« Doris kommt mit ihrem Kopf ganz nah an mich heran und sieht mir direkt in die Augen. »Meine liebste Daniela, du hast ein Problem! Aber weiter. Guck, da sitzen wir alle am See, die komplette Clique. Da ist Jürgen, David, Jenny, Brigitte, Gerhard, Wolf, Manni der Dorftrottel, Rolf, Gerald, du und ich«, erklärt Doris, während sie mit dem Finger auf die einzelnen Personen

zeigt. »Wieso sind deine Haare da schwarz?« Wieder stelle ich fest, dass mir etwas fehlt. Ich sehe in das Puppengesicht meiner Schwester, dass von zwei verschiedenen Augenfarben beherrscht wird. Sie hat ein blaues und ein braunes Auge. Das ist faszinierend. »Das war doch auch meine schwarze Phase. Wolf hat uns damals immer als Schneewittchen und Dornröschen bezeichnet. Mich so wegen der schwarzen Haare, die zu der Zeit noch lang waren und dich so, weil du bei jeder passenden Gelegenheit eingeschlafen bist. Selbst im Kino, während diesem Aufklärungsfilm, wir warteten, nur noch auf dein schnarchen.«

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. »Wahrscheinlich war der Film so langweilig.« »Was? Langweilig? Dieser Film?! Der war der Hit! Übrigens, in letzter Zeit surfe ich viel im Internet. Unter uns, ich habe einen virtuellen Lover.« Sie lehnt sich entspannt auf der antiken Küchenbank zurück. »In welchen Zusammenhang steht das mit mir, Dickie?« »In gar keinem! Ich wollte das nur Mal so in den Raum stellen!« Ihre Antwort kommt wie immer prompt. »Dickie du bist vollkommen durchgeknallt, wie bist du nur an einen Mann wie Fred gekommen?« »Ganz einfach liebe Schwester, erstens bin ich gelenkig und zweitens habe ich ihm klar

gemacht, das er ohne mich nicht leben kann. So und jetzt werfen wir uns in super Fummel und gehen aus, wie früher.« Auf diese Art und Weise beenden wir das Frühstück und begeben uns wieder in die Gegenwart. Zwar stelle ich fest, dass die Ausführungen meiner Schwester mich nicht sonderlich weiter bringen, aber sie ist immerhin in der Lage mich abzulenken. Ich hätte einfach wissen müssen, dass man ihr konkrete Fragen stellen muss. Es ist schon spät in der Nacht, als wir in meine Wohnung zurückkehren. Wir sind sichtlich angeheitert. Es ist schön mit meiner Schwester, auszugehen. »Sag

Dick, warum hast du eigentlich nicht weiter studiert? War doch schade, du warst schließlich fast fertig?« »Spinnst du Dany! Ich hab nur angefangen zu studieren, um mir einen entsprechenden Mann zu angeln! Fürs Fliegen in der Firstclass fehlte mir das Geld. Das hätten unsere Eltern auch nicht von der Steuer absetzen können. Lass uns den Rest Wein trinken und dann gehen wir zu Bett.«

20.Juni 1968 Ryan beeilte sich, zur Tür zu kommen. Nicht dass er jemanden erwartete, nein nur ein Gefühl, etwas Wichtiges lebensentscheidendes könne sich dahinter

verbergen trieb ihn an. Noch bevor das zweite Klopfen verklang, öffnete er die schwere Eichenhaustür. Irritiert schaute er durch die Türöffnung. Er vermutete, dass die Gestalt, die er im Schein der Außenbeleuchtung wahrnahm, eine Art Fata Morgana sei. Als die Vision zu ihm sagte: „Entschuldigung darf ich rein kommen? Es regnet!“, fasste er sich. Draußen goss es in Strömen, es donnerte und blitzte und obwohl es erst früh am Abend war, herrschte tiefe Dunkelheit. Er machte eine einladende Bewegung und trat ein Stück beiseite. Die langen blonden Haare hingen tropfend an ihr herunter, die Wimperntusche, verschmierte unter den Augen, das dünne

weiße Seidenkleid lag durchscheinend auf der nackten Haut. Dennoch leuchteten ihre blauen Augen wie Sterne. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und betrachtete sie vom Kopf bis zu den unbekleideten Füßen. »Du tropfst!« Er grinste sie an. Sie lächelte zurück. Er unterdrückte den Impuls, sie an sich zu ziehen. Statt dessen lief er ins Bad um ein Badetuch zu holen, das er ihr überreichte. Noch immer im Flur stehend trocknete sie ihr Haar mit dem Tuch. Indes ging er ins Wohnzimmer, um den Kamin anzuzünden. Ryan setzte sich in einen mächtigen Ledersessel direkt vor das Feuer, tropfend folgte sie ihm.

Umständlich zog sie das nasse Kleid aus und wickelte das Badetuch um ihren Körper, sodann nahm sie Platz in dem Sessel, der neben dem seinen stand. Schweigend saßen sie nebeneinander. Abwesend starrte er in die Flammen, die einen rötlichen Schimmer auf sein blondes langes Haar warfen. Eine Hand ruhte auf ihrem Herz. Sie befürchtet, dass das Herzklopfen das Prasseln des Feuers übertönen könnte. Die Holzscheite im Kamin brachen krachend zusammen. Kleine rote Funken stiegen hoch. Bizarre Schatten huschten die Wände entlang. Ryan erhob sich. Er legte Holz nach. Sie erhaschte einen Blick auf sein klassisches Profil.

Abermals breitete sich Schweigen aus. Es verging Stunde um Stunde. Das Schweigen stand wie ein übermächtiger Dämon im Raum. Sie sah zum Fenster. Ein schmaler heller Streifen zog über den Horizont. Es war Zeit zu gehen. Es fiel ihr schwer, sie hatte nichts bewirkt, außer Stunden neben dem Mann ihrer Träume zu sitzen. Sie musste ihn verlassen und er würde nicht im Geringsten mehr wissen, dass es sie gibt. Es schnürte ihr das Herz zusammen. Die Flammen loderten hell auf, es knisterte und knackte. Funken stoben. Sie streifte das getrocknete Kleid über, drehte sich zu ihm und sah ihn direkt an. Fast schien es, als

erwachte er. »Es ist so still, dass ich deine Gedanken hören kann!«, unterbrach er angesichts dieser Feststellung das Schweigen. »Ich wusste, dass du irgendwann kommst.« Mühsam vertrieb die Morgenröte die Nacht. Ihre Augen trafen sich. »Ich werde zurückkommen«, dachte sie, strich sanft über seinen Arm, setzte einen flüchtigen Kuss auf seine Wange und ging zur Tür. »Warum verlässt du mich!«, hörte sie ihn rufen.


2002 Ich schrecke hoch, ich sitze aufrecht im Bett. Ein feiner Schweißfilm überzieht

meinen Körper. Ich benötige einen Augenblick zur Orientierung. Gespenster! Ich versuche es, abzuschütteln. »Es ist Montag und ich brauche Urlaub! Vielleicht denke ich jeden Montag so, nur diesmal ist es ernst. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal Ferien hatte«, sage ich laut vor mich hin, warum auch nicht, schließlich bin ich allein in meiner Wohnung. Ich sollte mir das Telefon sofort schnappen, noch bevor ich es mir wieder anders überlege. »Hallo Giorgio«, sage ich zu meinem Freund und Chef, als dieser nach endlosem Klingeln ans Telefon geht. Genau genommen ist Giorgio D`Angelo

gar nicht mein Vorgesetzter. Wir betreiben zusammen einen Antiquitätenladen und arbeiten als vereidigte Sachverständige. Er gibt mir eine Sicherheit, die mir fehlt. Ich behaupte, ich hätte ihn aus Italien mitgebracht, als Souvenir, oder so. Was nicht ganz stimmt. »Ich werde ein bis zwei Wochen Urlaub machen, ich muss etwas erledigen.« »Hey, Bella, ich habe bereits am Freitag mit deinem Anruf gerechnet! Da bist du doch aus Chicago zurückgekommen, oder irre ich mich?« meint dieser Mensch tatsächlich. »Lies deine E-Mails, Giorgio!« Er schafft es, mich zu nerven. »Ich fliege in einer Stunde nach London, ich melde mich

nach meiner Rückkehr wieder bei dir.« Ich kann nicht glauben, dass ich das eben gesagt habe. »Oh, London“, fällt er mir ins Wort, wobei er das Oh in die Länge zieht, „das passt gut. Du könntest dort meinen Job erledigen. Ich bin im Augenblick sozusagen unabkömmlich. Du kannst mein Zimmer im Tea Garden haben. Ich rufe kurz dort an und buche um.« »Signore D`Angelo!«, nun bin ich wirklich entnervt, »ich sprach von Urlaub und nicht von Arbeit«. Ich sehe ihn geradezu vor mir, wie er lässig seine Hand bewegt. So dass jeder seinen dicken Siegelring sehen kann. Diese Art würde eher zu einem ältlichen dicken

Casanova passen. Ganz so ist er nicht. Gut er hat schon graue Strähnen, die machen ihn umso interessanter. Gio ist und bleibt ein Frauentyp. Abermals fällt er mir ins Wort. »Bella niemand macht in England Urlaub, Urlaub macht man auf Hawaii, Bali oder in Aspen, aber niemals in England.« »Ja ich verstehe, du hast wieder so eine Weibergeschichte laufen. Gut, ich erledige deinen Job. Alles Okay, ich melde mich nochmal«, antworte ich kurz und lege einfach auf. »Warum rede ich mit diesem Mann überhaupt«, denke ich und betrachte den gepackten Koffer. Am Flughafen kaufe ich noch schnell ein Ticket für die Businessclass. Ich bemühe

mich zügig in die Abflughalle zu kommen, bevor ich meine Entscheidung revidiere.

2

2002 Ich schließe meine Augen, während das Flugzeug sacht durch die Luft gleitet. London, ich war noch nie in London. Irgendwie versuche ich es, mir vorzustellen. Seltsamerweise fallen mir bordeauxrote Samtvorhänge dazu ein. Eine feine weiße Voilegardine, die sich vorwitzig zwischen die beiden Schals drängt. Ein Zimmer getaucht in mattes rotes Licht, erfüllt von der schweren ungleichmäßigen Atmung eines Mannes. Unruhig wälzt er sich im Bett. An der Wand hängt ein Kalender von 1968 mit marokkanischem Motiv. Es ist das

Monatsblatt von Juni. Der Tageszeiger umrahmt den 23ten. Leise öffnet sich die Tür. Barfuß betritt eine Gestalt in einem weißen wehenden Kleid den Raum. Fast schwebt sie zum Bett. Sanft streicht sie über den Kopf des Mannes. Das lange blonde Haar fällt ihr ins Gesicht. Er scheint sich zu beruhigen, sie summt ein Lied. Es ist ein Kinderschlaflied. Ich kenne den Text, die Melodie, ich habe es schon gesungen:

Kindelein zart, von guter Art, schließe die Äuglein, schlafe! draußen im Hain, lieb‘ Kindelein, ziehen die frommen

Schafe! Schlafe und tu die Äuglein zu, schlafe, mein Herzchen, schlafe!

Sie singt ein Schlaflied für Ryan Smith? Sorgsam erhebt sich die Gestalt, streicht ihr Haar über die Schulter und scheint wieder schwebend den Raum zu verlassen. Ich fürchte, mir bleibt das Herz stehen! Ich sehe mich selbst, ich kann nicht fort schauen. Sie läuft die Treppe hinunter. Unten steht eine ältere Frau mit einer Zigarette im Mundwinkel. Mrs. Omney! Ich zucke zusammen!

„Es ist alles in Ordnung. Es ist nur eine leichte Turbulenz.“ Die Stewardess

lächelt mir aufmunternd zu und streicht mir sanft über den Arm, als wollte sie mich beruhigen. „Ich muss eingeschlafen sein, wie lange ist es noch bis zur Landung?“, frage ich irritiert. „Etwa zehn Minuten!“ Sie tätschelt noch einmal meinen Arm, dann geht sie weiter. Ich bin ein wenig verunsichert. Vielleicht ist das Ganze auch eine ziemlich doofe Idee von mir. Fest steht nur, dass meine Erinnerungen einige Lücken aufweisen. Wer weiß, eventuell hat dieser Mr. Miller recht und wir kennen uns doch. Im Augenblick ist mir nicht klar, ob ich froh über die Landung bin oder nicht.

Das Hotel beeindruckt mich. Das historische Ambiente, vermutlich georgianisch, des Gebäudes harmoniert ideal mit dem modernen Design der Ausstattung. Giorgio hat Stil, das steht fest. Ich verstehe, weshalb er so gern nach London reist. Selbst ich fühle mich sofort heimisch. „Guten Tag Mrs. Berger, wir haben Sie schon erwartet“, begrüßt mich der Empfangschef, „möchten Sie das Zimmer so, wie Mr. D`Angelo es vorbestellt hat?“ Er sieht über den Rand seiner Lesebrille, seine grauen Augen wirken sehr vertrauenerweckend. „Gerne Mr. Moon. Vielen Dank!“ Seinen Namen weiß ich

von dem Schild, das auf seiner Uniform prangt. Lächelnd nehme den Schlüssel entgegen. Sofort begebe ich mich, begleitet von einem Pagen, auf das Zimmer. Selbstverständlich bekommt er ein reichliches Trinkgeld. Wie zu Hause schleudere ich meine Pumps von den Füßen. Kaum bin ich allein lasse ich mich auf das pompöse Bett fallen und greife zum Telefon. Vollkommen ruhig wähle ich die Nummer, ich warte. „Sie haben den Anschluss von Paul Miller gewählt, bitte hinterlassen sie eine Nachricht und Ihre Nummer, ich werde umgehend zurückrufen“, meldet sich der Anrufbeantworter. „Mr. Miller hier spricht Daniela Berger, ich möchte mich

gerne mit Ihnen treffen. Bitte rufen Sie zurück, ich bin im Hotel Tea Garden in London, oder hinterlassen Sie eine Nachricht beim Portier. Danke.“

Meine Schwester überlies mir bereitwillig einige Fotos. Nun sitze ich bequem, auf dem geräumigen Hotelbett und betrachte die Bilder aufmerksam. Leider haben die meisten schon einen gehörigen Farbstich. Auf dem Einem liege ich schlafend, auf einer Decke am See, unter einem Baum. Jenny und David sitzen knutschend neben mir. Ich erinnere mich, dass es einen Wettbewerb im sogenannten Dauerknutschen gab. So weit ich es beurteilen kann, trage ich einen orangefarbenen Rock, natürlich

extra kurz sowie ein bauchfreies eng anliegendes Shirt. Sexyshirt, ja genauso nannte man die Dinger, diese Rippenshirts …

25.Juni 1968 .... »Rate, wer das ist?«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie ihm von hinten die Augen zuhielt. Er lachte nahm ihre Hand und zog sie vor sich hin. »Das die Omney dir die Tür geöffnet hat? Respekt! Für gewöhnlich lässt sie keine Fremden rein.« Er stellte seine Gitarre an die Seite des Gartenstuhls. »Was hast du da gespielt?« Sie sah ihn keck an. »Eigentlich habe ich mehr experimentiert als gespielt.« Sie schwieg

und dachte, ich wollte dich auch mal am Tag sehen. »Ich bleibe nicht lange«, flüsterte sie dann fast wie zur Entschuldigung. »Wenn du Lust hast«, führte Ryan das Gespräch fort, »kannst du heute Abend in den Club M kommen. Ich treffe mich da mit ein paar Freunden.« Sie sah ihn an und nickte kurz. »Ich fahre so gegen neun Uhr. Ich kann dich mitnehmen!« »Ich muss jetzt wieder gehen.« Sie wandte sich ab. Im gleichen Augenblick schlang er seine Arme um ihre nackte Taille und drehte sie zu sich hin. »Gehst du immer einfach so?« Er grinste sie an. Er stand auf. Sah ihr in die Augen, strich mit einer Hand über ihr Gesicht und küsste sie, wie ein

Verdurstender ein lang ersehntes Glas Wasser trinkt. Sie gab ihr eigenes Sehnen deutlich zu verstehen, drückte ihn dann aber von sich und flüsterte: »Ich muss jetzt gehen!« Daniela wandte sich um und ging. Er folgte ihr bis zur Tür. Als Ryan die Haustür für sie öffnete, betrat die Haushälterin das Haus. »Äh, Mrs. Omney, Sie kommen erst jetzt?« Er sah irritiert von der Einen zur Anderen. »Spionieren Sie mir hinterher Mr. Smith?! Das ist ja wohl die Höhe, das brauche ich mir nicht gefallen, zu lassen! Ich bin in der Gewerkschaft!« Erbost stapfte die Alte in die Küche, während sie sich eine Zigarette anzündete. Er winkte ab und

ging wieder in den Garten zurück.


2002 Ein schrilles Läuten lässt mich zusammenfahren. Unwillkürlich muss ich mich schütteln und ärgere mich gleichzeitig darüber, dass es in diesem Hotel kein vernünftiges Telefon gibt. Dieses schreckliche Gebimmel, ich greife zum Hörer. »Ja, Berger«, melde ich mich. »Hallo Mrs. Berger, Paul Miller hier, ich bin überrascht. So schnell rechnete ich nicht damit, etwas von Ihnen zu hören.« »Wenn Sie Zeit haben, Mr. Miller, können wir uns gerne treffen. Bitte

bestimmen Sie wann und wo«, entgegne ich frostiger als gewollt. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie gerne zu mir kommen, ich koche recht passabel. Meine Adresse kennen Sie ja. Sagen wir 18 Uhr?« »Mh, also gut. Dann bis später.« Dabei fällt mir auf, dass ich den Koffer noch nicht ausgepackt habe. Ich werde den Bügelservice in Anspruch nehmen müssen, wenn meine Sachen auch nur halbwegs glatt sein sollen. Kaum zu Ende gedacht klopft es an der Tür. Eine zierliche Frau mittleren Alters kommt auf meine Aufforderung herein. Sie bittet tatsächlich darum, meinen Koffer aus zu packen. Ich erfahre das dies hier zum Service gehört. Davon,

mache ich gerne gebrauch, natürlich gegen Trinkgeld. Das Taxi hält vor der genannten Adresse, einen Moment zögere ich. Ob ich den Fahrer wohl bitten soll zu warten? Ach Quatsch!, fährt es mir durch den Kopf. Ich steige aus. Die Haustür wird schneller geöffnet, als mir lieb ist. Jetzt, gibt es kein entrinnen mehr. »Komm herein, ich bin noch nicht ganz fertig.« Langsam betrete ich das Haus, es ist eines dieser heiß begehrten Stadthäuser, ich schaue mich um. Alles wirkt sehr ordentlich, so aufgeräumt, so dekoriert. »Kann ich Ihnen helfen«, biete ich an. »Ja, in der Tat, das wäre nett. Die Sauce erfordert meine

Aufmerksamkeit, vielleicht könntest du dich dem Salat widmen.« Ich stelle die Handtasche ab, wasche mir die Hände und kümmere mich um den Salat. »Weißt Du«, beginnt er, »ich habe schon so lange nicht mehr vegetarisch gekocht.« Er sieht flüchtig zu mir herüber, während er im Topf rührt. »Sie sind also Vegetarier?«, folgere ich, um ein wenig Small Talk zu machen. «Nein, ich nicht, aber Sie doch, oder hat sich das geändert?« »Ich sollte ehrlich zu Ihnen sein«, sage ich, indes ich mich an den Küchentisch lehne, »ich halte Sie für einen ganz gefährlichen Spanner?« Mr. Miller lacht. »So falsch ist das nicht! Mein Beruf erfordert das ab und

zu. Früher fotografierte ich noch regelmäßig. Natürlich nur Promis. Das gab wenigstens richtig Geld. Übrigens ist mir gerade aufgefallen, dass Sie meine Frage nicht beantwortet haben. Das hast du früher auch immer vermieden, wenn ich das Mal so sagen darf.« Ich lächle vor mich hin. Er sieht mich aufmerksam an. »Entschuldigung«, sagt er dann, »ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich so gewohnt freundschaftlich mit dir rede? Im Moment weiß ich nicht, wie ich mich richtig verhalten soll. Wir waren so eng befreundet und du hast dich fast überhaupt nicht verändert. Vor allem dieses unglaubliche Lächeln …

Das Lächeln der Engel.« »Schon gut«, gebe ich ihm zu verstehen und trage den Salat zum Esstisch. Es ist ein elegantes Esszimmer aus Mahagoni. Die Stühle sind mit hell grünem Damast bezogen, so wie eine Wand des Zimmers. Paul folgt mir mit dem restlichen Essen. Er füllt die Teller, gießt Wein ein und setzt sich. »Woher kam deine plötzliche Meinungsänderung?« Er sieht mich an und hält mir sein Glas entgegen. Ich hebe mein Glas, sehe ihn an und sage lapidar »Cheers!« »Ich gehe davon aus, dass du ein neugieriger Mensch bist, der nicht mit Ungewissheiten leben kann!« In seinem Blick liegt jetzt so etwas wie Triumph. Ich kaue, das verschafft mir

Zeit. »Das Essen ist wirklich ganz vorzüglich. Es kommen manchmal mehrere Faktoren zusammen. Ich habe zurzeit beruflich hier zutun.« Mehr will ich nicht von mir preisgeben und gelogen ist es auch nicht wirklich. Ein wenig bin ich nervös. Ich stochere im Essen herum, dabei schmeckt es exzellent. Ich bemerke, wie er mich mit forschendem Blick ansieht. »Ist das alles?«, fragt er dann. Ich sehe in das Weinglas. »Kennen wir uns so gut, dass ich mich hier ausziehe?« Er lacht. »Wir kennen uns besser als du es dir vorstellen kannst! Außerdem sind wir die Einzigen, die um eine bestimmte Sache wissen.« »Ah«, gebe ich

verächtlich von mir, »sind wir vielleicht die Hüter des Heiligen Grals?« »Nun, das nicht gerade!« Er lächelt verschmitzt.«Aber es ist schon eine kleine Sensation, über die ich gerne berichten möchte. Dazu benötige ich allerdings deine Einwilligung!« »Und worum handelt es sich dabei?« Wieder stochere ich im Essen herum. Er hält in seiner Bewegung inne und sieht mich an. »Es ist besser, wenn du selbst darauf kommst!« »Okay, okay! Lass mich ruhig blöde sterben!Doch deine Behauptung ist nicht lückenlos. Es stellt sich die Frage: wie bitte soll ich nach London gekommen sein? Ich besaß damals kein Auto, hätte mir keins leihen können, von

einem Flugticket wollen wir gar nicht erst reden. Ich komme aus einer Kleinstadt in der Nähe von Hamburg und habe bis 1976 das europäische Festland nie verlassen. Nachweislich!!« Ich reagiere heftiger als es mir lieb ist. Paul reicht über den Tisch und greift nach meiner Hand. »Hast du mal darüber nachgedacht, woher du diesen Ring hast?« Ich sehe auf den goldenen Ring an meiner Hand. Ich bin irritiert, mein Mund steht leicht offen. Ich weiß keine Antwort. »Tja, ich war dabei, als Ryan ihn dir gegeben hat. Und dass er vorher ihm gehörte, kann ich dir beweisen. Es gibt Fotos, auf denen er den Ring trägt. Es handelt sich bei diesem Ring auch

nicht um eine Massenproduktion. Es ist ein Erbstück!« Paul scheint fast zu triumphieren. Ein Unwohlsein überkommt mich, ich streiche meine langen blonden Haare nach hinten. Das mache ich oft, wenn ich nachdenke. Ich bin nicht unbedingt ein Schmuckexperte, doch mir ist sehr wohl bewusst, dass dieser Ring gute zweihundert Jahre alt ist. Er ist aus Waliser Rotgold gefertigt und mit einem achteckigen Rubin besetzt, der an den Seiten von zwei Blüten gehalten wird. Es ist ein ausnehmend schönes Stück, um das ich oft beneidet wurde. »Aber wie bitte soll ich hierher gekommen sein? Erkläre mir das! Eventuell glaube ich es dann« »Tut

mir leid, Dany das kann ich im Augenblick auch nicht. Ich erinnere mich nur, dass es da immer so ein paar Ungereimtheiten gab, die uns alle erstaunten und Ryan manchmal auf die Palme brachten.« »Ach, jetzt wird es aber spannend.« Ich lauere etwas gelangweilt auf das, was kommen könnte. »Als ich dich das erste Mal traf, wir waren damals im Club M, spielte diese Band …«, grübelnd zieht er die Stirn in Falten, »… leider ist mir jetzt der Name entfallen. Plötzlich warst du da. Allerdings auf der Bühne. Wir dachten, die hätten neuerdings zusätzlich eine Sängerin, der Leadsänger tat einfach so, als würdest du

dazugehören. Ryan holte dich, nach dem ersten Song von der Bühne. Du sagtest ganz gelassen, »Oh, da habe ich wohl den falschen Eingang erwischt«.’ Michael stellte sofort fest, dass der Club nur einen einzigen Eingang hat. Deshalb ist der Club auch Anfang der Siebziger geschlossen worden.« »Quatsch«, antworte ich lachend, »das kann ich mir nicht vorstellen. So peinlich bin ich nicht.« Er nimmt einen Schluck aus seinem Glas. »Das ist die Wahrheit! Ich weiß noch, was du anhattest. Ein weißes Kleid, mit einer Borte«, er streicht mit den Fingern über sein Hemd, »in der der Union Jack eingewebt war. Außerdem gab es damals nichts, was peinlich sein

konnte!« »Ich hatte so ein Kleid.- Es ist spät, ich sollte gehen.« Ich stehe auf. In mir regt sich das Bedürfnis diesen Ort zu verlassen. Es ist etwas in mir, dass gewaltig wehtut. Motorenöl! Urplötzlich muss ich an Motorenöl denken. Das ist verrückt! Schon stehe ich an der Tür, Paul neben mir. »Diesen Satz ’Ich muss gehen’ haben wir so oft von dir gehört. Wir wussten allerdings nie, wohin du gegangen bist. Denk mal darüber nach und melde dich bitte wieder.« Wir geben uns die Hand, sehen uns an, dann trennen wir uns. Ich möchte laufen, als ob ich vor mir selbst flüchten müsste. Mir ist nicht klar, was mich treibt. So laufe ich durch

diese laute pulsierende Stadt. Vorüber an erleuchteten Laternen, an flackernden Neonlichtern. Frauen und Männer gehen an mir vorbei, Mädchen mit viel zu kurzen Röcken kreuzen meinen Weg. Es dauert eine Weile, bis ich mich um ein freies Taxi bemühe. Ein leichter Nieselregen hat eingesetzt, gut das ich im trockenen sitze. Unvermittelt stoppt der Fahrer. »Madam«, erklärt der Fahrer, der einen unverkennbar indischen Akzent hat, »da vorne ist ein Unfall. Ich kann nicht weiterfahren. Wenn Sie möchten, können Sie aussteigen und ein anderes Taxi nehmen.« »Nein, nein, ich habe es nicht so eilig, ich bleibe hier!« Ich schaue aus dem Fenster. Neben uns

kommt ein weiteres Fahrzeug zum Stehen. Der Fahrer schlägt mit beiden Händen auf das Lenkrad. Wohl nicht sein Tag heute. Die Ampeln wechseln die Farbe, es spiegelt sich auf dem nassen Asphalt. Die Töne vermischen sich auf skurrile Weise mit dem Blaulicht. Sie laufen ineinander und springen wieder davon. Ich kann nicht wegsehen, fast haben sie eine hypnotische Wirkung.


 28.Juni 1968 »Hey, was …, nein wo kommst du her? Ich fürchtete schon, es ist ein Überfall. Schnell steig ein!« Die Lichter wechseln auf Gelb, auf Grün. Ryan wirkte sichtlich

amüsiert. Sie beugte sich zu ihm hinüber, küsste ihn auf die Wange, wirft einen kurzen Blick auf den Rücksitz. »Mit dir habe ich überhaupt nicht gerechnet. Was führt dich in diese Gegend?« Sie hebt die Hand, weißt mit dem Daumen auf die Rückbank. »Oh, du hast, dass neue Time Life Magazin?« »Ja, ich lese es gern. Außerdem ist ein Artikel über New Rock drin. Bin gespannt, wann ich zu lesen komme. Dabei fällt mir ein, dass ich auch für dich keine Zeit habe. Die Jungs rechnen mit mir und es wird mit den Proben wohl etwas länger dauern«, erklärte er nebenbei. »Kein Problem, ich werde schneller wieder verschwunden sein, als

du glaubst.« »Schön das Du da bist!« Ryan nahm ihre Hand und setzte einen Kuss auf die Fingerspitzen. Aus dem Radio tönte der Song »What a wonderful World«, von Louis Armstrong. Strahlend lächelnd saß sie neben ihm.Glückliches Schweigen. Sie fuhren die Straße stadtauswärts entlang. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Die Scheibenwischer huschten lautlos von einer Seite zur Anderen. Sie sah ihn an. Sorglose Ruhe. »Es tut mir leid. Es war nicht klug von mir, dich mitzunehmen«, begann er, »wie kommst, du jetzt zurück.? Da fährt nichts, kein Bus, kein Taxi und zu Fuß würde ich nicht einmal einen Hund da

lang hetzen. Es sei denn, du nimmst meinen Wagen, ich fahre dann mit Richard oder so zurück.« »Mach dir keine Gedanken! Es ist nett von dir, doch ich bin schneller fort, als dir lieb ist.« Er fuhr auf den Parkplatz und brachte den Bentley zum Stehen. »Gut, wir sehen mal, wer alles da ist. Vielleicht ist ja Anne oder Alice da, die könnten dich auch mitnehmen.« Er stieg aus, ging auf das klotzige Gebäude zu, in dem die Probenräume und die Studios lagen, Daniela folgte ihm. »Du machst dir viel zu viel Gedanken, Ryan«, wiederholte sie. Er hielt sie an der Hand, er hörte ihr nicht zu. »Hey, Paul gut das Ich dich sehe, wenn

du in die City fährst, könntest du Daniela dann mitnehmen?«, fragte er, den Freund der soeben das Haus verlassen wollte. »Klar, gerne. Hallo Dany, du kannst hier vor der Tür warten, ich komme mit dem Auto hierher, sonst wirst du so nass«, sagte Paul sofort und lief über den Parkplatz. Sie schwieg. Ryan gab ihr einen flüchtigen Kuss und wandte sich zum Gehen. »Viel Spaß noch heute Abend«, rief sie ihm hinterher …


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