Titel
Was für eine scheiß Angst hatte ich vor ihm gehabt. Nicht nur vor ihm...
Sein Auftreten flößte uns schon angst ein. Zwar war er kein Hüne, aber er trat so auf. Allein sein Blick ließ uns schon erschaudern. Freiwillig ihm unser Milchgeld überlassen. Ich hatte nichts. Hatte nie irgendetwas. Nicht einmal Pausenbrot. Dadurch erhielt ich die Prügel. Die anderen waren froh darüber. Aber Mitleid erhielt ich keines.
Nach der Schule war es nicht besser. Ganz egal, wie viel Mühe ich mir gab, meine ältere Schwester fand immer einen Grund mich zu schlagen. Oft fing
sie schon zu schimpfen an, während ich noch dabei war, die Wohnung zu betreten. Uns als ob das nicht genug wäre, schlug mich mein Vater auch noch. Er gab sich nicht die Mühe, mich zu fragen, wie es wirklich war. Sie tischte ihm irgendwelche Lügen auf und er glaubte ihr. An allem war ich schuld, obwohl sie...
Manchmal büchste ich aus diesem Höllenloch aus und lief dann zu meinem Lieblingsplatz. Der Klang des leise dahinfließenden Wassers, schenkte mir ein kleines Stück Frieden. In dieser Einöde fühlte ich mich wohl und geborgen. Ich sah den Schmetterlingen nach, die Nektar aus den Blüten saugten.
Wünschte mir, auch ein Schmetterling zu sein. Frei durch die Welt fliegen zu können.
Eines Tages lief ich am Haus unseres Schulraudis vorbei. Er wohnte im Erdgeschoss und die Fenster waren offen gewesen. Daher konnte ich ihn sehr gut hören. Was ich da hörte, gefiel mir ganz und gar nicht. Und obwohl ich nichts sehen konnte, was da drin passierte, sah ich es in meinem Kopf. Sah den Gürtel, der auf nackte Haut schlug. Immer und immer wieder.
Ich rannte davon. Rannte so schnell, wie ich konnte. Denn ich befürchtete, das ich der Nächste sein würde, den der Gürtel traf. Wie grausam können Eltern
nur sein?
Bis tief in die Nacht blieb ich an meinem Lieblingsplatz. Mir war es egal, das ich dafür Schläge bekommen würde. Die bekam ich so und auch so. Ganz egal, was ich tat oder sagte. Sie fanden immer einen Grund, mich zu schlagen. Ihre Wut an mir auszulassen. Viele wussten davon. Aber niemand unternahm etwas dagegen. Mein Selbstbewusstsein und mein Lebensmut waren gleich null. Ich sah keinen Grund in meinem Dasein. Wollte nicht mehr der Prügelknabe sein. Warum sollte ich für irgendwas büßen, wofür ich nichts konnte?
Wie es der Zufall wollte, traf ich den Schulraudi auf dem Rückweg. Ich stellte
mich ihm entgegen, sah ihm fest ins Gesicht und sagte:
„Fang schon an und bring es hinter dir. Aber beeil dich. Meine Schwester und mein Vater warten schon seit Stunden mich zu schlagen.“
Mit offenem Mund sah er mich an. Schien darüber nachzudenken, was ihm ihm eben an den Kopf geknallt hatte. In dem Moment hatte ich wirklich gehofft, das er mich blutig schlägt. Es wäre eine gute ausrede gewesen, warum ich so spät nach Hause kam. Wobei es meinem Vater egal gewesen wäre, wenn ich schon geblutet hätte. Er hätte noch ein paar mal zugehauen.
Anstatt mich zu schlagen, fing er an zu
weinen. Er bekam einen richtigen Heulkrampf. Behutsam nahm ich ihn in meine Arme. Ich konnte das Blut riechen, das vor kurzem noch aus ihm geflossen war. Die Wunden waren alle noch ganz frisch. Wie oft wurde er geschlagen? Und warum? Zumindest verstand ich, warum er war, wie er war. Zu Hause war er der Prügelknabe, wie ich. In der Schule ließ er seine Aggressionen und seinen angestauten Hass gegen seine Eltern, an uns unschuldigen Schülern ab. Denn gegen uns konnte er sich wehren.
Als er sich beruhigt hatte, zeigte ich ihm meinen Lieblingsplatz. - Ein kleines Stückchen unberührte Natur. - Wir
unterhielten uns, bis die Sonne aufging. Dies war der Beginn einer unbeschreiblichen Freundschaft. Wir stützten uns gemeinsam. Gaben uns gegenseitig Halt. Wenn er nicht wäre, hätte ich mich schon vor Jahren umgebracht. Und wenn ich nicht gewesen wäre, dann...
Gerne hätte ich diese Geschichte mit einem Happyend beendet. Aber leider haben wir beide die falschen Frauen geheiratet. Anfangs war alles schön. Kurz nach der Doppelhochzeit...