Forumbattle 42
Thema: Auf den Hund gekommen
Wortvorgabe:
Hundstage
Luxation
veredeln
Azubi
Knochen
kalibrieren
Nachrichten
Sadomaso
nacktes Fleisch
Boutique
wedeln
kollaborieren
Endstation: Platte
Benno Gutwill war ein sehr aufgewecktes und intelligentes Kind. Das schienen auch die Lehrer der Hauptschule, welche Benno besuchte, erkannt zu haben. Aber sein Klassenlehrer schien noch mehr erkannt zu haben, denn unter seinen Zeugnissen war (sinngemäß) immer die gleiche Bemerkung: Bei etwas mehr Fleiß könnten die Noten wesentlich besser sein.
Sein Vater, der von Beruf Automechaniker war und diesbezüglich eher bescheiden, stellte keine allzu hohen Erwartungen an seinen Filius – fairerweise, im Rückblick auf seine eigenen Noten, die er früher mit nach Hause brachte. Jedoch diese Bemerkungen
nervten ihn und er stellte seinen Sohn zur Rede: „Hör mal Benno, ich meine, die Noten sind ja nicht soooo schlecht, aber sie könnten besser sein, wenn ich deinen Lehrer richtig verstanden habe ..."
„Ach weißt Du, Papa … “, weiter kam er nicht, denn sein Vater unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung und fuhr weiter fort: „Anstatt dich auf dem Bolzplatz herumzutreiben und du nicht selten mit einer Luxation nach Hause kommst - um dann wieder einige Tage in der Schule zu fehlen - oder anstatt die meiste Zeit mit irgendwelchen Ballerspielen am Computer zu verbringen, wäre es da nicht besser, wenn du dich etwas mehr um deine schulischen Sachen kümmern würdest?“
Den Begriff "Luxation" hatte Benno noch nie gehört und er fragte seinen Vater: „Was ist Luxation, Papa?" Sein Vater schmunzelte: „Ich dachte, du würdest das aus dem Zusammenhang heraus erkennen. Wenn du dir also die Knochen verrenkt hast, dann könnte sich die Diagnose der Ärzte so anhören. Wenn es ganz schlimm kommt, dann müssen die Knochen wieder zusammengeflickt werden und das nennen sie dann: Re-positionieren oder man könnte es auch kalibrieren nenen – wenn wir schon einmal beim Fachchinesisch der Medizinmänner sind. Aber genug davon und versuche nicht vom Thema abzulenken. Was ist denn nun mit der Schule?“
(Als sein Vater die Ärzte und Medizinmänner
erwähnte, wurde Benno ganz nachdenklich, denn Arzt zu werden, das wäre der Traumberuf, den er sich wünschte, aber daran war gar nicht zu denken.)
Etwas mürrisch und aufmüpfig setzte Benno seinen zuvor begonnenen Satz fort: „Ach weißt Du Papa, die Schule ist so etwas von langweilig und voll doof! Vor allem wiederholen die Lehrer alles 10mal, weil so viele Ausländer in der Klasse sind, die scheinbar überhaupt nichts kapieren und ich habe nicht das Gefühl, dass ich überhaupt etwas Neues lerne. Ich habe keinen Bock mehr auf die Schule.“
Nachdenklich und sehr interessiert vertiefte
sein Vater die Äußerung seines Sohnes und er kam zu der Überzeugung, dass er sich vollkommen unterfordert fühlen musste und möglicherweise aus dem Grund, noch nicht einmal den Abschluss schaffen würde. Daher fragte er ihn: „Nehmen wir mal an, wir würden dich von der Hauptschule nehmen und dich auf ein Gymnasium schicken, würdest du dir das zutrauen?“
Benno war sofort Feuer und Flammen, denn plötzlich schien sein Traum, Arzt zu werden, nicht mehr unmöglich, wenn er nach dem Abi, Medizin studieren würde.
Davon erwähnte er seinem Vater gegenüber aber vorerst noch nichts, sondern versprach ihm, dass er gerne alles dafür tun würde, um gute Note zu erhalten – denn soviel wusste er
schon, dass es einen Numerus clausus gab und der sollte ihm für sein späteres (Medizin) Studium, keinen Strich durch die Rechnung machen.
Im Geiste sah er sich schon als Student und nicht als gewöhnlichen und ordinären Azubi - das wäre nämlich die Folge gewesen, wenn er weiter auf der Hauptschule geblieben wäre - und er träumte noch weiter: Er sah sich schon als Arzt und würde seinen Beruf mit einem Doktortitel veredeln.
„He, Benno, träumst Du, ist alles in Ordnung mit dir?, erkundigte sich sein Vater leicht besorgt, als er die geistige Abwesenheit seines Sohnes bemerkte und der scheinbar nicht mitbekommen hatte, wie er sich den Wechsel zum Gymnasium vorstellte.
Der Wechsel von der Hauptschule zum Gymnasium war kein großes Problem und Benno legte sich auch wirklich ins Zeug, wie versprochen. Immer mit dem Ziel vor Augen: Danach das Medizinstudium.
Sein Abi - Abschluss war zwar nicht die Bestnote, aber er befand sich noch so eben innerhalb der geforderten Mindestdurchschnittsnote von 1,3. Aber bei der jährlichen Bewerbung von ca. 45.000 junger Menschen, die Human – oder Zahnmedizin studieren wollten, direkt einen Studienplatz zu bekommen, ist fast so unwahrscheinlich, wie ein Sechser im Lotto. Aber eben nicht unmöglich, denn Benno hatte das Glück, zu den 1/5 zu gehören, die sofort mit dem Studium beginnen konnten.
Als er die Nachricht bekam, hätte er fast jemanden gebraucht, der das ist, was er einmal werden möchte.
Seine Eltern freute sich selbstverständlich auch mit ihm und sie waren stolz auf ihn. Sein Vater hatte zwar etwas mit Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen, wenn er daran dachte, dass er „NUR“ Automechaniker war. Aber das auch nur ganz kurz, denn er liebte seinen Beruf und das war seiner Meinung nach das Ausschlaggebende. Dann sah er es pragmatisch: Sollte sein Sohn einmal Arzt sein, dann brauchte er keine private Krankenversicherung mehr. Er würde die TÜV - Abnahme am Auto von Dr. Gutwill vornehmen und der dann bei ihm.
Benno hatte sich in der Uni – Köln eingeschrieben. Das war 175 km von seinem Heimatort entfernt. Anfangs fuhr er noch jedes Wochenende nach Hause, aber nicht nur, um seine Eltern zu sehen, sondern beim Abi – Abschlussball hatte er sich in Sybille verliebt. Aber scheinbar war es nur ein Strohfeuer, denn nach dem zweiten Semester, forderte die Entfernung ihren Tribut, denn seine Freundin studierte an der MBS ( Munich Business School) in München.
Mit viel Elan und gutem Willen stürzte sich Benno auf sein Studium, machte ein Scheinchen nach dem Anderen und büffelte was das Zeug hielt.
Zu seinem Vater sagte er einmal, als der sich nach dem Vorwärtskommen erkundigte: „Ach
weißt Du, es ist wirklich nur Büffeln und Auswendiglernen, wenn ich den Schein habe, dann ist alles wieder vergessen.“
Nach Begeisterung klang das nicht gerade und in der Tat: Es waren die Ausläufer von aufkommendem Frust, denn das Studium hatte Benno sich etwas anders vorgestellt, als nur Theorie.
Ab dem 3ten Semester und mit dem Einzug in eine WG hielt sich der anfängliche Ehrgeiz und die Begeisterung nur noch in Grenzen. Benno und einige WG.-Mitbewohner fanden, dass nur Studieren nicht alles sein konnte. Wozu gab es denn die Studentenkneipen, Varietés und diverse Etablissements?
Shopping, womöglich noch in teuren Boutiquen, wo die Verkäufer/innen Einem,
schon beim Betreten, mit einem billigen Fummel vor der Nase herum wedeln, welcher dann teuer bezahlt werden sollte, das war nicht ihr Ding.
Einmal war Benno mit seinen Kumpels in einer Sadomaso - Show, es war aber nicht das viele nackte Fleisch, was ihn angewidert hatte, sondern er konnten den Genuss an der Quälerei nicht nachvollziehen und außerdem überstieg der Eintritt bei weitem das spärliche Budget des Bafög – ohne den Zuschuss seines großzügigen Vaters, wäre Benno ohnehin nicht über die Runden gekommen.
Ab dem 4ten Semester wurde es aber richtig ernst, denn da stand das Physikum an. Die erste und zugleich wichtigste ärztliche
Prüfung. Wer das nicht bestand, wurde vom weiteren Studium ausgeschlossen und daran scheitern die meisten Medizinstudenten. Soviel Glück wie Benno mit der Vergabe des Studienplatzes hatte, soviel Pech hatte er bei der Prüfung und es war fast abzusehen; er hat nicht bestanden und hat das Studium geschmisse.
Die Schmach war groß und vor allem, was würden seine Eltern dazu sagen?, die doch so stolz auf ihn waren.
Doch sein Vater nahm es bemerkenswert gelassen und meinte leicht sarkastisch: „Es tut mir ja leid für dich, mein Sohn, es war vielleicht eine Nummer zu groß für dich, aber was ich dir bieten kann, ist eine Lehre zum Automechaniker in unserer Werkstatt.“
Benno wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte, denn im Moment war ihm eher zum Heulen zumute. „Danke, Papa ich werd’s mir überlegen. Die Hundstage auf der Uni muss ich zuerst einmal verdauen.“
Nach einigen Tagen hatte Benno verdaut und sich mit seinem Schicksal abgefunden. Wahrscheinlich sollte es so sein, beruhigte er sich selbst und er trat die Lehre in der Autowerkstatt an.
Wenn er sich nun gedacht hatte, eine Sonderbehandlung zu bekommen, nur weil sein Vater ebenfalls dort arbeitete, dann hatte er sich aber gewaltig geirrt. Der Meister, der für die Ausbildung verantwortlich war, konnte ein ausgesprochen liebenswürdiger Mann
sein, aber nur den Kunden gegenüber. Zu seinen Gesellen war er kollegial, hart aber fair, doch mit Lehrlingen zu kollaborieren, das kam für ihn nicht in Frage. Sie hatten seinen Anweisungen zu folgen und zwar ohne Wenn und Aber, denn ´Lehrjahre sind nun mal keine Herrenjahre' und daran wollte er nichts ändern.
In dem Betrieb gab es drei Auszubildende und einer von den Dreien, sollte später übernommen werden – und das konnte logischerweise nur der Beste sein!
Benno konnte vom ersten Tag an sagen, wenn er ehrlich war, dass ihm das Ganze überhaupt nicht behagte oder zusagte.
Auf der Uni hatte er bemängelt, dass alles nur graue Theorie sei und in der Werkstatt war es
genau das Gegenteil – nur Praxis und für die Auszubildenden, wie üblich, zunächst einmal nur die Drecksarbeit, die sonst keiner tun wollte.
Er gab sich alle Mühe, seinem Vater gegenüber nichts anmerken zu lassen, aber mit jedem Tag, den er länger blieb, steigerte sich das Brodeln im Innern und er wusste bald keinen Ausweg mehr. Mit seinem Vater ein offenes Wort darüber zu sprechen, das traute er sich nicht. Irgendwie wollte er ihm eine weitere Enttäuschung ersparen und er kam sich so vor, als ob er die rettende Hand, die er ihm entgegengestreckt hat, zur Seite geschlagen hätte. Aber was sollte er bloß tun? Er war gerade einmal 22 Jahre alt und hat bisher noch nichts richtig auf die Reihe
gebracht, – einmal abgesehen von dem Abitur -, aber das alleine war nichts wert.
Eines morgens wollte die Mutter ihn wecken, denn er wohnte wieder zu Hause, aber das Bett war leer und kein Benno aufzufinden. Sein Vater hatte die Hoffnung, dass er schon früher aufgestanden sein könnte, weil an diesem Tag Berufsschule war und diese war nicht am gleichen Ort.
Als Benno auch gegen Abend nicht erschien, war die Ratlosigkeit seiner Eltern perfekt und für einen Anruf bei der Polizei war die Zeitspanne zu kurz; sie würden nichts unternehmen.
Nach schlaflosen Nächten gab Herr Gutwill am übernächsten Tag eine Vermisstenanzeige auf. Er konnte der Polizei
aber überhaupt keine Anhaltspunkte geben, außer dass er sich evtl. in Köln aufhalten könnte, dort habe er studiert...
Es fand eine erweiterte Suche im Kölner Raum statt. Am Hauptbahnhof und an den Kölner Märkten wurden Bilder von Benno aufgehängt.
Nach ca. 14 Tagen hielt Benno es nicht mehr aus, denn er hatte selbst seine eigenen Bilder gesehen, die sich genau dort befanden, wo er sich zumeist aufhielt und was sein neues zu Hause geworden war.
Er hatte sich den Obdachlosen angeschlossen und lebte seit dem auf der Platte. Als der Druck immer größer wurde und das Drängeln seiner neuen Freunde ebenfalls - er soll sich bei der Polizei melden – da tat er
das, aber mit der Bitte, seine Eltern nur darüber zu informieren, dass er gefunden wurde, dass es ihm gut geht und, dass er sein eigenes und wahres Leben gefunden habe - ja, das konnte er, aus seiner Sicht, ohne Übertreibung sagen, denn im Vergleich zu all den Problemen die er vorher hatte, waren die, in seiner derzeitigen Situation, verschwindend gering.
Würde seine Mutter erfahren, dass er mit den Pennern zusammen lebt, das würde sie nicht überleben. Ob sich die Polizei an die Bitte gehalten hat oder ob sie Frau Gutwill umgebracht haben, darüber wurde nichts bekannt.